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In Demut vor dem König
Gustav zog schnaufend an seiner Pfeife, blickte kurz auf den sich kräuselnden blauen Dampf, der vom Kopf seines Rauchgeräts nach oben stieg, und ließ dann den Blick seiner blauen Augen wieder Richtung Westen schweifen, dorthin, wo die dunkelrote Sonnenscheibe über die Deichkrone ins Meer abtauchen wollte, um sich vom müheseligen Ritt über den Himmel für eine Nacht zu erholen.
„Tja... tja...“ murmelte Gustav gelegentlich, dabei das Mundstück seiner Pfeife zwischen den Zähnen festhaltend.
Dies war sein Anteil an der Unterhaltung, die sehr einseitig von Hermann-Josef geführt wurde, Beamter im Finanzamt, derzeit Urlaubsgast auf Gustavs Anwesen. „Ferien auf dem Bauernhof“ verkündete das hölzerne Schild an der Chaussee, die parallel zum Deich verlief.
Sicher, eine Handvoll Kleingeld für die beiden Kammern oben unterm Dach waren nicht zu verachten, aber Gustav empfand es in diesem Fall als Schmerzensgeld für das Erdulden einer solchen Nervensäge, während aus dem rheinischen Mundwerk Hermann-Josefs ein nicht endendwollender Wortschwall hervor sprudelte.
Es waren wieder einige Minuten vergangen, so dass Gustav automatisch ein „Tja... tja...“ hören ließ.
„Habe ich es denn nun richtig beobachtet?“ bedrängte Hermann-Josef den Einheimischen.
Mühsam versuchte Gustav zu rekapitulieren, was ihm in der letzten halben Stunde zum einen Ohr hinein und direkt auf der anderen Seite wieder hinaus gerauscht war.
Vorsichtshalber entließ er noch einmal ein „tja... tja...“ zwischen den zusammen gekniffenen Zähnen.
Mit dem berufsmisstrauischen Blick des staatlichen Büttels betrachtete der Rheinländer Gustav von der Seite, bevor er seine Frage wiederholte.
„Mir ist aufgefallen, dass alle Höfe die gleiche Architektur aufweisen: Tief heruntergezogene Strohdächer, kleine Fenster und niedrige Türen, die stets Richtung Osten ins Freie führen. Der Wind der nahen Nordsee kommt doch überwiegend von der Westseite. Ich nehme an, dass die Bewohner so die kostbare Wärme länger im Haus halten konnten, die sie mühsam aus Torf und dem knappen Holz gewonnen haben. Ist das typisch für Dithmarschen?“
Gustav nickte, sog noch ein Mal an seiner Pfeife, bis er sich zu einer für einen Bewohner des Koogs außergewöhnlich langen Erklärung bemühte.
„Jeder weiß, dass die Hamburger vor vielen hundert Jahren Fürstbischof und Graf aus der Stadt gejagt haben und seit dem eine Freie und Hansestadt sind. Den Bewohnern dieser Küstenregion fehlte aber der große Biograph, obwohl es ihnen nicht an Klugheit und Tatendrang fehlte. Um ihre Aufsässigkeit zu zähmen, hatte der dänische König ein Heer aufgeboten und dieses gegen Dithmarschen ziehen lassen.
Wer kann schon einem königlichen Kriegsherrn trotzen? So wurden die Soldaten seiner Majestät von den Dithmarschern in ein Koog gelockt, dann öffneten wackeren Bauern die Schleusen und es erwies sich als Nachteil, dass die überwiegende Anzahl der Soldaten und Söldner Nichtschwimmer waren.
Danach bildeten die Bauern je Kirchspiel Räte, die ihre Abgesandten zum Hohen Rat nach Meldorf schickten und auf diese Weise die Dithmarscher Bauernrepublik bildeten.
Doch nach etwas dreißig Jahren hatte der König im fernen Kopenhagen ein neues Heer gebildet, dem auch eine Grundausbildung in Marinekriegsführung zuteil geworden war und in der Schlacht bei Hemmingstedt erwiesen sich Waffen und Kriegskunst der Dänen den Spaten und Heugabeln der Ditmarscher Bauerngarde als überlegen.
Wechselweise sollten fortan die Grafen von Holstein oder die Schleswiger Herzöge aus dem Hause Gottorp, wenn diese nicht gerade als König von Schweden mit anderen Aufgaben beschäftigt waren, den Dithmarschern Mores lehren.
Der König im fernen Kopenhagen, das von Dithmarschen gesehen im Osten liegt, erließ die Verfügung, dass alle Häuser dieses Landstriches künftig so zu bauen seien, dass die Türen nur noch gen Osten zeigen durften. Es war bei Strafe verboten, auf der westlichen Hausseite Pforten zu errichten.
Ferner, so lautete die königliche Order, müssten die Türen so niedrig gebaut werden, dass niemand, schon gar nicht die hochgewachsenen Einheimischen, sie aufrechten Hauptes durchschreiten könnten.
Mithin war seit diesem Erlass jeder Dithmarscher gezwungen, sich notgedrungen beim morgendlichen Verlassen seines Hauses gen Osten, also in Richtung seines ungeliebten Königs zu verneigen.
Gegen diese Verfügung der Obrigkeit konnte sich selbst ein Dithmarscher Bauer nicht zur Wehr setzen.
Aber niemand, auch nicht Majestät, konnte ihn daran hindern, des Morgens sein Haus rückwärts zu verlassen und dabei die Hose herab zu ziehen. So wurde der König wunschgemäß jeden Morgen mit einem besonders „strahlendem Lächeln“ begrüßt.
Tja... tja...!“