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In der Falle

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05.03.2022
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In der Falle

Ein Mann betritt die Doppelgarage und bleibt wie angewurzelt stehen. Ein Standbild in Weiß-Grau-Beige. „Hallo? Hören Sie mich?" Seine Stimme ist fest, fast befehlend. Keine Reaktion. „Hören Sie mich?!“ Der befehlsgewohnte Ton bricht, wie der Rest des Mannes, in sich zusammen. Er kniet neben den am Boden liegenden Mann, dunkle Haut, schwarze kurzgeschorene Haare; fühlt puls und Atem. „Oh nein? Oh mein Gott, nein!“ Sein Blick wandert über die heftig geröteten Hände – das müssen Brandwunden sein. „Ach du scheiße!“ Die Füße sind nackt, ein paar noch vom Regen nasse Flipflops liegen achtlos am Boden. Der Mann tätschelt die Wange des reglos daliegenden, fühlt erneut den Puls. „Scheiße.“ Seine Hände krampfen sich abwechselnd in den Nacken und das weiße Haar, als ob sie dort irgendeine Lösung greifen könnten. Aber es gibt keine.

Da sieht er das Handy des anderen aus der Hosentasche ragen. Er greift danach, versucht es anzuschalten, aber es ist natürlich gesperrt. Er drückt wie verrückt darauf herum, aber er bekommt es weder an- noch ausgeschaltet. Seine Finger krallen sich in die Rillen, um es irgendwie zu öffnen. Mühsam steht er auf, greift einen Hammer an der Werkbank und schlägt auf das Display, bis es splittert, schlägt weiter zu, bis es zischt und Funken schlägt. Er kehrt alle Teile in einen kleinen Eimer, dann steckt er sich die Flipflops in den Gürtel und greift den reglosen Körper an den Beinen. Keuchend schleift er ihn aus der Garage hinaus. Zentimeter für Zentimeter. Kaum hat er ihn über die Türschwelle des Untergeschosses geschleift, braucht er auch schon eine Verschnaufpause.

Er beißt sich in die Faust, die Knöchel treten weiß hervor. Dann öffnet er die Tür zum Heizungsraum und zerrt den Körper hinein. Doch als der Kopf die kleine Stufe in den Raum nach unten schlägt, entweicht dem Körper ein Stöhnen. Der Stehende hält erschrocken inne. Hat er sich das nur eingebildet? Doch da öffnen sich die Lippen – nur minimal, aber er ist sich sicher – und dann huscht ein Flattern über die Augenlider.

Er lebt!

Sofort beugt sich der Mann zu ihm nieder, streicht sanft seinen Kopf. Viel zärtlicher als zuvor: „Hallo, können Sie mich hören?"
Wieder ein Stöhnen – oder zumindest irgendein wahrnehmbarer Laut. Der Mann springt auf, die Treppe hoch, in die Küche. Ein Glas. Wasser. Zurück in den Keller.

Der andere hat die Augen noch geschlossen, aber die Lider flackern erneut und er verzieht leise den Mund zu einem klar hörbaren Seufzen. Für eine Sekunde steht der Mann, wie zur Salzsäule erstarrt, da. Dann knallt er das Glas auf den Trockner, spurtet, so schnell ihn die alten Knochen tragen, wieder los. „Verflucht noch eins!“ Diesmal holt er Panzertape.

An der Wand neben dem Heizkessel verläuft ein dick isoliertes Warmwasserrohr senkrecht zur Decke. Mit aller Kraft greift er den immer noch reglosen Körper unter den Achseln, zieht ihn, den Schmerz in den Lendenwirbeln ignorierend, hoch und hievt ihn gegen das Rohr. Er verschränkt dessen Arme dahinter und umwickelt sie mit Panzertape. Aber nur mit Gewalt und beiden Händen bekommt man die Rolle durch den Spalt zwischen isoliertem Rohr und Wand gequetscht. Doch sobald er den Körper festhält, rutscht dieser zur Seite und einmal wäre der leblose Kerl um ein Haar einfach seitlich umgekippt. Nur unter Aufbringung aller verbleibenden Kräfte, kann er verhindern, dass sich der Bewusstlose auch noch den schräg hängenden Schädel am Boden aufschlägt. Der Gefesselte stöhnt nun erneut auf. Diesmal lauter. Den Plan den gesamten Oberkörper mit dem Panzertape ans Rohr zu binden, muss man als gescheitert betrachten. Zwar sind immerhin die Arme ein halbes Dutzend Mal umwickelt. Doch das Tape hat sich dabei mehrfach heillos verdreht und klebt vor allem an sich selbst. Zwischen Körper und Rohr ist an allen Stellen außer im Schulterbereich, wo er direkt ans Rohr anlehnt, viel zu viel Luft zum Rohr. Doch das Besorgniserregendste von allem - er wacht auf.

Seine Augen öffnen sich langsam, verwirrt, unstet, bis sich sein Blick an den Augen seines Gegenübers festhält. Die Augen des Alten weichen aus. Schnell greift er das Glas: „Trinken Sie das.“ Er führt ihm das Glas zum Mund. Der Angesprochene trinkt.

Doch dann versucht er, seine Arme zu bewegen. Reist am Rohr. Schreit – irgendetwas zwischen Verwunderung, Angst und Wut. Starrt ihn erneut an. Versteht. Seine Stimme schwillt an zu einem Schwall fremdländischer Wörter, die ihm entgegenschwappen. Schiebt sich am Rohr hoch, brüllend wie ein Stier. Er kann ihm bis in den Rachen blicken. Er tobt und reißt wie von der Tarantel gestochen. Es ist beängstigend. Der Mann will ihn beruhigen, aber weiß nicht wie. Schafft es ja nicht mal, sich selbst zu beruhigen. Weicht zurück. Flieht. Aus dem fensterlosen Loch, die Treppe hoch ins sommerliche Abendlicht, das über den Paketboden streicht.

Die Dunkelheit legte sich wie ein Schleier über die Weinberge. Der Himmel färbte sich langsam von einem warmen Orange zu einem frostigen Grau. Als es endgültig dunkel geworden ist, erhebt sich eine Gestalt aus dem Ohrensessel, die zuvor reglos mit ihm verschmolzen schien. Leise gleitet sie die Treppe hinunter, bleibt vor der Tür zum Heizungskeller stehen. Lauscht in die Stille – doch nur das Surren der Leuchtstoffröhre im Gang ist zu hören. Langsam öffnet er die Tür. Der Gefangene drinnen wirkt erst, als wäre er eingenickt, schreckt dann aber hoch. Der Mann tritt mit erhobenen Armen ein. Versucht es mit einem Lächeln und sanftem Tonfall: „Ich tue dir nichts. Ich will dir nichts tun, ja. Es tut mir alles furchtbar leid. I’m sorry.“ Skeptische Blicke als einzige Antwort Seine Schultern spannen sich, wie bei einer Raubkatze: „Verstehst du mich? Do you speak English?“ Kopfschütteln.

Dann: „Water.“

Er füllt das Glas am Wasseranschluss in der Garage, wagt sich dieses Mal einen Schritt näher und reicht ihm das Glas. Der Gefangene trinkt es gierig leer. Dann folgt ein Wimmern: „My hands.“

„Hör zu das lief alles vollkommen schief. Ich hab das so nicht gewollt – das war alles ein Fehler von mir. Ein riesen Fehler – verstehst du. … Vielleicht der größte Fehler meines Lebens -aber jetzt, wir müssen da irgendwie wieder rauskommen. Ich bin schuld, aber wir können das nur für uns beide halbwegs gut lösen, wenn wir einander vertrauen, ja? Ich weiß, dass klingt jetzt schwierig – verrückt in deiner Lage, ich kann das verstehen - aber wenn du willst, dass ich dich losbinde – und das willst du ja. Also, dann brauche ich ein paar Garantien. Kannst du das verstehen.“

„My hands. My hands.“

„Tut mir leid. Deine Hände tun dir weh. Ich verstehe.“ Er rückt seine Brille zurecht und beugt sich etwas vor. „Ich… ich hab bestimmt etwas da. Zinksalbe oder Ringelblumensalbe vielleicht. Die hilft bei allem. Lass mich helfen, ja?“

Doch der Gefangene reagiert nicht auf das Gesäusel. Stattdessen wiederholt er immer lauter: „My hands! My hands!“

„Soll ich mal danach sehen?“ Er greift nach den zerschundenen Händen, der andere zuckt zusammen, dann schießt der Kopf des Gefangenen an seinen Hals. Der Alte fällt um, robbt weg. Hat der andere gerade versucht, ihn zu beißen? Der Hund hat versucht, ihn zu beißen! Wie ein Tier!

Der Gefangene schreit ihn an – beschimpft ihn. Warum kann der auch kein Deutsch? Nicht mal Englisch – das wird doch nie was mit so einem! Warum lässt man so jemand überhaupt ins Land?

Der Gefangene redet sich jetzt immer mehr in Rage.

Das hat doch alles keinen Sinn. So eine Scheiße. Er hat es wenigstens versucht. Er rappelt sich auf und verlässt den Raum. Beim Hinausgehen löscht er das Licht. Es ist spät, der andere soll schlafen. Der Raum wird jetzt nur noch von einer schwachen LED-Anzeige der Heizung beleuchtet. Der Gefangene schreit. Schreit wie ein Irrer. Springt auf – so viel kann er sehen, dann knallt er die Tür zu, läuft wieder nach oben. Als er gerade den ersten Fuß auf die Treppe setzt, kracht und scheppert es ohrenbetäubend. Wie zur Salzsäule erstarrt bleibt er stehen, die Augen in Todesangst panisch aufgerissen, steht er da und starrt zur Tür des Heizungsraums. Sein Herz schlägt bis zum Hals, bis an die Schädeldecke. Hat er das Rohr herausgerissen!? Hat er sich befreit? Was wird er nun tun? Wird er fliehen oder ihn angreifen? Wird er ihn töten? Ihn anfallen mit gefletschten Zähnen?

Aber es passiert nichts. Nach einer Minute oder zehn, er weiß es nicht, wagt er sich zurück zur Tür des Heizungsraums. Lauscht, dann reißt er sie auf und starrt hinein.

Das Licht aus dem Flur erhellt die Szene nur schwach. Der andere sitzt gekrümmt am Boden –genau da, wo er sein soll. Ein Stein fällt ihm vom Herzen. Doch rund um ihn herum hat sich einiges verändert. Schräg neben dem Rohr auf knapp 1,90m Höhe war ein Regalbrett installiert – mit Federballschlägern, Boulekugeln, eine Dose Tennisbälle, einem vollkommen ausgebleichten Planschbecken aus alten Zeiten, Anzuchttöpfen aus Plastik in allen Größen, einem platten Volleyball und mehreren Winterschuhen. Wie hat er es nur geschafft, das Brett herunterzureißen – groß ist er ja nicht eben und nur nach oben springen hätte nichts gebracht, er musste den Kopf herumgeworfen haben wie ein irrer. Der andere blutet nicht, hat sich aber augenscheinlich ganz schön weh getan.

Schnell schaltet der Mann das Licht an, legt zuerst das Regalbrett wieder an die alte Stelle – nur diesmal 3 cm weiter weg vom Heizungsrohr und sammelt dann all die Töpfe, Bälle und andere Utensilien eilig wieder zusammen.

Eine der 6 Boulekugeln in der Aufbewahrungsbox kann er auf die Schnelle nicht finden. Vielleicht war sie irgendwo hinter die Heizung, den Trockner oder unter das Regal mit den Malerutensilien gerollt. Aber er hatte keinerlei Lust, vor dem anderen auf dem Boden herumzukriechen wie ein Wurm. Außerdem tat sein unterer Rücken jetzt schon höllisch weh. Heute Abend musste er unbedingt CBD einnehmen, sonst würde er weder schlafen können noch morgen aus dem Bett kommen.

Ein noch größeres Problem aber ist das Panzertape – ein Teufelszeug – für ihn derzeit ganz oben auf der Liste der beeindruckendsten Erfindungen des 20. Jahrhunderts. Aber der andere ist jung und stark. Ewig wird es nicht halten. Wenn der Kerl sich erst wieder erholt hat und so weitertobt, war das nur eine Frage der Zeit. Ihn besser zu fesseln, traut er sich nach dessen Bissattacke nicht. Da kommt ihm eine Idee. Er geht hoch, durchwühlt hektisch den Arzneischrank – Gott sei Dank hat Christa ihre Schlaftabletten nicht mit nach Bayreuth genommen. Himmel, an Christa darf er gar nicht denken. Übermorgen kommt sie zurück. Bis dorthin muss er das Problem gelöst haben.

Er drückt zwei Schlaftabletten aus der Packung und . Dann nimmt er ein Glas. Der andere darf es nicht schmecken. Er füllt das Glas mit Cola. Gott mit Cola. Ist er eigentlich total bescheuert? Wie kommt er denn gerade auf Cola? Wer nimmt denn Schlaftabletten mit Cola ein? Und wenn es etwas gibt, bei dem so gut wie jeder auf der ganzen Welt den Geschmack genau kennt, dann ist das ja wohl Coca-Cola. Er leert das Glas in die Spüle, sucht etwas in der Vorratskammer herum und kommt mit einer Flasche roter Multi von Hohes C heraus. Schmeißt die beiden Tabletten in einen Mörser, presst noch eine dritte aus der Packung. Hält inne. Lässt die Packung langsam sinken. Er zerstößt und mörstert die Tabletten akribisch, gibt sie in den Saft und rührt um – sehr lange. Dabei wandert sein Blick immer wieder zu der angebrochenen Tablettenpackung. Er schleudert den Löffel in die Spüle, stopft die Packung in den Arzneischrank, nimmt das Glas und schreitet aus der Küche.

Im Keller angekommen, versucht der andere zwar, ihn mit seinem misstrauischen Blick zu durchbohren, aber er trinkt es problemlos leer. Muss echt durstig sein. Er überlegt, eine offene PET-Wasserflasche neben ihn zu stellen, aber er weiß auch nicht, was das dem anderen nützen soll. Vermutlich wäre es mehr ein Akt der Grausamkeit als des guten Willens. Also lässt er es bleiben.

Dafür lässt er das Licht an, als er geht. „Good night.“ „Good night.“ Er ist verwirrt. Eigentlich war es ihm lieber, als der andere nicht mit ihm kommuniziert hat. Er geht schlafen, doch das CBD hilft in dieser Nacht nicht. Er überlegt, Christas Schlaftabletten zu nehmen. Doch nicht, dass er die noch braucht… für was? Was will er damit tun? Er muss ihn gehen lassen. Alles andere … was wäre die Alternative? Er weigert sich, darüber nachzudenken, und doch kreisen seine Gedanken die ganze Nacht um diesen schwarzen Fleck in seinem Hirn.

Als die Sonnenstrahlen unaufhaltsam unter Tür- und Rollladenspalt hindurch ins Schlafzimmer kriechen, richtet er sich mühsam auf. Seine Lendenwirbel machen die Belastung oder den Stress oder was auch immer nicht mit. Wie ein alter Mann quält er sich die Treppe hinunter – verdammt, er ist ein alter Mann. In der Küche angekommen, leert er ein Glas Leitungswasser, wirft eine Ibu 800 ein und spült sie mit einem weiteren Glas hinunter. Anschließend richtet er ein Tablett mit Tellern, einem Glas Saft, einer PET-Flasche mit Wasser, 6 Scheiben Toast, Käse, Wurst, Butter und selbstgemachter Marmelade und zwei Tellern.

Auch der andere ist schon wach. „Guten Morgen“, begrüßt er ihn. Der andere lächelt schwach, seine Augen verfolgen das Tablett durch die Luft. Seine Zungenspitze huscht einmal über die verklebten Lippen. Er reicht ihm den Saft, aber der andere hält die Lippen verschlossen und nickt ihm zu. Helmut hält inne, dann trinkt er einen Schluck aus dem Glas. Der andere nickt und trinkt ebenfalls. So machen sie es mit allem, dem Wasser, dem Marmeladentoast. Die allermeiste Zeit sitzen sie schweigend zusammen – mindestens eine Stunde geht das, vielleicht 2. Helmut verliert das Zeitgefühl – er ist zu sehr damit beschäftigt, zu denken, in sich hineinzufühlen. Die Absurdität dieser Situation könnte ihn fast zum Lachen bringen, wäre es nicht so bitterernst. Jemand anderen zu füttern ist erstaunlich intim und fühlt sich fast so an, als würde er ein krankes Familienmitglied pflegen.

Als er aufsteht und gehen will, beginnt der andere zu flehen. „No, don’t go! Please, help. Let go. Please let go. Please“. Er muss sich wegdrehen. Schnell steigt er in die Wohnung. Aber was soll’s, es ist die einzige Möglichkeit. Er wird dazu stehen müssen, was er getan hat. Das wird schmerzhaft und peinlich und Christa wird ihn hassen, aber es ist die einzige Möglichkeit. In der Küche angekommen, räumt er erst alles ein, dann nimmt er die Schere. In der Tür bleibt er stehen, zögert. Dreht sich um, nimmt das lange Küchenmesser. Wenn der andere ihn tatsächlich angreifen sollte, sobald er ihn befreit hat, wird er es sich so zweimal überlegen. Er kommt ins Nachdenken. Wird er das? Oder wird er sich durch das Messer erst recht provoziert fühlen? Ein Symbol des Misstrauens, der Machtverhältnisse. Aber diese Machtverhältnisse werden nicht mehr gelten. Er braucht sich nichts vormachen, er hat die Kraft dieses jungen Kerls gesehen. Messer hin oder her, er wäre mit seinen eingerosteten Reflexen viel zu langsam, zu schwach, zu alt. Doch die Schere? Dann hat wenigstens der andere kein Messer, wenn es wirklich ernst werden sollte.

Er entscheidet sich zögerlich für das Messer und steigt die Treppe hinab, wird aber immer unsicherer – je mehr er sich der Tür nähert. Es ist das einzig Richtige – versucht er sich einzureden. Sei ein Mann und steh dazu. Zwei Meter vor der Tür bleibt er wie angewurzelt stehen, greift sich mit der freien Hand an Mund und Hals. Die sechste Boule-Kugel. Er war heute so anders. Er hat gewusst, dass er ihn ruhiggestellt hat und schien es ihm absolut verziehen zu haben. Er schien alles verzeihen zu können. Aber er hatte auch das Tier in ihm gesehen. Die Wut und Verzweiflung. Wo war die 6. Kugel? War sie wirklich unter das Regal oder hinter die Heizung gerollt? War das Spiel überhaupt vollständig? Er hatte bestimmt zehn Jahre nicht mehr gespielt, Christa sowieso nicht. Aber nein – das wäre ihm doch aufgefallen, wenn da zehn Jahre lang eine Kugel gefehlt hätte? Oder? Was, wenn …?

Er öffnet langsam die Tür? Sie schauen sich an. Er versucht, das Messer nicht sonderlich bedrohlich zu halten, und der andere versucht hoffnungsvoll zu lächeln, wenngleich er sicher auch Angst hat. Aber er geht nicht zu ihm, er läuft an ihm vorbei ins Eck unter dem Regal, schaut dort nach, versucht seinen Blick beim Umdrehen aber möglichst beiläufig auf die Hände und hinter den Rücken des anderen zu richten. Der andere versucht derweil möglichst unauffällig, sich so zu drehen und zurückzulehnen, dass er seine Hände und was auch immer sich hinter seinem Rücken befindet nicht sehen kann. Jetzt versucht er, weniger auffällig hinter ihn zu schielen, ihre Blicke treffen sich. Und beide wissen, dass der andere es weiß. Der Hundeblick verzieht sich zu einer Grimasse aus Wut und Enttäuschung. Vermutlich spiegeln seine Gesichtszüge dasselbe wider. Wie hatte er nur so dumm-naiv sein können? Fast hätte es ihn das Leben gekostet. Idiot. Christa kommt in wenigen Stunden nach Hause. Was soll er denn jetzt tun. Sein Blick wandert kurz zu dem Messer in seiner Hand. Aber selbst, wenn er wollte – er kann es nicht. Es muss eine andere Lösung geben. Er legt das Messer ins Regal, reißt etwas Panzertape ab und tritt dem anderen entgegen. Als der versteht, was er vorhat, reißt er den Mund auf, schreit ihn an, versucht, nach seinen Händen zu beißen. Das kann doch nicht wahr sein!? Er schafft es, ihm den Mund zu verkleben, bevor ihn ein Tritt einmal quer durch den Raum befördert. Er stolpert und knallt mit dem Kopf gegen die Stahltür. Ein Stechen brennt von seinen Lendenwirbeln bis in die Unterschenkel hinunter und sein Blick verschwimmt kurz. Ihm dröhnt der Schädel, aber langsam schafft er es, sich aufzuraffen, während der andere wie ein wildgewordener Stier am Rohr reißt und ihn anbrüllt. Beziehungsweise versucht, ihn anzubrüllen. Das Panzertape, das ihm quer durchs Gesicht geht, scheint zu halten. Mühsam tritt er den Rückzug an und schleppt sich die Treppe hoch. Er wird noch eine Ibu brauchen.

Er ist gerade auf der Suche nach dem nichtexistierenden Schlüssel zum Heizungsraum – Sie leben seit 40 Jahren hier und es gab noch nie einen Schlüssel, aber theoretisch müsste es ihn doch geben – da hört er den Kies in der Einfahrt knistern. Die Abrollgeräusche eines Wagens verscheuchen die drückende Stille der Mittagshitze.

Er eilt zur Tür, Christa hat bereits ihren Koffer aus dem Wagen geladen. Er eilt herbei, um sie mit einem Küsschen zu begrüßen und ihr mit dem schweren Koffer zu helfen.

„Christa! Schön, dass du wieder da bist“, lügt er. „Wie war’s in Bayreuth?“

„Herrlich.“ Beide winken Helen hinterher, die nun selbst nach Hause fährt. „Und wie ist es meinem armen Schatz fünf Tage ohne mich ergangen? Steht die Küche noch?“

„Ach ja,“ versucht er es mit einem lächelnden Achselzucken. „Komm rein.“

„Alles in Ordnung mit dir?“, eine Sorgenfalte legt sich auf Christas Stirn, als sie sein Gesicht näher betrachtet. „Du siehst ein wenig angeschlagen aus.“

Helmut ist schockiert, wie schnell sie ihm das angemerkt hat. Woran eigentlich?

„Hach ja, der Rücken ist wieder schlimm, ich muss dringend beim Christian einen neuen Termin machen.“

„Och Helmut, du Armer. Du solltest besser auf dich aufpassen.“ Und dann zieht Helmut den Koffer die Stufen hoch und sie gehen ins Haus.

Klonk. Helmut ist sofort hellwach. Er hat vor einer halben Stunde erst, nachdem er zum dritten Mal in dieser erneut fast schlaflosen Nacht auf dem Klo war, die Fenster und Rollläden geschlossen, da begann gerade der Morgen zu grauen und nun zwitscherten die Lerchen. 5.09 Uhr verriet ihm ein Hieb auf den Wecker. „Klonk“.

Scheiße. Er hatte Christa den ganzen Tag so gut es ging vom Haus ferngehalten. Nachdem sie sich etwas erholt hatte, waren sie im Golfclub gewesen, hatten den Wocheneinkauf erledigt, waren zusammen essen … „Klonk“.

„Was ist das, Schatz?“, stöhnt Christa schlaftrunken. Ihr Kopf fährt hoch.

„Scheint irgendwas mit der Heizung zu sein. Bleib liegen, ich kümmere mich.“

„Aber die Heizung ist doch aus“, hört er sie gerade noch murmeln, als er aus dem Schlafzimmer schlüpft.

„Klonk, Klonk, Klonk, Klonk, Klonk.“

Er hastet so schnell es geht, mit gekrümmtem Rücken die Treppe hinunter. Auf dem Weg durch den Keller, greift er sich den größten Schraubenschlüssel, den er finden kann, und reißt die Tür auf.

Der andere ist aufgestanden und tritt, was das Zeug hält, mit einem Bein nach hinten gegen das Heizungsrohr.

„Lass das!“, faucht Helmut. „Stop it!“

Der andere schaut ihm eine Sekunde direkt in die Augen, dann tritt er noch stärker zu als zuvor.

„Klonk, klonk, klonk, klonk.“ Gott, er muss sofort aufhören, denkt Helmut und schlägt ihm mit dem Schraubenschlüssel ins Gesicht. Es war kein sonderlich heftiger Schlag, der Hilflosigkeit entsprungen, nicht dem Hass. Es soll eine Warnung sein. Tatsächlich hält der andere kurz inne, dann nickt er dem leeren Glas zu, das noch im Regal steht.

„Okay, okay.“ Versucht ihn Helmut zu beschwichtigen. Im Nebenraum steht ein Kasten Mineralwasser, er will sich gerade nach der Flasche bücken, da ertönt ein neues Klonk und Helmut zuckt so zusammen, dass es ihm einen brennenden Stich durch den ganzen Rücken jagt. Er greift die Flasche und schleppt sich gebückt zurück.

„Stop it, please.“ Der andere hält inne und schaut ihm erwartungsvoll zu, wie er das Glas füllt.

Helmut löst das Tape am Mund, aber nur so weit, dass es an der rechten Wange noch klebt und er es schnell wieder zukleben kann. Der andere trinkt gierig das Glas leer in einem Zug. Schluckt, Helmut will direkt wieder das Band schließen, aber der andere reißt den Kopf zur Seite. Helmut geht ihm nach und bekommt direkt dessen Stirn auf die Nase geschmettert.

„Help! HEEEELP!“, brüllt der sofort los, während Helmut noch zurücktaumelt und sich den schmerzenden Nasenrücken hält, der ihn fast seine brennenden Lendenwirbel vergessen lässt. Der andere schreit sich die Seele aus dem Leib, aber es ist nicht so laut wie befürchtet, mehr ein Krächzen. Helmut hechtet erneut vor, sie ringen. Der andere schreit, beißt ihn in die Hand. Helmut schreit auf, reißt die Hand weg und schafft es tatsächlich mit Links, dessen Mund halbwegs zu verschließen. Der andere schreit weiter, nicht weniger laut, obwohl der Mund halbwegs verklebt ist, aber das Band ist nicht unter Spannung. Sofort holt Helmut Neues und schafft es diesmal recht gründlich.

„Helmut?“, hört er jetzt Christa ängstlich rufen.

"Alles gut, ich komme gleich", ruft er zurück.

Der andere tritt nun wieder wie blöd gegen das Rohr, atmet schwer durch die Nase.

„Helmut?“ Auch Christas Rufe werden lauter und panischer. „Was ist da los?“

„Ich komme schon“, ruft er und versucht dabei locker zu klingen. „Alles gut.“ Aber das würde er sich selbst nicht abkaufen – Christa kauft es sicher nicht. Was soll er ihr nur sagen?

Er eilt die Treppe hoch. Sie hat schon die erste Stufe hinab in den Keller genommen und weicht nun zurück, als er ihr so schnell er kann entgegenstürmt.

„Oh Gott, Helmut? Was ist passiert? Wer ist da?“

„Alles gut. Die Heizung. Niemand ist da.“

„Aber ich hab doch jemand gehört? Gott, was ist denn mit deiner Hand?“

„Was?“

„Du blutest ja?“

„Ach, das ist nur ein Kratzer?“

„Aber warum Helmut?“, kreischt sie ihn nun an, „Was passiert hier? Wer ist im Keller?“

Da bricht Helmut in sich zusammen und ein ergreifendes Schluchzen entfährt ihm, wie ein Kind. Christa nimmt ihn in die Arme, schaut ihn entgeistert an. Er lässt es zwei lange Sekunden geschehen, dann schiebt er sie weg. Wischt sich eine Träne vom Gesicht, greift sich an Mund und Nase.

„Christa, es tut mir leid. Ich habe Mist gebaut. Du musst …“

„Wer ist im Keller?“

„Du musst mir zuhören, Christa. Hör zu!“ Er packt sie fest an beiden Armen und sieht ihr in die Augen.

„Im Keller ist ein Einbrecher?“

Christas Augen weiten sich vor Entsetzen.

„Nein, keine Sorge. Er ist gefesselt. Im Heizungsraum.“

„Aber …“

„Hör mir zu!“

„Wir müssen die Polizei rufen – warum hast du nicht schon längst..!

„Hör mir doch einfach mal zu, Gott verdammt!“, schreit er sie jetzt an und schüttelt sie.

„Ich wollte ja die Polizei rufen!“, stöhnt er verzweifelt. Unbeherrscht: „Natürlich wollte ich das!

Man sieht auch auf der Kamera, wie er zum Haus rennt, ich hab das überprüft.

„Ja, aber … warum hast du es dann nicht getan?“

Das ist die Frage, vor der er sich gefürchtet hat. Auf der er ihr keine Antwort geben will. Doch ihm fällt auch keine glaubhafte Lüge ein und früher oder später würde sie dahinterkommen. Lügen würde alles nur schlimmer machen. Aber Gott, konnte es überhaupt noch schlimmer werden?

„Helmut, … rede mit mir! Warum hast du nicht einfach die Polizei gerufen!“, ihre Stimme ein eindringliches Flüstern, der Panik nahe.

„Ja, also … wir haben ja beide damit gerechnet, dass das passieren würde, als die Stadt einfach bei uns gegenüber das Dreher-Areal in eine Flüchtlingsunterkunft umgewandelt hat. Und wir haben beide gesagt, dass wir etwas dagegen tun müssen. Also habe ich Vorbereitungen zu unserem Schutz getroffen.

„Die Überwachungskameras?“

„Genau. Die auch.“

Sie blickt ihn weiter vollkommen verunsichert an.

„Genau, also ich hab den Jaguar ans Stromnetz angeschlossen. Also die Karosserie. So als Diebstahlschutz.“

„Du hast was?“

„Ja, hör zu, du siehst ja, dass es nötig war.“

„Und wenn ich an den … „

„Ich hab das natürlich erst gemacht, nachdem du weggefahren bist. Niemand Unschuldiges konnte verletzt werden.“

Ihr Blick verriet, dass sie mit dieser Beschwichtigung nichts anzufangen wusste und auch nicht geneigt war, ihn mit irgendwelchen halbgaren Ausreden davonkommen zu lassen.

„Aber ich verstehe nicht, warum unsere Alarmanlage nicht runterging? Wir zahlen doch jeden Monat Geld für diese Direktschaltung?“

„Ich… hab wohl vergessen, das Garagentor zuzumachen.“

„Du hast … Moment. Ich fasse es nicht. Jetzt ergibt alles Sinn. Ich fasse es nicht! Du ‚hast Vorbereitungen‘ getroffen. Installierst die Kamera außen und genau in der Zeit, in der ich web bin, lässt du das Garagentor offen und setzt den Jaguar unter Strom?! Spinnst du eigentlich komplett!?“

„Christa ...“

„Das hast du doch geplant! Du lockst jemanden zu uns in die Garage und jetzt sitzt der seit vorgestern gefesselt in unserem Keller? Ich habe hier geschlafen!“

„Das war doch der einzige Weg, das noch irgendwie aufzuhalten. Dass da gleich am Anfang was passiert. Wenn die mal zwei Jahre hier wohnen, bekommt man die nie mehr weg!“

„Aber du kannst doch nicht jemand einsperren! Du rufst jetzt sofort die Polizei oder ich mach’s. Oh Gott, wie hochnotpeinlich. Ich fasse es nicht.“

„Ich kann jetzt nicht mehr so einfach die Polizei rufen – die sperren mich ein!“

„Ist das mein Problem?!“, sie läuft jetzt in der Diele auf und ab. Murmelt: „Ja verdammt."

„Wie gut spricht der Deutsch?“

„Gar nicht.“

„Wem glauben die dann eher? Uns oder so einem? Du sagst einfach, der wäre heute Nacht hier eingebrochen!“

„Der wird doch wahrscheinlich schon längst vermisst, und die Fesselmale, d…

„Ist er verletzt?“

„Na ja. er hat vielleicht ein, zwei Beulen – aber die Brandwunden…“

„Was denn für Brandwunden?“, ihr Blick zeigt jetzt noch mehr Verachtung als bisher. Hält sie ihn etwa für einen Folterknecht?

„Ich wollte das doch alles gar nicht. Ich wollte ihm nur den Schreck seines Lebens einjagen und ihm eine Lektion erteilen, wenn er es wagt, bei uns in die Garage zu kommen. Mit den Aufnahmen, wie er bei uns über die Einfahrt zum Haus läuft, hätte ich dann der Polizei vorgelegt und wir hätten unseren Skandal gehabt, mit dem wir hätten ordentlich Rummel machen können.

Aber dann hat der Kerl einfach bei Regen seine Flipflops ausgezogen!“

„Und? Die Patschen ja auch so beim Rennen oder vielleicht einfach, weil er ohne schneller ist?“

„Mag ja sein, aber sonst hätte ihm der Stromschlag ja nicht viel gemacht?“

„Das sind 230 Volt! Daran kann man sterben!“

„Ach Quatsch. Du hast doch keine Ahnung von Strom! Ein kleines Kind vielleicht oder wenn man in der Wanne liegt. Ich hab auch schon mal 230 Volt abbekommen. Das rummst einmal, man bekommt einen gewaltigen Schreck und das wars. Der Senior vom Elektro Gruber hat einfach einmal mit dem Finger schnell drübergewischt, wenn er wissen wollte, ob Strom auf der Leitung ist. Der hat bestimmt schon 100 Schläge abbekommen und lebt immer noch. Aber ausgerechnet ich muss so ein Pech haben! Wer konnte denn ahnen, dass jemand mit nassen Händen und Füßen und auch noch barfuß die Karosserie berührt?! Allein die Gummisohlen hätten schon so viel wegisoliert. Ich mein, damit kann doch kein Mensch rechnen – das ist sowas von Un…“

„Du bist komplett krank. Dein Selbstmitleid kannst du behalten, das steht dir nicht.“

„Aber was soll ich denn jetzt machen?“

„Das ist mir vollkommen egal, aber ich will mit der Sache nichts zu tun haben. Du hast es zu verantworten, du schaffst es aus der Welt.“

„Aber wie denn?“ Seine Stimme brach fast, als er die Frage stellte, da er wusste, dass eine Antwort schrecklicher war als die andere.

„Ich weiß nicht, wie!“, schrie sie zurück. „Aber eins weiß ich: Wenn das hier rauskommt, sind wir fertig. Komplett!“

Helmut schwieg – soviel hatte er in 54 Jahren Ehe gelernt.

„Oh mein Gott. Die werden uns zerfetzen. Uns beide. Nicht nur hier in der Stadt – das werden die Medien ausschlachten. Das kommt bundesweit. Im Internet werden sie uns erst recht steinigen. Wir müssen hier wegziehen. Gott, mit uns wird niemand mehr auch nur gesehen werden wollen.“ Ihr versagt die Stimme und sie bricht in Tränen aus.

„Aber nein, Schatz.“, versucht er sie zu trösten, aber sie schiebt ihn weg. „Doch genau so wird es kommen. Genauso. Das wird nicht nur irgendwie peinlich – das wird unser gesellschaftlicher Untergang. Gott, vermutlich werfen sie uns sogar aus dem Golfclub. Und selbst wenn nicht, könnte ich mich da ohnehin nie mehr…“

Helmut versucht, sie zu beruhigen. „Ich kümmere mich darum, Christa. Ich schwöre es.“

„Du musst“, schluchzt sie. „Ich verkrafte, das sonst nicht.

Es ist mir ganz egal wie, du das machst, aber erledige es einfach.“ In ihrer Stimme liegt eine Kälte, die er bisher nicht gekannt hat. Seine Christa. Helmut nickt stumm, sein Blick bleibt auf den Boden geheftet. Die Schwere ihrer Worte lastet auf ihm wie eine eiserne Kette.

Er lässt sie stehen und geht ins Wohnzimmer. Hört sie die Treppe hochsteigen und die Schlafzimmertür schließen. Er reißt die Terrassentür auf, er braucht frische Luft. Draußen zwitschern die Vögel und die Kühle legt sich sanft auf sein Gesicht. Dann lässt er sich auf den Sessel fallen. Er muss nachdenken. Als ob er die letzten Tage irgendetwas anderes gemacht hätte. Aber jetzt hat er eine Entscheidung getroffen – oder hat Christa sie getroffen? Vollkommen egal. Für Sie würde er alles tun.

Nach vielleicht einer Viertelstunde ertönt wieder permanent ein Klonk aus den Heizkörpern und kurz darauf macht ihm ein herzzerreißendes Schluchzen und Wimmern aus dem Schlafzimmer jegliches Nachdenken unmöglich. Er würde gerne hochgehen und sie in den Arm nehmen, doch das würde sie nicht zulassen. Er weiß einfach nicht weiter, also bleibt er hier sitzen und sieht dem Himmel zu, wie er sich blau färbt, ohne dabei irgendein Gefühl für dieses sanfte Schauspiel zu entwickeln. Ihn beginnt zu frösteln, aber er schafft es nicht aufzustehen oder sich überhaupt irgendwie zu bewegen. Ist vollkommen paralysiert.

Da hört er auf einmal leise Schritte auf der Treppe. Er zuckt zusammen und springt auf. Es ist Christa.

„Ich will ihn sehen.“

„Ich glaube nicht…“

Du hast mich verstanden, ich will ihn sehen. Ich will ihm in die Augen sehen, um wenigstens in Ansätzen zu verstehen, wer das ist.“

„Christa, ich …“

„Wenn du nicht mitkommst, gehe ich selber.“

„Er bewegt sich nicht.“

„Also gut.“

Als sie ihren Fuß auf die Kellertreppe setzt, ist er bei ihr.“

Schweigend läuft er voraus. Dann öffnet er die Tür.“

Ihre Augen treten über und ihre flache Hand zuckt zu ihrem offenstehenden Mund. Christa starrte auf den Jungen. Sein Gesicht war eingefallen, die Wangenknochen scharfkantig, die Augen dunkel und tief. Trotz der Dunkelheit konnte sie sehen, dass seine Haut im Gesicht rund um das Klebeband gerötet war. Sein Blick war leer, wie der eines Tieres in einer Falle, das längst aufgegeben hatte.

„Der ist ja noch ein Kind“, flüstert sie völlig entgeistert.

„Also, das ist ja wohl kaum ein Kind!“, erwidert er wütend.

„Aber erwachsen ist der sicher auch nicht, der ist doch nie im Leben 18!“

„Das kannst du doch gar nicht wissen.“

„Aber du doch auch nicht!“, kreischt sie ihn jetzt an.

„Der ist mindestens 17.“

„Ach ja?! Und wenn schon?! Ich wusste ja nicht, …“

„Die versuchen doch immer, jünger auszusehen, als sie in Wahrheit sind. Vermutlich ist er sogar schon längst volljährig, aber das weiß man bei denen ja nie. Selbst wenn er irgendwelche Ausweispapiere bei sich gehabt hätte, was er natürlich n…“

Klatsch.

Sie hatte ihn geschlagen. Sie hatte ihn noch nie geschlagen. Der Schlag wäre zu verkraften gewesen, wäre er nicht von seiner Christa gekommen. So traf er ihn mitten ins Herz.

Er klappt die Sonnenblende herunter und kneift die Augen zusammen, als er auf die Schnellstraße auffährt. Die Sonne verabschiedet sich pittoresk hinter einem der Weinberge. Der Wetterbericht hat schon verkündet, dass es ein Abschied für längere Zeit sein wird. Die Wolken im Süden türmen sich bereits zu gewaltigen Bollwerken auf und man kann ihnen förmlich beim Wachsen zusehen. Eine Explosion in Zeitlupe, die unaufhaltsam auf ihn zurollt. Eigentlich rollt doch er auf sie zu, überlegt er, aber er fühlt sich derzeit nicht wie der Protagonist in seinem Leben. Egal was er tut, es fühlt sich mehr so an, als ob ihm einfach geschieht.

In ein paar Stunden wird er über den Brenner sein. Die Schweiz lässt er sicherheitshalber aus.

„Die verzweifelte Lage des Jungen im Kofferraum hätte fast sein Mitleid geweckt. Aber er hatte keines mehr – alles war für ihn selbst und Christa aufgebraucht“.

Würde sie ihm je verzeihen können? Als er losgefahren war, hatte sie ihm ermutigend zugelächelt. Aber er kannte dieses Lächeln nicht. Es wirkte, als hätte man es einer Holzpuppe mit der Klinge ins Gesicht geritzt. Wie konnte man nur so dumm sein!

Aber das jetzt. Das konnte doch funktionieren? Kurz nach Mitternacht sollte er bereits in Italien sein, wenn alles glatt lief. Gott, er war doch echt schon Jahre, wenn nicht Jahrzehnte, nicht mehr kontrolliert worden. Andererseits hatte er ja eben erst gelernt: Alles, was schiefgehen konnte, ging schief. Hatte er Gott erzürnt? Er hatte schon lange nicht mehr an Gott gedacht – so lange keine Beerdigung anstand und er gesund war, spielte Gott keine Rolle in seinem Alltag.

Es hatte sich grausam falsch angefühlt – obwohl er keine Gewalt hatte anwenden müssen. Er hatte ihm das Glas mit rotem Saft hingehalten und der andere hatte ihn mit solch einer Verachtung im Blick angesehen. Er hatte gezögert, aber nicht lange. Vielleicht eine Minute. Dann leerte er es in einem Zug – wie einen dargebotenen Kelch mit Gift. Diesmal waren es 5 Schlaftabletten, aber das überlebt man doch als junger Kerl, oder? Die Tochter seiner Schwester hatte mal eine halbe Schachtel geschluckt und überlebt. Aber er hatte keine Ahnung, was das für Tabletten waren, und man hatte ihr auch den Magen ausgepumpt, wenn er sich richtig erinnerte. Aber was hatte er für eine Wahl? Also der andere oder er selber.

Wenn er erst über die Grenze war, würde er ihn irgendwo absetzen. In einem Wald, Feld oder sonst wo. Hoffentlich wäre er dann noch betäubt. Wenn nicht, müsste er wenigstens die Handfesseln dranlassen. Der würde schon irgendwie durchkommen. Hoffentlich nicht zu weit. Aber ohne Ausweis ließen die den doch nicht wieder über die Grenze, oder? Oder doch? Wie kamen die denn sonst immer zu uns? Aber würde er überhaupt zurückwollen? Italien ist doch schön. Was hielt ihn denn bei uns? Seine Familie vielleicht – aber vielleicht auch nicht. Es war ja auch scheißegal – solange er es nicht wieder bis nach Deutschland schaffte. Und falls doch, würde ihm dann irgendwann in ein paar Wochen sicher niemand mehr Glauben schenken?

Oder würden irgendwelche Sozialfuzzis die Geschichte hören und die Polizei einschalten? Würde die dann ermitteln? Musste sie vielleicht sogar? Er tastete seine Jacke noch mal ab. Ja, er hatte sein Handy zu Hause gelassen. Aber an den Grenzübergängen gab es sicher Kameras. Es glaubte nicht, dass die Polizei… aber bei seinem Pech.

Als die Lichter des Grenzübergangs am schwarzen Horizont vor ihm auftauchen, schreckt Helmut aus seinen Gedanken auf. Er ist müde und zunehmend unkonzentriert. Die angeschriebene Abfahrt in einem Kilometer ist vielleicht die letzte vor der Grenze. Helmut geht vom Gas. Christa musste es nie erfahren – er würde es mit sich ausmachen müssen. Und vielleicht mit Gott? Aber so jemand war er doch nicht. Er war doch kein schlechter Mensch – eigentlich.

 

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