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In der Nacht

Beitritt
10.12.2002
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In der Nacht

Das Buch lag direkt neben der Leiche. Elora griff nach dem kleinen Ledereinband und wischte Schlamm und Blut mit dem Ärmel ab. Die Koralleninseln. Ein Reisebericht. Das Meer war weit weg, doch sie schloss die Augen und sah grüne Inseln in azurblauem Wasser schlafen. Was waren Korallen? Sie stopfte das Buch in ihren Beutel und wollte sich schon abwenden, da glitzerte noch etwas im Morast. Ein kleiner Kristall an einem Lederbändchen. Neugierig rieb sie ihn sauber. Schön, aber wohl wertlos. Also wird ihn mir auch niemand wegnehmen. Mit einem Lächeln hängte sie sich das Zierstück um den Hals und verbarg es unter ihrem Hemd.
„Haste wieder was gefunden für dich, eh?“ Ezra grinste sie spöttisch an.
Elora nickte nur und watete durch das flache Wasser zu Naslan und ein paar anderen Männern, mit denen sie besser auskam als mit dem aggressiven Beinahe-Greis. Ezra hatte den Reisenden vorhin mit einem einzigen Pfeil getötet und nervte jetzt alle damit, was sie nur ohne ihn machen würden. Elora hasste den primitiven Dickschädel, dessen Samen immer einen bitteren Nachgeschmack hinterließ.
Sie war jetzt seit fast einem Jahr bei Chreb und seinen Leuten. Die zwanzig Männer und fünf Frauen lebten vom Handel, der den Tessâdon herauf und herunter kam – freilich ohne selber Händler zu sein. Der Fluss verband das große Elfenreich Thel im Süden mit den Ländern der Menschen. Hier jedoch verlor sich der breite Strom in einer ausgedehnten Sumpflandschaft. Eine gefährliche Gegend.
Ihr Hinterhalt war perfekt gewesen, trotzdem wäre der einsame Reisende beinahe entkommen. Kaum waren die Männer planschend vorgestürmt, hatte das Licht hier zwischen den Mangroven ihnen allen einen Streich gespielt. Ihr Opfer verschwand auf einmal, verschmolz mit dem dichten, grünen Unterholz, und tauchte samt Kanu zwanzig Meter weiter außerhalb ihres Kreises wieder auf. Sie hatte so etwas noch nie erlebt.
Elora und die übrigen Frauen waren nur für den Fall dabei, dass es „Frauenarbeit“ gab: Milla zum Beispiel reinigte gerade für Ezra die Stiefel des Toten in einem Wasserloch. Manchmal blieb die Gruppe auch mehrere Tage unterwegs, dann wurden die Frauen abends gebraucht.
Sie lagen noch stundenlang auf der Lauer. Millionen Mücken tanzten in der schwülen Luft und stachen in jedes dargebotene Fleckchen Haut. Von ihrem Versteck aus beobachtete Elora, wie einige kleine Vögel an der Leiche herumpickten. Ein Alligator tauchte auf, packte den Körper mit seinem Maul und zog ihn ins Wasser. Flamingos landeten in einiger Entfernung und durchkämmten mit ihren krummen Schnäbeln die warme Brühe nach Fischen und Algen. Die Tiere schienen die Anwesenheit der Menschen aber zu spüren und flogen bald wieder fort.
Elora hätte gerne ihr neues Buch hervorgeholt, fürchtete aber den Hohn der anderen. Sie sehnte sich nach ihren übrigen Schätzen, die gut versteckt im Lager zurückgeblieben waren. Niemand sonst hier konnte lesen, und allein dies war für die Männer offenbar Grund genug, sie zu verspotten. Schon ihre Art zu sprechen reichte, um beißende Bemerkungen auszulösen. Es waren halt Bauern – zumindest früher gewesen.
Auch den anderen Frauen blieb Elora fremd: Milla zum Beispiel war erst vierzehn, noch zwei Jahre jünger als Elora selbst. Grin hatte das Mädchen letzte Nacht zu sich geholt, Elora hatte sie heulen hören, und jetzt lief Milla mit geplatzter Lippe und verquollenen Augen herum. Trotzdem lachte die dumme Göre schon wieder genauso selbstzufrieden wie immer und lästerte mit Ezra über Eloras „Tick“. Ein geringer Verstand konnte manchmal sehr hilfreich sein.
An diesem Tag kam niemand mehr den Fluss herunter und Chrebs Laune verschlechterte sich immer mehr. Schließlich holten sie die Kanus und kehrten in ihr Lager zurück, einer kleinen Insel gut versteckt im Grasmeer.
Sie war selbst schuld, hatte es sich so ausgesucht. Einmal hatte sich ein Bauer in sie verliebt. Er war zwanzig Jahre älter gewesen, aber das war nicht das Problem. Ich kann nicht wieder auf einem Feld arbeiten, hatte Elora versucht zu erklären, nicht nach all den Jahren auf dem Hof der Asrina.Damals warst du Sklavin, dies hier könnte dein Land sein. Das Land eines Grundherrn. Nein, er sei frei, höre auf keinen Grundherrn. Es änderte nichts, einige Tage hatte sie es versucht, dann war sie fortgegangen. Sie war sich ganz dumm vorgekommen, dumm und faul, als könne sie nicht wie jede andere ihr Leben durch ehrliches Tagwerk verdienen. Als ob sie zu fein für Schweiß wäre, wie jene hübschen Fräulein in ihren Schlössern.

Elora hatte zunächst keine Zeit zu lesen, da sie mit den anderen Frauen das Essen bereiten musste. Die Aufgaben waren einfach verteilt: Die Männer übernahmen das Töten, die Frauen den Rest. Den gesamten Rest. Dafür durften sie, nun ja, mitessen, weshalb sie von den Männern häufig als „Mitesser“ verhöhnt wurden.
Sie war ziellos durchs Land geirrt, bis sie Chrebs Leuten vor die Schwerter gelaufen war. Die Bande hatte mit Elora erst das gemacht, was die Männer für ein „wildes Fest“ hielten, und ihr dann angeboten, bei ihnen zu bleiben. Sie hatte akzeptiert. Die braven Bürger ihrer letzten Stadt hatten sie wegen Diebstahls und Hurerei verurteilt, und wer Seerose und Kettenglied in die Haut gebrannt trug, hatte nicht mehr viele Alternativen.
Nach dem Essen setzte Elora sich etwas abseits auf einen Baumstumpf. Voll Vorfreude zog sie ihren Fund hervor – und gefror mitten in der Bewegung. Anstatt des sorgfältig ins Leder gepunzten Titels leuchteten die Buchstaben aus eigener Kraft in einem bläulichen Licht. Panisch sprang sie auf und schleuderte das Buch fort. Es landete geschlossen auf dem Waldboden. „Band I. Hinführungen“ leuchteten die Schrift nebulös. Ein Magierbuch. Es konnte nichts anderes sein. Hoffentlich sah sie niemand damit, sie sollte es sofort in den Sumpf werfen. Aber sie stand nur still da, starrte gebannt in die Vergangenheit.

Sie hatte Blut gehustet, war nur noch ein Gerippe gewesen. Als man sie endlich aus dem dunklen Loch wieder herausließ, dachten alle, sie würde sterben – auch sie selbst. Der Sklavenaufseher hatte bei ihr Mirasals dünnes Lesebüchlein gefunden. Die kleine Tochter der Asrina Familie, denen Elora gehörte, sollte damit lesen lernen, doch nicht sie. Elora musste immer in der Ecke sitzen, Gesicht zur Wand, um dem Unterricht nicht folgen zu können. Irgendwann, als niemand hinsah, war das Buch vom Tisch verschwunden. Und dafür war sie später in das Kellerloch gesperrt worden. Wochenlang. Damals war sie neun gewesen, drei Jahre vor ihrem ersten Fluchtversuch.

Ich sollte es wegwerfen.
Für ihre Beteiligung an den Morden drohte ihr der Galgen, aber der barg weniger Schrecken als selbst der Kerker. Für Magie dagegen wurde man verbrannt, mindestens, manchmal auch gesteinigt. Oder man wurde lebendig begraben. Einen Moment schloss sie die Augen. Man könnte sie verbrennen, ohne dass ein einziger Laut über ihre Lippen käme. Nur niemals, niemals wieder durfte sie in ein so enges, dunkles Loch gesperrt werden. Niemals. Doch auch jetzt schon drohte ihr der Kerker, wenn man sie erneut als Hure und Diebin verurteilte und nur die Männer für die Morde erhängte. Selbst hier unter freiem Himmel ließ Elora allein der Gedanke an den Kerker schwindeln. Lebendig begraben würde sie erst den Verstand verlieren und dann bald ersticken. Im Kerker verlöre sie den Verstand ganz langsam, um dann noch eine Ewigkeit dahinzuvegetieren.
Ohne recht zu wissen warum, grinste sie vor sich hin. In die Angst mischte sich ein anderes Gefühl, es erinnerte sie an die Tage, als sie sich mit dem Lesebuch in den Kornfeldern versteckte. Kleine Bilder waren als Hilfe neben die Wörter gezeichnet, und langsam puzzelte sie sich einen Buchstaben nach dem anderen zusammen. Sie war sich sehr verwegen vorgekommen. Und frei. Ich sollte es wegwerfen, hatte sie auch damals gedacht.
Als die erste Abenddämmerung hereinbrach, kniete Elora sich auf den feuchten Waldboden und schlug das Buch auf. Nur ihre Fingerspitzen berührten das alte Papier. Es war tatsächlich ein Magierbuch, ein Buch für Magieranfänger. Bald verstand sie, warum es so anders aussah, als am Morgen: Der Kristallanhänger war ein Fokus. Magie brauchte immer einen Fokus, und wenn jemand in der Nähe war, der einen trug, fing die Schrift an zu leuchten.
Etwas später eine erste kleine Übung. Sie sollte sich nur auf den Anhänger konzentrieren, alles andere ausblenden und durch den Kristall nach der Magie greifen. Durch den Kristall greifen? Sie holte ihn hervor. Klein und unscheinbar lag er in ihrer Hand, etwa so groß wie ihr Daumen. Es wird nicht funktionieren. Niemals. Und wenn es jemand kann, dann nicht ich. Unwillig, gewiss zu scheitern und sich vor sich selbst lächerlich zu machen, schloss sie die Augen und tat, wie das Buch verlangte.
In einem Wimpernschlag veränderte sich die Welt: Eine Wand erschien vor ihr. Ein Tor. Ihre Gedanken stießen es weit auf, rissen Elora mit sich fort. Die andere Seite der Wand. Das Tempo verlangsamte sich. Sie stand in einem endlosen Meer rötlich schimmernder Energiefäden. Die Fäden griffen nach ihr, krochen unter ihre Haut. Ein berauschendes Gefühl von Freiheit, Macht und dem Verlangen nach mehr erfüllte sie. Es war wundervoll und zugleich ... schrecklich.
Elora schüttelte sich, schüttelte sich, bis die Welt um sie wieder klare Konturen annahm. Sie kroch fort von dem Buch, zitternd. Ihr Herz hämmerte gegen die Brust wie manche Vögel gegen die Rinde der Bäume; als wolle es ein Loch in sie hineinschlagen. Durch eine einzelne Öffnung im dichten Blätterdach starrte sie hinauf in den Himmel. Gerade wurden die ersten Sterne sichtbar. Es war noch immer erdrückend heiß, würde erst in den frühen Morgenstunden ein wenig abkühlen.
Magier waren Kindermörder. Züchteten Monster in den Kellern ihrer Behausungen. Vergifteten Brunnen nur zum Spaß. Opferten Frauen und Mädchen an Dämonen, mit denen sie düstere Pakte schlossen. Viele Magier waren Dämonen. In Menschengestalt schürten sie Kriege und Hass. Magier ...
„Ele?“
Naslan stand vor ihr, und sofort hüpfte ihr Herz wieder in den Hals. Das Buch lag einen Schritt fort von ihr, er musste die leuchtende Schrift sehen.
„Bitte, ich ...“
„Was ist los? Du siehst aus, als wärest du einem Monster begegnet.“
Es dauerte einen Moment, bis sie verstand. Die Schrift leuchtet gar nicht. Der Fokus verändert meine Art zu sehen.
„Oh, nein, es ist nichts ...“, sie suchte nach ihrem entspanntesten Lächeln, „nur etwas zuviel Sonne heute.“
Bitte glaub es mir und geh. Naslan blieb.
„Ich seh’ doch, dass ...“
„Schau“, versuchte sie es anders, „mir geht es wirklich gut.“ Ganz sachte berührte sie seine Hüfte mit der Hand und strahlte ihn an.
Naslan wirkte erst überrascht, aber dann trat dieser Ausdruck in seine Augen, den Elora so gut kannte.
Er setzte sich zu ihr, legte seine Hand auf ihren Oberschenkel. Zog sie langsam zu sich heran. Elora bewegte sich nicht.
Dann zögerte Naslan auf einmal. „Will Chreb dich nicht gleich?“
Als ob sie das vergessen könnte. Sie setzte eine enttäuschte Miene auf. „Doch ... wahrscheinlich schon.“
„Wir könnten uns ja beeilen.“
Aber Elora hatte erreicht, was sie wollte. „Nein. Nein, du hast schon recht.“ Sie schob seine Hand fort. „Es tut mir leid. Besser, wir provozieren Chreb nicht.“ Er würde sie nicht zwingen. Nicht er. „Vielleicht morgen.“
Tatsächlich stand Naslan enttäuscht auf.
„Ele ...“ Er machte eine hilflose Armbewegung.
„Schon gut.“ Sie lächelte.
Elora schaute dem Deserteur nach. Naslan war noch nicht lange bei ihnen. Es hatte Wochen gedauert, bis er zum ersten Mal zu einer der Frauen gekommen war. Zu ihr. Auf ihrem Lager sitzend hatte sie darauf gewartet, dass er sich holte, was Männer so von ihr wollten. Stattdessen erzählte Naslan nur, die halbe Nacht lang. Über seine Familie. Über sein Heimatdorf und die Kälte am Rand des großen Eises, wo er aufgewachsen war. Über Hunger, obwohl sie den auch selber kannte. Über die Länder, die er gesehen hatte. Über Kriege. Er war weit herumgekommen, weiter als Elora und viel weiter als die anderen, die ihr ganzes Leben in dieser Gegend verbracht hatten.
Dann hatte Naslan sie angesehen und ihre Hand genommen. Also doch, hatte sie gedacht, doch er sagte bloß: Ich habe so lange keine Frau mehr gehabt. Elora wusste bis heute nicht, warum sie in diesem Moment angefangen hatte zu heulen. Aber sie heulte, und Naslan hielt sie fest und streichelte ihre Haare. Später fragte er, ob er gehen solle. Sie hatte den Kopf geschüttelt, ihm gesagt, er solle sanft sein. Er war es.
Nein, sie genoss die Nächte mit ihm nicht; sie mochte Naslan umso mehr, je weniger er als Mann von ihr wollte. Immerhin war er zärtlich. Nur konnte Naslan, der „Neue“, sie nicht vor Männern wie Ezra oder Grin schützen.
Elora saß immer noch auf der kleinen Lichtung und starrte in den dunklen Nachthimmel, als Chreb sie rief. Er verlangte sie in letzter Zeit häufig für sich, und sie stärkte sein Interesse, wo es nur eben ging. Eigentlich war Chreb ihr gleichgültig, er war wie die meisten anderen. Allerdings hielt er es für sein Recht als Anführer, ein Mädchen die ganze Nacht für sich allein zu haben. Und so hatte sie Ruhe vor den anderen Männern, die die Frauen kreisen ließen wie die Becher Wein. Besser den Leitwolf als das ganze Pack.
Elora versteckte das Buch unter ihrem Kleiderbündel und legte sich zu Chreb. Es gab keine Zelte, sie brauchten keine. Die Schlafstätten waren wahllos zwischen den Bäumen verteilt, einfach ein paar Decken ausgebreitet auf dem Waldboden, darauf die wenigen Habseligkeiten.
Während Chreb über ihr herummurkste, schweiften Eloras Gedanken durch die Nacht. Der Mann heute Morgen hatte nichts, was sie von einem Magier erwartet hätte. Ein langweiliges Gesicht und teure Kleidung, für die er gestorben war. Nein, die Dämonen dieser Sümpfe waren sie selber, darüber machte sie sich keine Illusionen. Aber an das Morden hatte sie sich gewöhnt. Anderes war schwerer zu ertragen.

Sie hatte vergeblich versucht, sich an das Gesicht der Fremden zu erinnern. Es ging Elora nichts an, wenn die Männer eine Gefangene mitnahmen, sie war geübt im Wegsehen und -hören. Doch in jener Nacht hatte wach gelegen und das Gejammer und Geheule hatte sich einen Weg in sie hinein gefressen.
Es war ein Brief bei der Beute gewesen. Auf dünnem, wohlriechenden Papier verband eine geschwungene Linie die einzelnen Buchstaben miteinander. Es war eine feine, schmale Frauenhandschrift, ganz anders als ihre eigenen, ungelenken Zeichen, wenn sie versuchte, Texte aus ihren Büchern zu imitieren. Elora hatte den Brief wieder und wieder gelesen, er war an einen Mann geschrieben, ein Liebesbrief voller romantischer Träumereien. Sie hatte überhaupt nicht realisiert, dass die Schreiberin die gefangene Frau sein musste, es einfach nicht wahrgenommen. Bis das Geschrei anfing.
Meistens überlebten die Frauen, wurden sich selbst überlassen, wenn die Männer mit ihnen fertig waren. Aber die Briefschreiberin war am nächsten Morgen tot. Elora hatte das Papier zerrissen und weggeworfen, sich später jedoch darüber geärgert. Die Schrift war schön gewesen, und sie hätte gerne versucht, ob sie auch so schreiben könnte.
Einzig Naslan blieb immer allein, wenn gefangene Frauen im Lager waren. Sie beobachtete ihn manchmal, wie er dann am Ufer auf und ab ging und auf das Wasser hinausschaute. In diesen Momenten hatte sie ihn wirklich sehr gern.

Elora spielte ihr kurzes Theater, und bald darauf rollte Chreb von ihr herunter. Als er fest eingeschlafen war, setzte sie sich auf, holte das Buch wieder hervor und legte es auf ihre Knie. Es wird nicht funktionieren, nicht für mich, sagte Elora sich zum zweiten Mal an diesem Abend. Inzwischen war es völlig dunkel. Die Schrift leuchtete aus dem Papier und warf einen schwachen, bläulichen Schimmer auf ihre Haut. Ich habe mir schon einmal mit einem Lehrbuch etwas selber beigebracht, gab sie sich selber die trotzige Antwort.
Sie konnte noch immer Chrebs Samen fühlen, wie er aus ihr herauslief und einen schleimigen Fleck auf dem Waldboden hinterließ. Elora überflog die ihr schon bekannten Seiten, bis sie zu einem neuen Abschnitt gelangte. Übungen. Sie prägte sich das abgebildete Muster ein, schloss die Augen und konzentrierte sich auf den Fokus. Wieder erschien das Tor vor ihr, öffnete sich ihrem Willen, wieder stand sie in dem rötlich schimmernden Meer, fühlte die Magie unter ihrer Haut. Ruhig. Bleib ruhig. Sie bekam einige Energiefäden zu fassen, flocht sie zu dem einfachen Muster in ihrem Kopf. Dann öffnete sie die Augen.

Es ist einer der Momente, an die sie sich ihr ganzes Leben erinnern wird. Sie sitzt an einen Baum gelehnt, noch immer nackt, und die Rinde des Stammes zeichnet sich in ihren Rücken; eine zärtliche Berührung. Sie starrt auf das Licht in ihrer Hand. Es zittert, fällt zu einem Funken zusammen, flackert wieder auf. Es ist da. Und es wird alles verändern. Sie fühlt sich wie damals, als sie zum ersten Mal die Buchstaben zu Wörtern und diese zu Sätzen zusammenfügte. Als die Wörter plötzlich einen Sinn ergaben.
Sie schließt die Augen, horcht, wie ihr Atem und das Schlagen ihres Herzens langsam zur Ruhe kommen. Dann ändert sie das Muster, zieht mit ihren Gedanken an den magischen Fäden, und das Licht tanzt auf ihren Fingerspitzen hin und her. So einfach. Ein kindliches Lachen steigt in ihr auf. Mit Mühe hält sie sich die Hand vor den Mund, darf doch niemanden wecken.
Die ganze Nacht lang übt sie, vorsichtig, um nicht die Aufmerksamkeit der Wache zu erregen. Einmal herrscht plötzlich eine tiefe Stille um sie herum, kein Geräusch dringt zu ihr durch. Dann verändern sich ihre Sinne, sie kann alles deutlich sehen. Die warmen, lebenden Körper leuchten in einem rötlichen Licht. Im Baum über ihr sitzt ein großer bunter Vogel, wie sie des Tags noch keinen gesehen hat, und späht nach leckerem Getier. Am anderen Ende des Lagers entdeckt er eine kleine Echse und erhebt sich lautlos. Elora kann die Echse trotz der Entfernung sogar hören.
Muster um Muster übt sie. Ganz fiebrig wird ihr vor Freude. Es ist noch immer dunkel, da hat sie das kleine Büchlein durchgearbeitet, Lektionen gedacht für Wochen und Monate. So einfach. Sie lässt ihren Blick über das schlafende Lager streifen. Irgendwo gibt es mehr solcher Bücher. Gibt es noch andere, stärkere Foki. Gibt es geheime Magierzirkel, in denen sie lernen könnte.
Chrebs Dolch ist aus seinem Gürtel gerutscht, liegt neben ihm. Elora nimmt die Waffe, hält sie in der Hand. Das wäre jetzt auch einfach. Sie betrachtet den Schlafenden, den Dolch, den Schlafenden. Sie denkt an die Briefschreiberin, andere Frauen und, ein wenig, an sich selbst. Dann, mit einer plötzlichen Bewegung, rammt sie den Dolch direkt neben Chrebs Kopf in den Waldboden. Er fährt bis zum Heft ins feuchte Erdreich.
Egal. Ihre Hand zittert ein wenig. Sie kann lesen. Sie kann lesen und Licht in der Dunkelheit erschaffen. Sie weint, doch zugleich lacht sie leise, steckt Buch und Fokus in einen Beutel, streift sich Hemd und Rock über und steht auf.
Kurz denkt sie an Naslan. Er tut ihr Leid. Gerne würde sie es ihm erklären, hat aber Angst. Niemand will etwas mit Magiern zu tun haben. Mit Kindermördern, Monsterzüchtern und dieser Art. Wenn es denn stimmt. Dieser Schritt kann ein neuer Anfang sein oder ein letzter, tiefster Abstieg, sie weiß es nicht. Es ist ein Schritt irgendwohin. Nach langer Zeit wieder ein eigener.
Die Wache am Rand des Lagers hält sie noch einmal an. Wohin sie wolle. Wasser lassen. Der Mann nickt. Sie geht weiter. Hinter ein paar Büschen ist die Anlegestelle. Sie nimmt ein Kanu und stößt sich vom Ufer ab.

 

Hallo Niels,
mir hat die Geschichte gefallen. Elora lebt anscheinend in einer 'typischen' Männerwelt; Die Männer aus der Bande rauben die Reisenden aus. Die Frauen kochen, putzen und sind den Männern auch nachts 'zu Diensten'.
Aber sie schafft anscheinend den Ausbruch.
Ich hab den Eindruck, in der Welt deiner Geschichte denkt man ähnlich über die Magier, wie damals hier über die Hexen.
Planst du noch eine Fortsetzung der Geschichte? Es würde mich schon interessiern was für eine Zauberin Elora wird: Weiß, Schwarz oder Grau? Ich denke am ehesten Grau, nicht wirklich gut, aber auch nicht wirklich böse.
Sie scheind ja ein Talent für Magie zu haben.
Gruß Shinji

 

Schön, dass dir meine Geschichte gefallen hat!
Eine direkte Fortsetzung im Sinne von "Elora sprang in das Kanu und ruderte los", ist im Moment nicht geplant, es gibt aber andere Geschichten mit dem gleichen Charakter. Lies mal weiter unten "Der Zauber, das Leben und der Tod", wenn du wissen willst, wie Elora etwa 8 Jahre später so ist.
"Schwarz" und "Weiß" versuche ich eigentlich generell zu vermeiden, grau ist spannender! :D

Niels

 

Ich dachte auch nicht an eine Geschichte, die so direkt an diese anschließt.
"Der Zauber, das Leben und der Tod" hab ich erst nach deinem Hinweis gelesen.
Grau find ich auch interessanter. Alleine schon, weil es das 'wirklich Gute' und das 'wirklich Böse' in dem Sinne wohl nicht gibt. Man ist immer irgentwo dazwischen. Die Frage ist nur, in welche Richtung man ehr tendiert.

 

Hi!
Deine Geschichte ist wie immer gut geschrieben. Sie bleibt trotz der Fantasy-Elemente realistisch und nachvollziehbar. Diese Geschichte hat mir zwar nicht so gut gefallen wie deine anderen beiden, aber sie ist trotzdem nicht schlecht. Sie beschreibt wie Elora zur Magierin wird. Ich hätte es besser gefunden wenn du zuerst diese Geschichte und dann die anderen beiden veröffentlicht hättest, weil wenn man "Der Zauber, das Leben und der Tod" schon gelesen hat, weiß man im Prinzip was passiert und die Spannung baut sich nicht so auf. Ich fand die Geschichte jedenfalls weniger spannend, aber ich bin ja auch voreingenommen. Trotzdem eine gute Geschichte.
Freu mich auf mehr von dir.
Liebe Grüsse
Judy

 
Zuletzt bearbeitet:

Lieber Niels!

Na sowas, in der Geschichte gibt es ja gar keinen Berg, keine Felsspalten, keinen Gletscher…:D
Aber halt, da ist doch auch ein Berg, nämlich der, den die Protagonistin zu überwinden hat, die Angst, das Sich-nicht-Trauen und nicht zuletzt die Abhängigkeit. Einmal an die zweifelhafte Gruppe angeschlossen, um leichter überleben zu können, ist es schwer, wieder weg zu kommen. Aber der Kristall und der Glaube an die Magie helfen ihr dabei, den Berg aus Angst zu überwinden.

Eine sehr schöne Geschichte :), zu der ich Dir eigentlich eine richtige Kritik schreiben wollte, aber mir fällt nix ein, was ich kritisieren könnte. ;)

Diese paar Kleinigkeiten zählen ja praktisch nicht: ;)

»nicht nach all den Jahren auf dem Hof der Asrina.Damals warst du«
– Leerzeichen vor „Damals“ fehlt

»„Band I. Hinführungen“ leuchteten die Schrift nebulös.«
– leuchtete (ohne n)

»Die kleine Tochter der Asrina Familie, denen Elora gehörte«
– Asrina-Familie
– müßte eigentlich heißen “der Elora gehörte“, da es sich auf die Familie bezieht, dann könnte es sich allerdings auch auf die Tochter beziehen… Vielleicht findest Du da eine andere Formulierung?

»Es tut mir leid. Besser, wir provozieren Chreb nicht.«
– tut mir Leid

»Doch in jener Nacht hatte wach gelegen und das Gejammer«
– da fehlt vermutlich ein „sie“ zwischen „hatte“ und „wach“?

»Auf dünnem, wohlriechenden Papier verband eine geschwungene Linie«
– Auf dünnem, wohlrichendem Papier


Ach ja: Alles Gute zum Geburtstag! :anstoss: :)

Liebe Grüße,
Susi :)

PS.: Außerdem wird in der Geschichte sehr schön deutlich, wie vorteilhaft es sein kann, zu lesen. :)

 

Juhu, juhu, Niels-Arne schreibt wieder! *mit Transparenten wedelt und Feuerwerk abschiesst*

Endlich hat Elora eine Vorgeschichte! Die ich mit sehr großen Genuss gelesen habe...
Mir ist aufgefallen, dass du dir die Namen zusammengeklaut hast! Von wo, sage ich nicht, ich finde, wir spielen Namen-Raten.
Rechtschreibe-Fehler sind mir bis auf die Asrina-Familie ohne Bindestrich keine aufgefallen (dafür gibt es ja das Sternchen). Aber etwas habe ich zu bekritteln.
Das Erste sind die Asrina. In der Geschichte wird mir nicht deutlich, dass sie Elfen sind - deshalb war ich ja auch so verwirrt, ich war nicht sicher, ob es sich hier um dieselbe Elora handelt. In deiner anderen Geschichte war sie eine Sklavin der Elfen gewesen...
Das Zweite sind die Männer im Lager. Sie scheinen auch keinen Nachnamen zu haben? Sind sie Elfensklaven gewesen? Ich glaube, ich oute mich hier gerade als Fan *lach*
Die Organisation im Lager erinnert mich ein wenig an die "Ayla"-Zyklen, hast du die mal gelesen? Kann ich weiterempfehlen, riesige dicke Bücher, ohne jegliche intellektuelle Anstrengung zu lesen, wie die Bild-Zeitung :D
Wer mich auch noch sehr interessiert, ist Naslan. Warum ist er so anders als die Anderen? Ist Elora da gar nicht neugierig? Hat sie nicht nachgefragt?

*Geschichte gleich mal ausdruckt und sie zu der anderen an die Wand hängt*

Schreib weiter, los, schnell, ich will doch wissen, ob sie den bösen Magier findet!

Fan-atisch grüßt dich
Vita

 

Hallo Niels,
es wundert mich ein wenig, das deine Fantasygeschichte nicht bei Serien gelandet sind. Schlieslich spielen ja die meisten deiner Fantasygeschichten in der gleichen Welt.
Aber ich habe gerade nachgesehn. Hast du die anderen Storys aus der Welt löschen lassen? In deiner Liste hab ich sie nicht gesehn.
Gruß Shinji

 

Hi, Niels-Arne.

Bin ich hier einer der einzigen, der noch kein Werk ausser diesem von dir gelesen hat ? *sichduckt*

Mal eine ganz andere Fantasy-Geschichte, fast hätte ich dir die lokaltypischen Ausdrücke wegen fehlender Erklärung angekreidet, doch da diese Geschichte noch einen "Vorgänger" hat, lass ich das mal lieber, bevor ich die andere noch nicht gelesen habe.

Ich habe schon seit langer Zeit eine Kurzgeschichte vermisst, in der mal beschrieben wird, wie genau sich ein Zauberer das arkane Gewebe zu Nutzen macht, und ich finde, du hast mich sehr überzeugt mit deiner Anschauung dieser Reise in die Welt der Magie.

Auf gutes Schreiben.

Halbarad

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo ihr Lieben!

@ Häferl:

Vielen Dank für deine Geburtstagsgrüße und wie immer für deine Mühe! :) Schön, dass dir die Geschichte gefallen hat! Hatte gar nicht gedacht, dass die noch einmal hervorgekramt wird!

@ vita:
Hach, ein richtiger Fan!! :D Wie schön! Allerdings muss dir die Geschichte entgangen sein, denn sie ist keineswegs neu - schau mal auf das Datum der Veröffentlichung! :) Die Ayla Romane habe ich alle gelesen - die ersten vier habe ich verschlungen, aber der neue hat mich schwer enttäuscht. :( Na, mal sehen wie es weitergeht. Aber "inspiriert" haben mich die Romane nicht in dieser Story, sondern vor allem beiDie versteinerte Zeit.

@ shinji-jibi
Nein, meine Geschichten sind noch alle da! Muss ein Fehler bei dir sein! :confused:

@halbarad
Ja, meine F-Stories spielen alle auf der gleichen Welt. Wenn du die anderen noch nicht gelesen hast, brauchst du dich trotzdem nicht ducken :) ... lesen ist viel besser... *ggg*

@ all: Interessant, dass euch die Story so gefällt - ich habe relativ weitgehende Pläne für eine Überarbeitung und Erweiterung der Story, bei der dann auch eure Kritiken einfließen werden. - Vielleicht Anfang nächsten Jahres. ;)

Niels

 

Hast Recht Niels, deine Geschichten sind noch da. Vielleicht bin ich letztes mal falsch abgebogen. Aber wie gesagt, es wundert mich das deine Fantasygeschichten nicht unter Serien sind.

 

Aber wie gesagt, es wundert mich das deine Fantasygeschichten nicht unter Serien sind.

@Niels-Arne:
Unter welchem Gesamttitel soll ich sie denn eintragen? Gib einfach per PM Bescheid.

 

@ Abraxas:

Am besten gar nicht - ich fühle mich nämlich in der Fantasyrubrik sehr wohl! :D
Darüber hinaus bilden meine Geschichten, zumindest meiner Auffassung nach (bisher?) keine Serie. Klar, sie spielen alle auf einer Welt, und es gibt auch den einen oder anderen wiederkehrenden Char - aber für eine Serie fehlt da doch wohl der "fester Anker" in der Person eines zentralen Chars. Solange ihr mich trotz der Zusammengehörigkeit der Geschichten hier duldet ;), würde ich gerne bleiben...

Liebe Grüße; Niels

 

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