Immer nur Ich
Immer nur Ich
"Nun erzählen Sie doch mal, Herr Meins. Was ist denn nun genau Ihr Problem ?"
"Ja, wie soll ich sagen..."
"Entspannen Sie sich einfach, fangen Sie an mit dem Tag an zu erzählen, als Ihnen zum ersten Mal auffiel, daß etwas nicht stimmte. Sie werden sehen, der Rest geht wie von alleine."
"Gut, ich versuche es mal. Also, vor 3 Wochen saß ich in der U-Bahn. Wissen Sie, ich hatte schon immer diesen Tick, mit mir selbst zu reden, aber natürlich nur, wenn ich alleine bin. Sonst hält einen ja jeder für bekloppt, Hahaha. Aber an diesem Tag in der U-Bahn hatte ich so ein starkes Bedürfnis, mit mir selbst zu reden, daß ich an der nächsten Station ausstieg und wartete, bis ich halbwegs alleine auf dem Bahnsteig stand. Dann versuchte ich, mit mir selbst zu reden, aber es ging nicht. Da war irgendeine Art Sperre."
"Wie äußerte sich die Sperre ? Also: hatten Sie Angstgefühle, oder kam es mehr einer physischen Barriere nah ?"
"Nein, keine Angst, mehr so eine Art Barriere. Ich war nicht verängstigt oder so, ich war höchstens erstaunt oder verwirrt."
"Erzählen Sie ruhig weiter, frei von der Leber weg."
"Ja, da hatte ich die einzelnen Personen in der U-Bahn-Station nicht bemerkt, ich war zu sehr mit meiner eigenen Situation befaßt. Aber am nächsten Tag passierte mir etwas ähnliches beim Einkaufen. Am Dosensuppen-Regal war ich alleine und merkte, daß ich intuitiv wieder anfing mit mir zu reden, da war die Sperre wieder da. Ich war wie erstarrt und versuchte eine Art 'Selbstbeaobachtung' der Art: Habe ich noch alle Tassen im Schrank ? Bin ich noch ganz dicht ? Ein Mann hinter einem anderen Regal murmelte mir zu: 'Ach was, ist doch alles ok !'"
"Ein Mann ? Wie sah er aus ?"
"Nun ja, zuerst fiel es mir gar nicht so auf, aber später dann hatte ich schon eine Ahnung. Eigentlich hatte ich ihn nur einen Sekundenbruchteil gesehen. Ein paar Tage passierte gar nichts und dann ging es richtig los. Jemand sprach mich an, während ich an einer Ampel stand und auf grün wartete. Ich hatte vorher zur Straße gesehen und drehte mich erst zu diesem Mann um. Und da sah ich MICH !"
"Sie sahen sich selbst ?"
"Ja, und er, äh, ich..."
"Bleiben Sie bitte beim 'er' !"
"Also er fragte mich, ob ich ihm Geld leihen könne, schließlich hätte ich ja gestern erst Gehalt bekommen. Ich war so perplex, daß ich nichts gesagt hatte. Und ruckzuck war der Mann wieder verschwunden. Spurlos. Ich versuchte, Passanten anzusprechen, ob wie jemand gesehen hätten, der so aussähe wie ich, bekam aber nur blödsinnige Antworten."
"Sah er denn exakt so aus wie Sie ? Ich meine, hatte er auch die gleiche Kleidung an ?"
"Nein, die Kleidung war anders. Es gingen wieder ein paar Tage ins Land und ich bemerkte, daß in meinem Büro auf der Arbeit drei Albert Meins rumstiefelten. Ich versuchte, mir einzureden, daß ich Streß hätte, aber dem war nicht so. Ich war eigentlich relativ zufrieden mit meinem Leben. Bis gestern ist das Ganze eskaliert. Ich sehe überall nur noch mich selbst. Es werden sogar immer weniger Frauen um mich rum. Zig Albert Meins rennen in Frauenkleidung rum, ich sah sogar einen Hund, der einen ähnlichen Kopf hatte. Wissen Sie, ich habe Angst durchzudrehen."
Im Raum blieb es still. Als der Doktor nach wie vor nicht antwortete, drehte sich Albert um und sah den Doktor neben der Couch sitzen.
Logisch: er sah aus wie Albert Meins. Nun auch der Doktor !
"Tja, das klingt zwar nach einem Problem, aber so richtig interessiert mich das nicht. Wissen Sie, ich finde die Welt, die Sie dort beschreiben, ganz nett. Warum lassen Sie nicht alles so wie es ist ?"
Die Sprechstundenhilfe mit Alberts Gesicht brachte ihn an die Tür. Der Türknauf hatte mittlerweile Alberts Gesichtszüge und durch die offene Tür sah er die ersten Autos mit Kühlerhauben, die seinem Kopf nachempfunden waren.
"Das muß doch Einbildung sein" murmelte er vor sich hin. Und schreiend kam die Antwort von überall: "NEIN, DAS IST DIE REALITÄT !!!"
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Udo Wolter
uwp@dicke-aersche.de
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