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Impressionen eines zynischen Schülers
Es war ein schöner Morgen. Es regnete in Strömen, die Bäume hatten all ihre Blätter verloren und auf der Straße herrschte buntes Treiben, der erste Unfall hatte sich schon ereignet. Doch einem Menschen gefiel der Tagesbeginn ganz und gar nicht: Mir.
Wie jeden Morgen trampelte meine Mutter um 6:30 Uhr in mein Zimmer, schaltete das Licht ein und fing an mich anzuschreien, mit den netten Worten: "Du dummes Arschloch, jetzt steh endlich auf!" - dabei hatte ich noch jede Menge Zeit. Wenn ich um 7:00 Uhr aufstehen würde, wäre das mehr als genug Zeit. Ich könnte mich anziehen, während ich ins Bad humpele um dann meine Zähne zu putzen und meine Blase zu entleeren. Dann die Kippe zum Wachwerden, Musik anmachen, Ranzen packen und einen Kaffee trinken. Noch Gel in die Haare geklatscht und mein Morgen wäre, nicht toll, aber zumindest erträglich.
Es gibt wirklich nichts, was ich mehr hasse, als aufzustehen. Ich meine - ich schlafe auch nicht gern. Das bezieht sich aber darauf, dass ich nachts aktiver bin; ich liebe die Nacht. Stille, keine untollen Menschen die mich nerven, Internet, Koffein-Exzesse und natürlich purer Sex.
Aber wenn ich erst einmal schlafe, will ich nicht mehr aufhören. Manchmal ist Schlaf so beunruhigend wohltuend, dass ich schon beim bloßen Gedanken daran erschaudere. Doch egal, das tut jetzt nichts zur Sache.
Alledem ist jedenfalls nicht so.
Meine Mutter weckt mich wie gesagt um 6:30 zum ersten Mal. Dreist wie sie ist, lässt sie natürlich auch noch das Licht brennen, was mich dazu veranlasst, protestierend liegen zu bleiben, nur um ihr schon morgens an den Nerven zu zehren. Alle fünf Minuten folgt dann ein ähnlicher Auftritt, bis ich endlich um 7:00 Uhr aufstehe, eine mörderische Migräne habe, an Übelkeit leide und all die beschriebenen Dinge tue. All das ist in zwanzig Minuten erledigt, ich verlasse endlich das Haus, trotte zur Bushaltestelle, und rauche auch schon meine dritte Zigarette für den Tag. Und das nach weniger als 30 Minuten wach sein. An der Bushaltestelle tummeln sich allerlei lustige Kleinkinder, denen ich jeden Morgen fröhlich in den Arsch oder ins Gesicht treten könnte; dieser allmorgendliche Infantilismus auf Beinen ist zum Kotzen. Tja, 1:0 für diese furchtbare Gesellschaft, sie haben es zum ersten Mal an diesem Tag geschafft, meine ethnozentrische Ader zu wecken. Wie gerne würde ich diese Bälger der Reihe nach totschlagen, doch meine Migräne lässt das nicht zu.
Also steige ich klitschnass in den Bus, höre noch einmal die Sirenen in die andere Richtung eilen und bei dem Gedanken, dass andere Menschen physischen Schmerz leiden, ging es mir schon ein wenig besser. Ich weiß natürlich, dass Sadismus gaaaanz schlimm ist und so, aber - eigentlich ist es mir morgens völlig egal. Die Welt könnte untergehen, es wäre mir an einem solchen Morgen so gleich, wie die Tatsache, dass ein umgefallener Sack Reis in China das Abkommen der Ameisen erschlagen hat. Morgens bin ich generell nihilistisch, sadistisch, zynisch, sarkastisch und vor allem extrem gereizt. Jedenfalls reibe ich mir ständig die Schläfen, der Schmerz wird mit jedem übertriebenen Kinderlachen schlimmer und meine Fäuste schreien geradezu nach Gewalttaten. Mein Sitznachbar ist wenigstens so gnädig und lässt mir meine Ruhe. Nach einer ganz und gar nicht humanen Busfahrt komme ich an der Zielhaltestelle an. Ich entsteige dem Bus, greife in meine Jackentasche und schon zünde ich mir die nächste Zigarette an. Meine Hände haben mittlerweile vor Zorn angefangen zu Zittern; meine Ethnozentrik befindet sich am Siedepunkt. Meine Kopfschmerzen schreien nach der vierten Gelonida und meine Laune verschlechtert sich mit jedem Schritt, den ich auf meine Schule zutue. Dieses verhasste Gymnasium. Ich bin nach fünf Jahren schon unangefochtener Verweis-Sammler-König, die Lehrer provozieren mich wo sie können, der Unterricht ist der größte Hirnfick. Egal, ich werde gezwungen weiter dieses Haus zu »besuchen«.
Ich komme am Schultor an und meine fünfte Zigarette landet provokativ im Garten des Hausmeisters, vor den Augen meines Ex-Physiklehrers. Ich gehe auf den Vertretungsplan zu, hoffe auf einige Todesfälle und werde natürlich bitter enttäuscht. Meine Klasse fragt mich nach meinem Wochenende, und sind immerwieder erstaunt, dass ich so lakonisch antworte. Mein Kunstlehrer - dem ich immer wieder vergeblich zu erklären versuche, dass man kein Künstler ist, wenn man Kunst sammelt - sperrt den Werkraum auf und ich hänge meine Jacke auf. Gleichmütig trotte ich in den Saal, hohle mir meinen Bimsstein und entlade meine Wut an ihm.
Wieder Infantilismus, soweit das Auge reicht. Nach 45 endlosen Minuten, Migräne³ und fast vor der persönlichen Apokalypse, gehe ich ins Sekreteriat und befreie mich vom Unterricht. Schritt um Schritt - mit jedem steigen meine Schmerzen - begebe ich mich zum Bahnhof, lese Böll und warte auf den Zug Richtung weg. Nach einigen Kapiteln mehr, etwas Beruhigung und auch sieben Zigaretten plus auf meinem Konto kommt der Zug. Eine grausame Szene: Dreißig Menschen stürmen auf die Türen zu, als ginge die Welt unter, noch mehr stürmen heraus. Unter Geschrei, Getrampel, Handgemenge und totaler Stumpfsinn und Primitivitäten de luxe steige ich zu, ignoriere gekonnt den Schaffner, schnappe eine Zeitung auf und schließe mich im einzigsten ruhigen Raum ein: der Toilette.
So könnte es weitergehen. Abgeschottet vom Rest der total debilen Restbevölkerung, diesen hoffnungslosen Optimisten, diesen Träumern. Einfach Stille, das neueste Leid der Welt, Böll, Hesse, Mann und Kant im Gepäck und auf ewig Richtung weg. Nur weg. Weg von dieser Gesellschaft; weg von diesem Land. Weg. Richtung Nirgendwo. Oder an einen Ort, an dem Gleichdenkende auf mich warten. Und ein netter Haufen der restlichen Hirnficker. Für unser Amusement: Todeskämpfe, Duelle, Gladiatorenkämpfe, Experimente. Für alles könnten sie herhalten. Auge um Auge, Zahn um Zahn. So wäre es in Ordnung. Doch Realist wie ich einer bin, weiß ich, dass dieses Utopia eben Utopia ist und bleibt.
Eine viertelstunde später entsteige ich dem Zug und begebe mich auf den vier Kilometer langen Heimweg - Migräne, hol doch nen Schlagbohrer, dann kommst du leichter durch meine Schädeldecke.
Ich brauche für diesen recht kurzen Weg über zwei Stunden, in denen ich vor Schmerz erbreche, meine restlichen Zigaretten - des am morgen noch gefüllten Päckchens - rauche und mir eine nette Flasche Kleiner Feigling™ gönne. Ich komme zu Hause an, gehe gleich in meine Wohnung und lege mich ins Bett. Mit Biohazard schwindet meine Migräne allmählich dahin, die fünfte Gelonida landet in meinem hysterischen Magen und meine Klamotten auf dem total verdreckten Boden. Die Bilder vor meinen Augen verschwimmen, langsam rotiert meine Gedankenwelt in den ersehnten Schlaf und diese Vergewaltigung hat ein Ende. Bis zum nächsten Montag, dem nächsten Tag; dem nächsten Erwachen.