In der Mitte des Sees
Ich hatte beinah vergessen, wozu das alles gut war. Aber nun wusste ich es wieder. Weil ich begann wieder zu fühlen. Noch einmal ganz neu. David hatte uns gesagt, wozu solche Dinge wie das Theater gut ist, das Theater und Literatur, die Musik. Ich hatte es beinah vergessen, beinah ganz vergessen. Aber ich musste fühlen, ich musste beginnen neu zu fühlen.
Im Grunde denke ich mir jetzt, kann jeder Mensch leben wie er will. Das dachte ich früher auch, aber jetzt sagt es mir etwas. Es sagt mir, was das eigentlich bedeutet. Leben. Jeder wie er will. Es ist nur wichtig, dass man etwas dabei fühlt. Etwas Gutes. Liebe zum Beispiel. Liebe ist gut. Wen man liebt, wenn man glücklich liebt, also auch geliebt wird, dann fühlt man etwas Gutes. Und ich hatte vergessen wie das ist, überhaupt etwas Gutes zu fühlen.
Zuerst, als Kind, habe ich ganz automatisch gefühlt, als Kind ist man am meisten Mensch. Wenn ich glücklich war, dann lachte ich und wenn ich traurig war, dann weinte ich. Es war ganz einfach. Und es gab häufig Grund glücklich zu sein.
Einmal bin ich als Kind ganz in die Mitte eines Sees geschwommen mit einer blauen Luftmatratze. Ganz in der Mitte des Sees wehte der Wind und Luft war klar, ringsherum nur blaues Wasser, blaues kühles Wasser. Und dann tief einatmen und sich frei fühlen und ganz glücklich. Und dann mit der Zeit verschwindet das Gefühl, eben genau das Gefühl von der Mitte des Sees. Irgendwann ist es weg, ganz einfach weg.
Ich hielt Dinge wie das Theater lange Zeit für nutzlos, ebenso die Literatur oder die Musik. Und ebenso hielt ich die Musiker und die Schauspieler für nutzlos. Und die Schriftsteller. Und weil ich sie für nutzlos hielt, hasste ich sie. Aber eigentlich hasste ich mich ja selbst. Und obwohl ich das wusste, konnte ich es nicht ändern.
David hatte uns gesagt, wozu Theater, Musik und Literatur wichtig sind. Sie machen, dass die Menschen fühlen. Wenn man nicht weiß, was man fühlen soll, dann ist es gut zu wissen, was andere gefühlt haben in einer ähnlichen Situation. Man muss sich darauf einlassen zu fühlen.
Ich finde, heute, wo ich beginne wieder zu fühlen, dass das die wichtigste Aufgabe von Theater, Musik und Literatur ist. Wenn ich ein Stück höre, dann fühle ich, wenn ich eine Tragödie sehe, dann leide ich. Und es ist toll.
Und wenn man fühlt, wenn man Musik hört, ins Theater geht oder ein Buch liest, dann kann man auch fühlen, wenn man Menschen begegnet. Und wenn ein Mensch fühlt, dann empfinden auch die anderen Menschen etwas. Es ist ganz leicht.
Es ist so, wie wenn man ein Kind ist. Ein Kind lacht, und die Mutter lacht auch oder der fremde Mann auf der Straße. So ist es manchmal.
Jetzt ist es Herbst und ich kann nicht in die Mitte eines Sees schwimmen. Aber das Gefühl von der Mitte des Sees, es kommt auch so. Es ist ein gutes Gefühl.
Früher da war ich auch schon mal Schauspieler gewesen. Und ich werde es heute Abend wieder sein. Ich finde, wenn man weiß, wie man empfinden kann, wenn man traurig ist und wie, wenn man verliebt ist, dann muss man es den Menschen zeigen. Ich mag es auf die Bühne zu gehen, und zu fühlen, denn ich weiß, dass die Leute aus genau dem Grund ins Theater gehen. Sie gehen ins Theater, um sich anzusehen, wie man fühlt. Und manche gehen dazu auch in ein Konzert oder lesen ein Buch. Genau aus dem Grund. Das ist der wichtigste.
Ich finde es gut, dass David uns das damals gesagt hat. Ich habe viel von David gelernt. Heute spielen wir für ihn. Er hätte sich dieses Stück gewünscht. David hatte gelebt wie er wollte und er war gestorben wie er wollte. Und ich bin mir sicher, dass er die ganze Zeit über auch das gefühlt hatte, was er wollte. Es musste einfach so sein. Denn das alles gehört irgendwie zusammen. Man merkt es einfach, wenn man sich fallen lässt. Ich versuche es jeden Tag neu.