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In den Schoß gefallen
Heute ist mir etwas Seltsames passiert. Ich habe mir gerade mein Frühstück gekauft und bin unterwegs zur U-Bahn. In der einen Hand einen Becher mit brühend-heissem Kaffee und in der anderen ein Croissant. Äusserst wohlschmeckend und trotzdem unkompliziert genug, um beides im Transit zu vertilgen. Kalt und nass ist es, und nach kurzer logistischer Handarbeit kann ich mir in die Tasche fassen und mir meine schwarze Pudelhaube überziehen. Viel besser so. Wärmer. Ausserdem treten all die hektischen Umgebungsgeräusche etwas in den Hintergrund.
Ich marschiere also mit weit ausholenden Schritten über die Strasse und an der Baustelle des neuen Banken-Glasturms entlang in Richtung U-Bahn Station, als ganz plötzlich ein schwarzer Schemen durch mein Blickfeld huscht und eine Stimme aus dem Himmel ruft. Ich verstehe nicht was sie schreit. Jedenfalls stehe ich nur Augenblicke später bis zu den Knien in einem Stahlträger. Ich denke zumindest dass es eine Art Stahlträger ist – immerhin bin ich kein Ingenieur. Neben dem Stahlträger liegen ein Croissant und ein verschütteter Becher Kaffee. Das erste was ich denke ist „Schade um das gute Frühstück“.
Ich nehme an, zu dem Zeitpunkt hätte ich schon tot sein sollen. Naja – war ich ja auch irgendwie. Mich ärgert es jedenfalls, dass keiner auch nur versucht etwas zu unternehmen. Erste Hilfe oder so. Alle stehen nur mit offenem Mund und stupidem Gesichtsausdruck herum, oder drehen sich schockiert weg. Eine junge Frau mit Brille macht sogar ein paar zögerliche Schritte nach vorne, als wolle sie mir helfen. Ihrem Gesichtsausdruck nach zu schließen, ist nichtmehr viel zu machen. Dann übergibt sie sich. Vielen Dank auch.
Mich deprimiert das Ganze ein wenig, vorallem wo der Tag doch so gut angefangen hat. Meine Stimmung sinkt rapide in den Keller was mein nun wohl ektoplasmischer Körper offenbar ebenfalls für eine gute Idee hält. Ganz klar, dass sich Psychosomatik in der posthumen Existenzebene weit gravierender und unmittelbarer auswirkt als noch im Leben. Zumindest auf meine Beine, deren Knie gerade im eigentlich recht massiv wirkenden Asphalt verschwinden.
Um nicht aktiv wahrnehmen zu müssen was da gerade mit mir passiert, konzentriere ich mich auf einige recht seltsame, auf mich einstürzende Gedanken. Ich frage mich zum Beispiel, ob denn meine eigentlich nur schwach ausgeprägte Klaustrophobie durchschlagen würde, während ich gerade zwischen den Atomen eines ansonst so stabilen Strassenbelags durchsickere?
Kurze Zeit später fühle ich, wie meine Füße wieder zusammenfließen. In dem Zusammenhang muss ich an Wasser denken, das aus porösem Stein perlt. Nachdem sich schließlich auch mein Kopf mit einem unhörbaren *plopp* aus der Decke löst, kann ich auch endlich erkennen wohin es mich verschlagen hat. Die Sichtverhältnisse in Asphalt sind nun einmal, gelinde gesagt, katastrophal.
Realisierend, dass ich offenbar in der örtlichen U-Bahn Haltestelle gelandet bin, falle ich auch schon in den Schoß einer recht attraktiven jungen Dame, die auf der Wartebank der U-Bahnstation sitzt und völlig in einem Buch versunken ist. ‚In den Schoß‘ ist hierbei wörtlich zu nehmen... sie wissen schon – ektoplasmische Sickergesetze und so.
Na jedenfalls hat meine ektoplasmische Gestalt kein Problem damit, sich das selbe Stück Raum mit einem weit griffigeren Körper zu teilen, und ich kann dadurch recht bequem mitlesen, in welchem Buch sie da so gebannt blättert. Zu meiner Überraschung handelt es sich offenbar um eine Geschichtssammlung Voltaires – das selbe Buch das ich in meinem Rucksack herumschleppe. Der liegt jetzt an anderer Stelle unter einem Stahlträger. Gleich neben mir.
Ab und zu hebt sie den Kopf und starrt gegen die Decke, so als würde sie darüber nachsinnen was sie da gerade liest. Selbst in meinem Zustand kann ich mich einer gewissen Sympathie ihr gegenüber nicht erwehren – zu selten stolpert man über eine solche Kombination aus Attraktivität und intellektuellem Interesse.
Während wir also gemeinsam, in trauter Zweisamkeit ineinander sitzend, auf der Bank verweilen und lesen, spüre ich den typischen Luftzug einer nahenden U-Bahn. Kurz darauf fährt selbige auch in die Station ein, um dann höflich ihre Türen zu öffnen. Das Ganze bekommt allerdings einen völlig absurden Beigeschmack, als ich realisiere dass die Leute am Bahnsteig keinesfalls bemüht sind, sich gegenseitig zu Tode zu quetschen um noch irgendwo einen viertel-Quadratmeter Stehplatz zu ergattern. In diesem Fall ist solcher Stress auch völlig unangebracht, da die U-Bahn gänzlich leer scheint. Nicht für Großstadtverhältnisse leer, nein – es befindet sich, soweit ich das beurteilen kann, einfach NIEMAND in den Waggons.
Neugierig stehe ich auf und wabbere auf diese perverse Abstraktion jeglichen Großstadtlebens zu. Im Näherkommen höre ich leise Musik aus den Waggons dringen. Ich kenne das Lied und beginne fast unbewusst mitzusummen „can you take my higher...“. Kaum allerdings mache ich einen Schritt über die Haltestellenkante in den Zug, da schliessen sich plötzlich hinter mir mit einem lauten Zischen die Türen und der Zug ruckt und nimmt Fahrt auf. Da ich sowieso in jeder Hinsicht weit neben mir stehe, kann ich mich genausogut auch setzen und dem harren, was nun kommt. Allerdings dauert das eine Weile.
Unwillkürlich muss ich an das hübsche Mächen auf der Bank denken. Verdammt – die werde ich wohl niemals wiedersehen. Ein dezentes *Pling* erklingt, und die Anzeigetafel schaltet zur nächsten Haltestelle. „Endstation – Bitte aussteigen“ heißt es da. Wasauchimmer; ich kann mir schon denken worauf das Ganze hinausläuft. Das soll wohl alles eine Art postmortaler Metapher einer Reise ins Licht sein. Allerdings hatte ich keine Ahnung dass Sterben sowas von seltsam sein kann. Insgeheim rechne ich damit, nur allzubald in einem Kinosaal zu landen wo man mir dann eine Fast Forward-Version meines bisherigen Lebens zeigt. Wenn schon sterben, dann auch richtig und mit allem was dazugehört.
Da die Fahrt scheinbar noch länger dauert, mache ich es mir bequem, während meine Gedanken irgendwo zwischen Stahlträgern und Kaffee; intellektuellen Schönheiten und Rockballaden; Voltaire`scher Philosophie und jenseitiger Physik dem geistigen Nirvana entgegentrudeln. Irgendwann bin ich dort scheinbar angekommen und schlafe ein.
Für das Einschlafen spricht jedenfalls, dass ich auch wieder aufwache. Wohlweislich am nächsten Morgen. Ein Blick auf den Kalender belehrt mich diesbezüglich eines besseren. Heute ist immer noch Gestern. Vielleicht war es auch in meinem gestrigen Traum schon heute? Wer weiß das schon. Zeit für Morgenhygiene!
Mit einer Hand in der Jacke, in der anderen den Schuhlöffel, versuche ich kurz darauf in meine Schuhe zu finden ohne dabei einen gröberen Verlust des Gleichgewichts zu provozieren. Seltsame Sache das Ganze. So plastisch und alles. Obwohl ich mich sonst nie an den Inhalt der nächtlichen Aufarbeitungsversuche meines Gehirn erinnere. Wirklich seltsam.
Geistige Notiz an mich selbst: Das s-Wort verwende ich viel zu häufig. Dafür sollte ich mal einige Synonyme nachschlagen. „Suspekt“ vielleicht. Mein innerer Monolog leidet unter der andauernden Wortwiederholung. Das grenzt schon an Missbrauch und lässt mich an meinem Wortschatz zweifeln.
Nachdem ich ein paar Minuten später in der Bäckerei um die Ecke mein Alltägliches Frühstück gekauft habe – ja genau, Croissant und Kaffee – verrät mir ein Blick auf die Uhr dass ich mich beeilen sollte, um meine U-Bahn nicht zu verpassen. Ein kurzer Blick aus dem Verkaufslokal in die Kälte und Nässe des jungen Tages lässt mich meine Frühstück kurz absetzen und ich fasse in meine Jackentasche, um meine todschicke schwarze Pudelhaube herrauszuziehen. Vergeblich. Die hab ich vor lauter mentalem Durcheinander wohl zuhause liegen lassen. Egal, muss mich beeilen.
Ich haste also über die Straße und entlang der Baustelle auf der die gerade den neuen Banken-Glasturm hochziehen. Plötzlich huscht ein schwarzer Schemen durch mein Blickfeld und eine Stimme aus dem Himmel ruft: „Achtung da unten!“. Geistesgegenwärtig bleibe ich stehen. Augenblicke später donnert direkt vor mir ein riesiger Stahlträger zu Boden. Der, dessen Schatten ich gerade eben noch wahrgenommen habe. Dabei macht es einen Rumms, dass es Zeus mit seinen Donnerkeilen die Schamesröte ins Gesicht getrieben hätte. Vor lauter Schreck lasse ich meinen Kaffee fallen.
Ich denke mal zu dem Zeitpunkt hätte ich schon tot sein können. Aber die Version der Geschichte kenn ich ja schon. Rundherum starren die Leute mit offenem Mund und entgeistertem Gesichtsausdruck abwechselnd mich und den Stahlträger an. Irgendwo in der Stille weint ein kleines Kind. Eine junge Frau mit Brille kommt auf mich zu um sich zu erkundigen ob es mir gut geht. Ich winke lässig ab und meine nur „Alles noch dran“. Dann entschuldige ich mich hastig und mit einem schiefen Lächeln, mit der Begründung sonst meine U-Bahn zu versäumen. Ich habe das Gefühl dass ich gerade heute unbedingt pünktlich auf der Haltestelle sein sollte. Mit einigen beschwichtigenden Gesten und sanfter Ellbogenarbeit lasse ich eine völlig verdatterte, und vom wortwörtlichen Donner gerührte, Menschentraube hinter mir und eile zur U-Bahn-Treppe.
Keuchend und nicht ohne eine gewisse Erwartungshaltung trete ich eine Minute später auf den U-Bahnsteig. Nach einem kurzen Blick in die Runde und einigen tiefen Atemzügen erspähe ich tatsächlich eine junge Frau mit Buch, die völlig vertieft auf einer Wartebank sitzt, um nur ab und an den Kopf in den Nacken zu lege um kurz zur Decke zu starren. Als würde sie darauf warten dass da plötzlich etwas durch die Decke kommen könnte. Bei dem Gedanken muss ich grinsen.
Darauf bedacht, sie nicht unnötig anzustarren, stelle ich mich, natürlich bewusst teilnahmslos, neben sie. Ich verdrücke in stoischer Würde mein Croissant und beobachte sie dabei völlig unauffällig aus den Augenwinkeln. Jedem sein kleiner Augenblick des Glücks *seufz*. Gerade als ich mir die Brösel von der Jacke gewischt und mich dazu durchgerungen habe, mich doch zu ihr zu setzen, spüre ich einen Luftzug und meine U-Bahn fährt ein. Innerlich fluchend bemerke ich allerdings, dass auch die hübsche junge Dame plötzlich Aktivität entwickelt und das Buch in den unendlichen Tiefen ihrer Handtasche verschwinden lässt, um gleich darauf den sich öffnenden Türen des Zuges entgegenzustöckeln. „Schwein muss man haben“, denke ich bei mir und kämpfe mich hinter ihr her in Richtung Waggon.
Nach dem Sammeln diverser Schweißproben Mitleidender und um einige blaue Flecken reicher, werde ich dann in den Zug geschoben und komme neben ihr an einer Haltestange zum stehen. Mama Fortuna ist mit mir. Das Radio dudelt einen Song von Creed den ich nur allzu gut kenne, und ich überlege fieberhaft wie ich mit der Frau meiner Träume - in zweierlei Hinsicht - ins Gespräch kommen könnte.
Sämtliche Ideen machen allerdings einen erdrutschartigen Abgang, als diese sich auf einmal zu mir umdreht, den Kopf schief legt und fragt „Entschuldigen sie, aber kennen wir uns? Sie kommen mir so bekannt vor...“. Zu sagen, ich war in diesem Augenblick überrumpelt, wäre eine eine massive Untertreibung gewesen. Bis zu diesem Moment dachte ich ausserdem, Männer hätten das Monopol auf derart ausgefallene Gesprächseinstiege. Nach einem - gefühlt - ewigen Moment, während diesem ich mit dem unglaublichen Hulk persönlich um meine Fassung ringe, platze ich mit dem verbalen Equivalent eines japanischen Kamikaze-Bombers herraus: „Nun äh... nicht direkt kennen.. nicht persönlich, nein, aber ich habe gestern erst von dir geträumt!“ Ich weiß, Klischee ist ein Hilfsausdruck. Bitte erschießt mich jemand?
Abschätziges Lachen aus der, uns umgebenden, Menge und eine Handvoll Leute drehen sich zu mir um und beäugen mich mit einer Mischung aus Fremdschämen und völlig Unglaubens, ob dessen was sie da gerade gehört haben. Nicht so mein weibliches Gegenüber. Während ich gerade angestrengt versuche wieder einmal im Boden zu versinken, zieht sie die Augenbrauen verwundert nach oben und meint dann mit süffisantem Grinsen „So so, worum ging es denn darin? Hoffentlich nichts Schmutziges...“ Empörtes Hüsteln und mehr Gelächter aus der, für mich nur noch halbrealen Traube aus Statisten.
Mein Gehirn hat anscheinend ohnehin auf Zuckerwatte-Modus geschaltet. Ich muss angesichts der völligen Abstrusität meiner Situation schmunzeln während ich gleichzeitig in vehementer Verneinung ihrer empörenden Anschuldigungen den Kopf schüttle. „Niemalsnienicht würde ich so etwas träumen!“ Mit nur leicht verzweifeltem Grinsen füge ich hinzu: „Es ging da vielmehr um göttliche Fügung... und Voltaire natürlich!“ Natürlich. Was auch sonst. Ein überraschter Ausdruck schleicht sich auf ihr hübsches Gesicht „Voltaire? Was für ein Zufall dass ich grade eben noch in einem seiner Bücher geblättert habe.“ Ihre blauen Augen taxieren mich „aber das weißt du natürlich nachdem du mich am Bahnsteig quasi mit den Augen ausgezogen hast“.
Ich fürchte, das Gespräch driftet gerade in eine äusserst unangenehme Richtung ab und während ich mich bereits nach möglichen Fluchtrouten umsehen, deutet mein weibliches Gegenüber meinen gehetzten Ausdruck offenbar richtig und wirft mir einen Rettungsring zu: „Vielleicht ist das alles aber auch nur ein amüsanter Zufall?“ Forschend fixiert sie mich und wartet offenbar darauf, dass ich die Sache entweder auflöse oder mich selbst argumentativ erhänge.
Mein Gehirn hat mir, in einem Moment intellektueller Erleuchtung den in dieser Form noch nicht an mir beobachtet habe, schon eine Antwort bereitgelegt: „Zufall ist doch ein Wort ohne Sinn; nichts kann ohne Ursache existieren“ zitiere ich den französischen Philosoph mit leicht näselnder Stimme und einem nervösen Augenzwinkern. Jetzt muss sie wirklich lachen. Gute Arbeit. Ich klopfe mir mental selbst auf die Schulter. „Da muss ich widersprechen“ meint sie und wischt sich eine Heiterkeitsträne aus dem Augenwinkel - „manche Dinge fallen einem tatsächlich einfach in den Schoß“.