Immer weiter, bis zum Ende
Es knarrte. Verdammt, es knarrte. Ich hätte schwören können, daß er gesagt hat, die Treppe wird keinen Laut von sich geben. Eine Falle? Ich erstarrte in meiner Bewegung, wartete und lauschte. Es rührte sich nichts. Glück gehabt.
Und weiter. Eine Stufe nach der anderen, langsam näherte ich mich dem ersten Treppenabsatz, die erste kritische Stelle: hier konnte man mich vom Wohnzimmer aus sehen. Aber nur, wenn man auf dem Sofa vor dem Kamin saß, und genau in meine Richtung sah. Es war höchst unwahrscheinlich, dass ausgerechnet dort jemand sitzt und in diese Richtung sieht. Außerdem hatte er mir gesagt, dass die Tür zum Wohnzimmer geschlossen sein wird. Aber schon die Aussage, dass die Treppe nicht knarren würde, war falsch. Oder er war seit langer Zeit nicht mehr hier gewesen. Auch das war möglich. So genau kannte ich ihn nicht.
Und weiter. Zum Glück war die Treppe mit einem Teppich ausgelegt. Dennoch bewegte ich mich nun sehr vorsichtig, jedes Mal, wenn ich einen Fuß aufsetzte, dauerte es fast zwei Sekunden, bis die gesamte Sohle meines Fußes den Boden berührte. Ruhig aber stetig näherte ich mich dem Ende der Treppe. Es waren nun nur noch wenige Meter bis zur Tür des Raucherzimmers. Langsam überquerte ich den Flur bis zur Tür des Raucherzimmer. Ein klassisches Raucherzimmer, wie es sie häufig in alten Herrenhäusern im Englischen Stil gibt. Tatsächlich saß dort jemand, und rauchte. In einem Ledersessel vor dem Kamin. Ganz wie er es mir beschrieben hatte. Der Mann saß da, und hatte mich anscheinend wirklich nicht gehört, obwohl die Treppe geknarrt hat. Aber vielleicht hatte es keine Bedeutung für ihn gehabt, dass die Treppe knarrte, weil er daran gewöhnt war? Oder vielleicht erwartete er es einfach? Vielleicht erwartete er mich bereits? Obwohl ich zwei Tage zu früh erschienen war? Nicht so wichtig jetzt, ich hatte einen Auftrag.
Also weiter. Jetzt bloß nicht weich werden. Es graute mir etwas, ausgerechnet ihn zu töten, geraden jemanden wie ihn. Aber ich habe den Auftrag angenommen. Ich war meinem Auftraggeber verpflichtet, also konnte ihn nicht ablehnen. Auch wenn ich den Sinn nicht verstanden habe, aber mein Auftraggeber hatte es mir auch nicht wirklich erklären wollen. Alles was er sagte war, dass ich es irgendwann verstehen werde. Aber gerade in diesem Moment wollte es mir nicht klar werden, wo ich ihn das sitzen sah, Pfeife rauchend, und ich zögerte ein wenig, als ich mein Messer zog.
Und dennoch: weiter. Ich zog das Messer und näherte mich bis auf wenige Meter, ohne dass er etwas merkte. Oder zu merken schien, denn ich bin mir bis heute nicht ganz sicher. Ich tötete zu dieser Zeit übrigens immer mit einem Messer. Ich fand es eleganter, und auch professioneller. Nur Angsthasen töten mit Schusswaffen, sie brauchen den Sicherheitsabstand, den diese Waffen ermöglichen. Und wenn sie auch noch auf den Schalldämpfer verzichten, dann sind es meiner Meinung nach einfach Idioten. Brutalitätsverherrlichende Idioten, die nicht nur den Rückschlag fühlen wollen, sondern auch den Knall, und das ganze Feeling des plötzlichen Ausbruchs mordender Realität. Das ist brutale, rohe Gewalt. Das lehne ich ab.
Und weiter. Wie auf Katzenpfoten näherte ich mich ihm von hinten an, jeder Schritt dauerte ewig. Ich musste mich nur noch ein bis zwei Schritte nähern, um das Messer richtig ansetzen zu können, als er sich plötzlich in seinem Sessel aufrichtete. Ich wurde auf einmal starr vor Schreck. Wenn er sich umgedreht hätte, wäre ich nicht mehr schnell genug entkommen. Er streckte sich, und legte seine Zeitung beiseite. Er zog seine Hausschuhe an, und es sah so aus, als ob er das Raucherzimmer nun verlassen wollte. Ich stand mittlerweile nur noch zwei Meter hinter ihm. Mir gefror das Blut in den Adern, denn weder gab es für mich eine Möglichkeit, mich zu verstecken, noch konnte ich den Rückzug antreten. Beides wäre in der Kürze der Zeit, ohne aufzufallen, nicht möglich gewesen. Doch er schien sich nur gestreckt zu haben, denn nun nahm er ein Buch und fing an, dies zu lesen.
Nun erst recht: weiter. Ich schlich mich langsam weiter an ihn heran, mein Messer in der Hand, bereit die von meinem Auftraggeber anvisierte Person zu erlösen. Und „erlösen“ ist tatsächlich das richtige Wort, denn was diese Leute durchmachen müssen, scheint unglaublich zu sein. Mein Auftraggeber hat mir ein wenig von diesen Leuten erzählt. Leute, die krank sind, sehr krank. Leute die leiden, aber keiner hat Mitleid. Keiner hat Interesse, keiner will helfen. Fast keiner. Mein Auftraggeber hilft. Und ich helfe meinem Auftraggeber. Vor mir sitzt „unser Kunde“, ein ca. 40 Jahre alter Mann. Er scheint nicht mit mir zu rechnen. Sollte er auch nicht. Mein Auftraggeber hatte mir explizit befohlen, heute zu kommen - zwei Tage früher - damit dieser Mann auch nicht im geringsten ahnen kann, dass es schon soweit ist. Dieser künstlich herbei geführte Überraschungsmoment ist das große Erfolgsgeheimnis meines Auftraggebers. Interessenten bestellen bei meinem Auftraggeber diesen Service, gerade weil sie überrascht werden. Diese Überraschung lassen sie sich viel Geld kosten. Denn der Tod ist immer schwer, aber umso leichter zu ertragen, je mehr man von ihm überrascht wird. Und die Klienten meines Auftraggebers sind nicht nur krank, sie haben auch viel Geld. Und mit diesem Geld kaufen sie sich die Erleichterung, eine Befreiung von ihren Leiden.
Deshalb: weiter. Ich stehe jetzt direkt hinter dem Sessel, kann kaum atmen, bin kaum in der Lage, mich zu bewegen, um keinen Lärm zu machen. Langsam erhebe ich das Messer, führe es langsam in Richtung seines Halses. Er liest weiter, scheint nichts zu bemerken. Ich setze das Messer an, ein Schnitt, zielsicher und kraftvoll, er bäumt sich noch einmal auf, ich halte ihn nieder, drücke ihn auf den Sessel zurück. Das Blut läuft an seinem Körper runter, drückt pulsierend aus der Wunde am Hals. Langsam wird er schwächer, und es einfacher für mich, ihn auf dem Sessel zu halten. Nach und nach lockern sich seine Gliedmassen, erst sackt der rechte Arm, der mich bis dahin am Hemd gepackt hatte, dann der linke Arm, mit dem er sich die Wunde gehalten hatte. Eine Reaktion, die typisch für jeden ist, der im Todeskampf steckt, ob er den Tod nun gewollt hat, oder nicht.
Als sein Körper komplett zur Ruhe gekommen war, und es schien, dass er bereits Tod wäre, hörte ich ihn zum ersten und letzten Mal sprechen, besser gesagt hauchen:
„Endlich“
---Ende---
<span class="ssilver">[Beitrag editiert von: philipp am 27.02.2002 um 00:13]</span>
[ 22.04.2002, 14:29: Beitrag editiert von: philipp ]