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In den Schatten
In den Schatten
„Was denkst du?”
Cassandra sieht Hendrik fragend an, in ihrer rechten Hand einen Bügel mit mit einem langen dunkel blauen Kleid haltend. In der anderen hand hält sie eine schwarze Hose und einen roten Pullover
Hendrik zeigt ohne die Miene zu verziehen auf Hose und Pulli
„Das ist praktischer, schließlich werden wir möglicherweise laufen müssen.“
Cassy nickt leicht. „Ja da hast du wohl Recht!“ Sie verschwindet im Badezimmer
„Meinst du heute Abend ist es soweit?“, klingt ihre Stimme aus dem Bad. Hendrik zuckt die Schultern, obwohl sie das nicht sehen kann.
„Woher soll ich das wissen. Er hat nichts gesagt, nur das er uns treffen will. Kann sein, kann auch nicht sein. Bei Tim und seiner Frau war es letzte Woche soweit. Aber ehrlich, hast du gar keine Angst? Wer weiß was danach passiert. Also ich habe Angst.“ Cassandra taucht wieder auf.
„Ich doch auch, aber... besser es passiert jetzt als wenn wir alt sind. Jetzt haben wir wenigstens eine Chance, wir könnten es wirklich schaffen. Und dann wird sich alles verändern, wir...Jonathan... unsere Umwelt... uns erwartet dann etwas komplett Neues.“
„Wenn wir es schaffen. Es gibt sehr viele die es nicht geschafft haben...“
„Ach! Daran darfst du nicht denken!“ Mit einer Handbewegung wedelt sie seinen Einwand weg, wie eine lästige Fliege. Vorsichtig fädelt sie die Ohrringe ein, die Hendrik ihr zum letzten Geburtstag geschenkt hatte. Zufrieden betrachtete sie sich im Spiegel. So lange hatte sie darauf gewartet und heute könnte es endlich soweit sein.
„Ich bin in meinem Bekanntenkreis die Einzige die es noch nicht erlebt hat. Die Einzige, stell dir das vor. Und erzählen darf ja keiner was. Aber ich fühle es, zwischen ihnen besteht eine Verbindung, eine zu der ich nicht gehöre.“
„Noch nicht!“, fügt sie lächelnd hinzu, während sie ihre Lippen mit einem zart roten Lippenstift nachfährt. „So ich bin fertig, nur noch die Tasche und es kann los gehen.“
Hendrik sieht seine Frau prüfend an. „Ich hoffe du hast flache Schuhe, wir müssen das ganze ja nicht schwerer machen, als es ist. Ich will nicht, dass wir es nicht schaffen weil du mit den Stöckelschuhen umgeknickt bist.“
Cassy wirft ihm einen wütenden Blick zu. Trotz 7 Jahre Ehe hasst sie diese besserwisserische Masche noch immer an ihm. Sie schluckt und versucht sich zu beruhigen. Streit bringt jetzt nichts und wird später nur zu unnötigen und wohl auch gefährlichen Komplikationen führen.
„Keine Sorge, ich habe flache genommen!“ beruhigt sie ihn. Dann verlassen sie die Wohnung. Unten vor der Wohnungstür bleibt Hendrik stehen und sieht nach oben zu den dunklen Fenstern ihrer Wohnung. „Was ist?“ Hendrik lächelt.
„Nichts.. na ja.. irgendwie habe ich das Gefühl, dass wir unsere Wohnung nicht wiedersehen werden, ich werde Jonathan sehr vermissen. Er wird es nicht verstehen, er ist doch noch so klein.“
Cassys Blick wird traurig. „Ja... aber wir haben keine Wahl, wenn wir wollen das er lebt. So sind die Regeln. Wir müssen es tun und können nur hoffen, dass wir es schaffen. Samantha wird auf ihn aufpassen und für ihn sorgen, falls es schief geht und irgendwann wird er es verstehen und dankbar sein.“
Hendrik nickt und sah seine Frau an. Sie ist noch so schön, wie an dem Tag, als sie sich trafen. Langsam gehen sie aufeinander zu und umarmen sich. Zärtlich wischt er ihr die Tränen vom Gesicht. „Manchmal habe ich das Gefühl, das es falsch ist. Du nicht?“
„Doch, aber... wir müssen einfach unser Bestes geben. Denk nicht dran ,was passiert wenn wir verlieren. Denk an den Sieg, denk an Jonathan. Wir tun das für ihn. Jetzt komm, ich will Bach nicht warten lassen.“ Cassy nickt und läuft, ihre Hand umklammert seine, neben ihm zum Auto.
Die Straßen sind komplett leer. „Ich schätze wir sind heute wirklich dran... sonst ist keiner da.“
Sie kommen in dem Restaurant an, ein einzelner Kellner bringt sie zu dem Tisch an dem Bach sitzt, ansonsten ist das Restaurant völlig leer.
„Ah da seid ihr ja! Cassandra Sie sehen bezaubernd aus heute Abend. Lasen Sie uns erst etwas essen. Kommen Sie Hendrik setzen Sie sich. Wir haben keine Eile.“
Die beiden nickten und setzten sich. Das Essen kommt und sie würgen es mehr oder weniger herunter, nur um Bach einen Gefallen zu tun. Dann erhebt er sich. In seinem Blick liegt ein unbestimmter Kummer.
„Es tut mir Leid, aber wir müssen jetzt anfangen.“
Hendrik und Cassy ergreifen sich an den Händen und stehen auf. Bach führt sie zu einer Tür. Hendrik sieht ihn an.
„Eine Frage, Bach. Haben Sie nie das Gefühl, dass diese Regel falsch ist, dass sie grausam ist?“
Der Blick des Älteren wird jetzt wirklich traurig, richtig gequält.
„Jedes mal Hendrik. Jedes Mal wenn ich das hier mache! Jetzt gehen Sie!“
Mit einem Schlüssel öffnet er die Tür und lässt die beiden durch. Kurz bevor er sie schließt schaut er Hendrik direkt in die Augen.
„Viel Glück!“
Dann ist die Tür zu, Hendrik und Cassy stehen auf einer leeren Straße. Beide wissen, dass sie nicht leer ist. Sie sind dort, irgendwo auf dieser endlosen Straße halten sie sich versteckt.
Ein paar Schritte vor ihnen leuchtet etwas Weißes in der Dunkelheit. Unsicher laufen sie darauf zu. Cassy schreit leise auf. Zwei Skelette liegen auf der Straße. Die Arme weit von sich gestreckt, ebenso wie die Beine. Hendrik schluckt und versucht die Trauer und die Angst zu unterdrücken. Langsam geht er in die Hocke und hebt eine Kette auf.
„Tim...“ Cassy legt die Arme um ihren Mann.
„Er hat es nicht geschafft... Das ist die Kette von Liz.. da siehst du, da ist das Bild von ihnen beiden...“
„Komm jetzt Schatz... wir werden es schaffen, auch für die beiden.“
Hendrik erhebt sich und sie setzen ihren Weg fort. Plötzlich hören sie Geräusche in der Dunkelheit um sich herum. Angstvoll presst Cassy sich an ihn.
„Ganz ruhig, wir laufen einfach weiter. Hörst du? Wir laufen weiter. Wir werden es ihnen nicht leicht machen.“
Ein seltsames Schmatzen erklingt, dann ein Röcheln und plötzlich landet etwas vor ihnen auf der Straße. Es ist ein großes Büschel blonder Haare mit Blut verklebt.
Cassy presst ihre Hand vor den Mund, ihr ist übel.
„Ich .. ich kann da nicht vorbei... ich kann einfach nicht.“
Hendrik packt sie.
„Doch du kannst! Wir müssen einfach gewinnen. Für Jonathan, für Tim und für Liz! Schau einfach gerade aus und wenn ich es dir sage, machst du einen großen Schritt. Komm schon Cassy.“
Obwohl es in ihrem Magen rumort, nickt sie. Ihr Blick richtet sich starr gerade aus. Schritt für Schritt gehen sie weiter.
„Okay.. jetzt mach einen großen Schritt.“
Cassy tut es und dann haben sie es geschafft. Beide erhöhen ihr Tempo ein wenig. Nach weiteren Hundert Metern hören sie ein Geräusch hinter sich. Ein leises „Plitsch ... Plitsch ... Plitsch ...“
Kaltes Grausen ergreift beide, als ein Geruch ihre Nase erreichte, der nach Tod und Verwesung stinkt. Sie sind aufgewacht. Hendrik wird es schlagartig bewusst: viel zu früh. Sie waren zu früh aufgewacht, um es bis ans Ziel zu schaffen. Es war unmöglich. Sie können den Weg bis zum Ziel unmöglich rennend zurück legen, dazu ist er zu lang.
Der Gestand wird stärker und sie nehmen jetzt einen röchelnden Atem hinter ihrem Rücken wahr. Cassy zittert am ganzen Leib. Tränen laufen Hendriks Wangen hinunter. Sie haben verloren, sie werden Jonathan niemals wiedersehen.
„Cassy?“
„Ja?“
„Renn!“ schreit er und gleichzeitig rennen beide los. Für kurze Zeit können sie wieder atmen, doch dann scheint der Geruch von allen Seiten zu kommen. Sie rennen weiter, die Straße zieht sich endlos vor ihnen hin. Plötzlich taucht vor ihnen ein Hindernis auf dem Boden auf. Cassy kann nicht ausweichen und stolpert. Sie blickt nach unten und kreischt panisch auf. Ein Arm, die Haut ist entfernt und die Muskeln sind halb verfault. Hendrik packt sie und zieht sie weiter. Tränen laufen ihre Gesichter hinunter und mit jedem Schritt wird Hendrik klarer, dass es vorbei ist. Er sieht im Laufen zu Cassandra und sie wendet den Kopf und blickt zu ihm. Er sieht ein Begreifen in ihren Augen. „Wir.. wir werden es nicht schaffen, nicht wahr?“
Hendrik nickt, er kann einfach nicht antworten, kann kein Wort sagen.
Ihre Schritte werden langsamer. „Es... tut mir Leid. Sie sind zu früh aufgewacht wir hätten noch einen ganzen Kilometer Ruhe haben müssen. Lass uns kurz ausruhen, ich höre sie im Moment nicht.“
Sie bleiben stehen, direkt im Lichtkegel einer der spärlichen Straßenlaternen. Außerhalb dessen ist alles von der Dunkelheit verschluckt.
„Warum.. warum hast du damals zugestimmt, als ich ein Baby haben wollte? Du wusstest was das heißt!“
Cassy starrt auf den Boden, dann sieht sie ihm direkt in die Augen.
„Weil ich dich liebe. Ich wollte etwas, dass einen Teil von uns weiter trägt. Ich habe damals nicht einen Augenblick gezögert, auch nicht als der Arzt diese Andeutungen machte. Ich wollte ein Baby. Außerdem habe ich irgendwie gehofft, dass wir vielleicht davon kommen. In dieser Nacht wurden so viele Kinder geboren und ich dachte, dass es uns nicht trifft. Aber selbst wenn ich gewusst hätte, dass wir dran sein werden, hätte ich es mir nicht anders überlegt. Ich bereue es auch jetzt nicht. Versprich mir etwas, Hendrik.“
„Was?“ Seine Stimme glich nur noch einem Flüstern.
„Lass es uns ihnen schwer machen. Wir werden durchhalten bis zur letzten Sekunde. Und.. bitte lass mich nicht allein.“
Hendrik umarmt sie heftig. „Ich verspreche es dir! Jetzt lass uns weiter laufen.“
Langsam gehen sie weiter, als sie von einer nach Verwesung und Fäulnis riechenden Wolke eingehüllt werden. Sie beginnen zu rennen. Immer weiter. Fast eine Stunde rennen sie, ohne das der Gestank abnimmt. Cassy kann nicht mehr und doch läuft sie weiter. Die pure Todesangst verleiht ihr die Kraft dazu. Dann hören sie es wieder hinter sich: „Plitsch ... Plitsch ... Plitsch ...“ Sie haben lange durchgehalten, lange scheint es keiner mehr so weit geschafft zu haben, denn es liegen keine Skelette oder andere menschlichen Überreste mehr auf der Straße. Und doch... das Ziel ist noch zu weit weg. Cassy ist nahe daran zusammen zu brechen. Dann ist die letzte Kraftreserve aufgebraucht. Cassys Knie geben einfach nach und sie fällt auf den Boden. Hendrik stürzt zu ihr und kniet neben ihr nieder. Sie ist so erschöpft das sie nicht einmal mehr weinen kann. Ihr Atem geht rasselnd. „Ich... kann.. nicht mehr... es geht ... nicht mehr.“ Hendrik legt seine Arme um sie.
„Ist okay, wir haben es ihnen verdammt schwer gemacht.“ Er hebt den Kopf und schaut zurück, außerhalb eines Lichtskegels der Laterne bewegt sich etwas. Dann tritt das Etwas in das Licht. Hendrik zieht Cassy Kopf an seine Brust, ihm stockt fast das Blut in den Adern vor Entsetzen. Der Anblick eines von Ihnen übersteigt die menschliche Vernunft. Der Gestank hüllt sie ein, als sie sich von alles Seiten nähern. Hendrik fühlt ein entsetzliches Ziehen an seinem Bein, als eines von ihnen seine Haut packt und sie beginnt abzuziehen. Cassy schreit neben ihm auf und endet dann abrupt. Erleichtert stellt er fest, dass sie tot ist und somit die unvorstellbaren Schmerzen nicht erleben muss. Er fühlt das Ziehen und plötzlich einen unbarmherzigen Ruck ,als ihm ein Bein heraus gerissen wird. Dann übersteigen die Schmerzen seine Sinne und der Tod holt ihn ein. Dankbar schließt Hendrik seine Augen. Die toten Körper werden in die Dunkelheit geschleppt, wieder hört man jenes leise
„Plitsch ... Plitsch ... Plitsch ...“als sich Eines von ihnen als letztes in die Dunkelheit zurück zieht. Kurz bevor es völlig verschwindet ertönt ein leises und durch und durch böses Lachen. Es wendet seinen rot glühenden Blick zurück zum Anfang der Straße, von wo sie alle hergekommen waren.
„Dummes Menschenpack!“ zischelt ein Stimme.
Ende