Immer weiter
Weiter. Immer weiter. Nicht stehenbleiben.
Wie ein Mantra wiederholte ich diese Worte vor mich hin. Meine Beine schmerzten so sehr, dass ich mich immer wieder fragte warum ich das eigentlich tat und nicht einfach aufgab, aber ich konnte nicht verlieren. Immer wieder blickte ich mich um, um zu sehen ob sie mich eingeholt hatten, aber ich war ihnen meilenweit voraus. Ha! Dieses Mal holt ihr mich nicht ein, ich hatte dieses Rennen schon zu oft verloren, aber nicht dieses Mal. Ich quälte mich weiter vorwärts.
Weiter. Immer weiter. Nicht stehenbleiben. Einfach geradeaus.
Ich hörte wie mein Name gerufen wurde, aber das interessierte mich nicht. Auf der einen Seite rein, auf der anderen wieder raus. Mein Kampfgeist war geweckt. Ich würde keine weitere Niederlage verkraften. Die mitleidigen Blicke der anderen. Die „Ich-wusste-du-schaffst-es-nicht-Blicke“ der Erwachsenen. Ich war kein Verlierer. Zumindest früher nicht. Ich hatte es immer geschafft zu gewinnen, mich zum äußersten zu treiben. Aber seit… Nein jetzt nicht daran denken.
Weiter. Immer weiter. Nicht stehenbleiben. Einfach geradeaus. Nicht denken, nur laufen.
Ich wusste ich konnte es schaffen, dieses Mal. Ich weiß nicht wieso, ich hatte es einfach im Gefühl. Ich war optimistisch. Obwohl, das war ich auch die letzten fünf Male gewesen, und was hatte es mir gebracht? Nichts. Versager. Nein das half jetzt auch nicht weiter. Einfach neutral bleiben, den Tag nicht vor dem Abend loben, aber auch nicht das größte Übel zusammenfantasieren. Wird schon schiefgehen. Ist ja nicht so, als ob alles von heute abhing. Oder, dass dies meine letzte Chance war. Mein Ticket weg von hier. Ok, nicht wieder zu viele Gedanken machen. Sarkasmus lässt dich auch nicht schneller laufen.
Weiter. Immer weiter. Nicht stehenbleiben. Einfach geradeaus. Nicht denken, nur laufen. Neutral bleiben.
Ich blickte mich wieder um. Er holte langsam auf. War ich langsamer geworden? Reiß dich am Riemen, Siobhan! Ein Bein vor das andere und das einfach immer schneller. Ist doch eigentlich nicht so schwer. Ich sammelte all meine verbliebene Kraft und erhöhte meine Geschwindigkeit. Er durfte mich nicht einholen, nicht überholen, nicht erreichen. Wenn ich nicht vor ihm da war, dann müsste ich wieder zurück. Ich wollte nicht zurück. Mich nicht wie ein Verlierer fühlen. „Find dich damit ab Siobhan“ würden die anderen sagen. „Du bist einfach nicht schnell genug. Warum versuchst du es immer wieder, wenn du sowieso immer gefangen wirst?“ Gefangen. Ja, das war das richtige Wort. So fühlte ich mich dort. Es war kein Zuhause. Es war ein Gefängnis. Egal was der Staat behauptete. Warum sonst brachten sich so viele Kinder dort jährlich um? Warum lief ich jetzt schon zum sechsten Mal weg? Es war grauenvoll und jeder wusste es. Die anderen Kinder wussten es, die „Eltern“ wussten es und die Erzieher erst recht. Es würde mir immer ein Rätsel bleiben, warum Menschen Erzieher im Heim wurden, wenn sie Kinder zu hassen schienen. Kinder. War das überhaupt der richtige Begriff? Kinder sind unbeschwert. Glücklich. Geliebt. Nein wir waren keine Kinder mehr. Seit dem Tag an dem wir ins Jugendheim gesteckt worden waren. Wir waren „Problemfälle“. „Schwierige Jugendliche“. Ja seht ihr mal eure Mutter mit aufgeschnittenen Pulsadern in der Wanne liegen. Da hättet ihr auch Probleme. Seht ihr mal wie weit ihr kommt, wenn ihr mit 14 vor die Tür gesetzt werdet und euch alleine durchkämpfen müsst. Letzteres war mein Fall. Liebende Familie, möchte ihrem Kind von Anfang an Unabhängigkeit beibringen. Pah! Liebend. Familie. Unabhängigkeit. Wohl eher. Desinteressierte Erzeuger, die selbst ihr Leben nicht auf die Reihe bekamen. Wut kam in mir auf. Wut ist gut. Sie treibt dich an.
Weiter. Immer weiter. Nicht stehenbleiben. Bald bist du da.
Diesmal hatte ich die Flucht besser geplant. Hatte mich gut verhalten, keinen Ärger gemacht und heimlich Sport gemacht, trainiert bis zum äußersten. Meine Ausdauer hatte sich verbessert. Beim ersten Mal war ich nach hundert Metern beinahe kollabiert. Aber ich hatte es weiter versucht. Immer weiter bis ich die 100 Meter schaffte, dann 150 und so weiter. Ich hatte keine Ahnung wie weit ich jetzt schon gelaufen war. Das Heim lag weit hinter mir. Jonas schien langsam die Luft auszugehen. Ich sah ihn immer wieder die Hände auf die Knie stützen, schwer atmen und wieder loslaufen. Er hatte mich unterschätzt. Er hätte jemand mitnehmen sollen oder mit dem Auto fahren sollen, dann hätte er mich vielleicht eingeholt. Aber jetzt. Jetzt war es zu spät für ihn. Ich sah das gelbe Schild, das den Anfang der Stadt anzeigte. Nur noch 200 Meter, dann bist du in der Stadt. Dann noch weiter bis du im Zentrum bist. Da wird er dich nicht mehr finden können. Derjenige der das Heim eingerichtet hatte, war nicht dumm gewesen. Abseits von allem, nicht in der Stadt. Wer versuchte wegzulaufen, hatte einen weiten Weg durchs nirgendwo vor sich, bis er die Stadt erreichte. Aber ich. Ich war dabei es zu schaffen. Noch 150 Meter. Ich spürte meine Beine versagen. Jetzt nicht aufgeben!
Weiter. Immer weiter. Nicht stehenbleiben. Gleich hast du es geschafft.
Meine Lunge brannte und als ein salziger Tropfen meine Lippen berührte merkte ich, dass ich wohl weinte. Nicht schlappmachen! Eine Diskussion entbrannte in meinem Kopf. Warum willst du überhaupt weg? Du hast dort ein Dach über dem Kopf, bekommst Essen. Wie willst du es alleine schaffen? Wo willst du überhaupt hin? Komm bleib stehen dreh um. Es hat keinen Zweck. Nein! Ich will nicht zurück! Die Leute sind grausam. Ein Fehltritt und du bekommst einen Tag lang nichts zu essen. Das ist doch kein Heim mehr. Nicht mal mehr eine Erziehungsanstalt. Das ist ein Boot Camp! Und zwar eins der übelsten Sorte. Ich bin nicht mal sicher ob das legal ist. Obwohl wen interessieren schon ein paar Ausreißer und Waisenkinder? Ich hab es fast geschafft. Ich werde nicht aufgeben! Noch 100 Meter, das ist nichts! Ein Klacks. Ach ja? Und warum kannst du dann kaum atmen? Ich schob die Stimmen beiseite. Nicht zu viel denken. Einfach laufen. Meine Muskeln schmerzten bei jedem Schritt und ich wollte nur noch liegen. Liegen und weinen. Stehenbleiben. Nein nicht stehenbleiben sonst kannst du nicht mehr weiter. Ich stolperte. Verdammt! Ich landete auf dem harten Asphalt. Schnell steh auf, lauf weiter, er holt dich ein! Ich rappelte mich auf und blickte auf meine Handflächen. Aufgeschürft. Meine Knie. Ebenfalls. Egal es sind nur noch ein paar Meter. Mit einem lauten Schrei, lief ich los. Ich begann nichts mehr zu spüren. Alles rauschte an mir vorbei und ich merkte nicht einmal, wie ich die Ortslinie überquerte. Gleich war ich im Zentrum. Ich atmete auf. Nein noch nicht!
Weiter. Immer weiter. Nicht stehenbleiben. Nichts kann dich aufhalten.
Ich lief durch die Straßen. Bog in jede kleine Gasse ab. Zick. Zack. Rechts. Links. Ich blickte mich um, ich hatte ihn abgehängt. Frei. Endlich frei. Ich sah Geschäfte und eine Menschenmasse und mischte mich unter sie. Da! Eine Bushaltestelle.
Weiter. Immer weiter. Nicht stehenbleiben. Du hast es gleich.
Ich sah den Bus von links kommen und sammelte alle Kraft, die ich noch finden konnte. Schneller! In der letzten Sekunde sprang ich zwischen, die sich schließenden Türen und kramte etwas Kleingeld aus meiner Hosentasche um mir eine Karte zu kaufen. Geschafft. Frei. Endlich frei. Ich setzte mich auf einen der Sitze und die Müdigkeit übermannte mich. Ich warf einen letzten Blick zurück und sah Jonas sich umblicken. Zu spät. Versager. Ich lehnte meinen Kopf gegen die kühle Scheibe und bevor ich mich versah fielen mir die Augen zu. Ich sollte Marathonläufer werden, dachte ich mir noch.
Siobhan läuft. Ja, das klingt gut.