Mitglied
- Beitritt
- 26.05.2019
- Beiträge
- 36
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 12
Immenweiler
Das Flugloch hat eine Höhe von kaum zwei Zentimetern und erstreckt sich über die volle Breite des Bienenstockes. Im Herbst, wenn der Flugbetrieb weniger wird, hat Nikos’ Großvater den Spalt immer mit einem Keil verschmälert, um die Wächterbienen zu entlasten. Heute sind keine Wächterbienen zu sehen. Es gibt nichts zu bewachen und keine Feinde, die von außen in die Dunkelheit des Stockes drängen. Am Anflugbrett beginnt die blaue Farbe bereits abzuplatzen.
Nikos geht in die Hocke. Alles, was er mit einem geknickten Zweig aus dem Flugloch hervorstochert, ist der hohle Hinterleib eines Ohrwurms und vertrocknete Stockbienen. Die Beine haben sie auf der Brust gefaltet.
Nichts verrät ihm, wie lange der Bienenstock bereits leersteht. Vielleicht ist das Bienenvolk schon im Juni verlorengegangen, zur Schwarmzeit, als Elena ihn über den Zustand seines Großvaters auf dem Laufenden gehalten hat. Vielleicht haben die Bienen auf das Schicksal ihres Imkers gewartet und sind erst vorgestern mit Großvaters Tod endgültig zwischen den graugrünen Buchenstämmen im Wald verschwunden. Es ist den ganzen Sommer niemand hier gewesen, um ihre Abwesenheit zu bemerken, niemand hat die Bienen auch nur erwähnt.
Nikos lässt den Zweig neben sich auf die Wiese fallen und schiebt zwei Finger in den schwarzen Spalt. Er muss gegen den Drang ankämpfen, sie wieder zurückzuziehen. Das Innere des Bienenstockes ist kühl und trocken.
Ein Kribbeln zieht von seiner Hand bis in die rechte Seite seines Kiefers. Als Kind hat er nächtelang wachgelegen und hat sich gezwungen, den rechten Fuß unter der Bettdecke hervor ins kalte, dunkle Kinderzimmer zu strecken. Er erkennt das kribbelnde Gefühl, das Warten darauf, dass die Finsternis zusticht.
Am Waldrand neben dem Bienenkorb wächst ein Büschel Flockenblumen. Eine längere Hitzewelle im Sommer ist ausgeblieben, die Pflanzen sind noch grün und saftig. Doch nicht einmal dort, wo es reichlich Nektar gibt, rührt sich etwas.
Die Stille des Waldes legt sich als pulsierendes Summen auf Nikos’ Ohren. Fast erwartet er, den verlorenen Bienenschwarm an den Ästen der nächsten Buche hängen zu sehen. Das Summen wird lauter, zorniger, es scheint gleichzeitig aus der Ferne und aus dem toten Bienenkorb zu kommen. Nikos spürt, dass sich sein Hals verengt, er kaum atmen kann. Ihm ist, als bestünde die Schwärze im Bienenkorb aus Millionen von tastenden Insektenbeinen, die er an den Fingerkuppen spüren kann. Heftig zieht er seine Hand zurück, steht auf, geht drei Schritte rückwärts.
"Hörst du das auch?", ruft er heiser und dreht sich um. Dennis hat seine verspiegelte Sonnenbrille aufgesetzt und wartet auf dem Feldweg. Mit dem tief ausgeschnittenen weißen T-Shirt, der goldenen Kette und den weißen Sneakers wirkt er auffällig deplatziert zwischen den Obstbäumen.
"Was soll ich hören?", fragt Dennis zurück. Über seinem Kopf wirbelt geräuschlos ein Mückenschwarm, als wäre das herbstliche Licht der Nachmittagssonne durch ihn zum Leben erwacht. Dennis geht ein paar Schritte auf Nikos zu, auch wenn er dafür mit seinen hellen Schuhen ins hohe Gras treten muss. Der Mückenschwarm folgt seiner Bewegung. Im Schatten des Waldrandes setzt Dennis die Sonnenbrille ab. Er lässt Nikos nicht aus den Augen.
"Hallo? Alles in Ordnung mit dir?", fragt Dennis schließlich und winkt übertrieben wie jemand, der in einer johlenden Menschenmenge auf sich aufmerksam machen muss.
Nikos schmunzelt und nickt langsam. "Ich habe dir doch gesagt, du sollst nicht so viel Deo nehmen", sagt er. Das Summen hat aufgehört.
Dennis runzelt für einen Moment die Stirn. Dann bemerkt er die Mücken und beginnt in der Luft zu fuchteln. "Verdammte Mistviecher, greift doch nicht mich an! Greift lieber ihn an!" Erfolglos versucht er, den Mückenschwarm in Nikos’ Richtung zu scheuchen.
Als Nikos losläuft, weicht Dennis dem Mückenschwarm aus und sprintet davon. Erst auf dem Feldweg wird er langsamer und schaut nach hinten. Nikos holt ihn ein, stützt sich auf seinen Schultern ab und springt ein Stückchen in die Höhe. Dennis muss lachen. Er ist größer als Nikos, aber nicht sehr viel, ein idealer Größenunterschied. Gemeinsam gehen sie zurück zu Dennis’ Auto.
Als sie das Ortsschild mit der Aufschrift Immenweiler passieren, beschließt Nikos, dass er doch lieber woanders zu Abend essen möchte. Für einen Moment ist er den Tränen nahe. Dennis wendet das Auto im Kreisverkehr direkt hinter dem Ortseingang und fährt den gleichen Weg zurück.
Nikos zieht das Handy aus der Gesäßtasche seiner engen, schwarzen Jeans, er muss dabei ein Stückchen vom Sitz aufstehen. Durch die ausgefransten Risse sind seine Knie sichtbar. Er tippt.
"Was schreibst du?", will Dennis wissen und klappt die Sonnenblende herunter. Sie fahren jetzt direkt auf die untergehende Sonne zu.
"Dass wir später kommen", sagt Nikos. Weil er sich noch über sein Smartphone beugt, hängen ihm die dunklen Haare – nicht richtig lockig, aber wie immer ungezähmt – seitlich ins Gesicht, sodass Dennis den Ausdruck darauf nicht sehen kann. Auf der rechten Seite zieht wieder der schmale, betonierte Weg vorbei, den Nikos vorhin unbedingt nehmen wollte. Der Weg, der zur Streuobstwiese seines Großvaters führt.
"Weißt du, wir können auch einfach ...", sagt Dennis, "Ivy wird sich riesig freuen, wenn wir heute schon wieder zurückkommen." Da Nikos’ Mutter Hunde nicht ausstehen kann, haben sie Ivy bei einer Freundin unterbringen müssen.
Nikos lässt den Kopf gegen die Beifahrerscheibe fallen und sagt nichts. Schweigend fahren sie zurück zur Autobahn.
Das Restaurant im Möbelgeschäft direkt neben der Autobahnauffahrt ist noch geöffnet. Während Nikos zwei Portionen Gemüsebällchen mit Pommes auf einem Tablett davonträgt, füllt Dennis zwei Gläser an einem der Selbstbedienungsautomaten. Obwohl kaum Gäste im Restaurant sind, muss er kurz suchen, ehe er Nikos an dem kleinen, quadratischen Tisch in der Ecke entdeckt.
Als Dennis schon sein letztes Gemüsebällchen halbiert, starrt Nikos noch immer gedankenverloren auf den Tisch, die Gabel in der Hand, das Essen vor ihm nicht angetastet. Prüfend reibt Nikos mit dem Finger über eine dunkle Stelle auf der Tischplatte. Ein gewöhnliches Astloch.
"Schade, dass sich keiner mehr für Großvaters Bienen interessiert", sagt er und schiebt sich ein Gemüsebällchen in den Mund.
Dennis zögert, ehe er auf die Bemerkung eingeht: "Dich interessieren sie doch. Warum hast du nie Imkern gelernt?"
"Ich hätte das sofort getan", antwortet Nikos mit halbvollem Mund. "Großvater wollte es mir sogar beibringen …"
Dennis schaut ihn schweigend an. Seinem Blick ausweichend fährt Nikos fort: "Er fragte meinen Vater, ob er mich mit zu den Bienen nehmen darf, das war auf irgendeinem Familienfest. Wahrscheinlich Elenas Geburtstag. Wir waren damals Teenager, saßen an einem separaten Tisch und hörten natürlich alles, was die Erwachsenen sagten. Nun ja, mein Vater war wenig begeistert." Er lächelt zynisch. "Dann begann die übliche Litanei, aber vor allen Gästen: Dass ich schon genug Flausen im Kopf habe und mich nicht auch noch mit Bienen beschäftigen soll. Dass er mich neulich beim Blumensammeln erwischt hat. Dass Blumen nur was für verweichlichte Schwuchteln sind. Dass mir ein vernünftiges Hobby guttun würde, eins, bei dem ich endlich ein paar Muskeln bekomme. Dass die Mädchen schließlich nicht auf Waschlappen stehen. Dass … Ach, egal." Nikos macht eine wegwerfende Geste,
"Kurz und gut", sagt er, "Großvater nahm stattdessen Alex und Philipp einige Male mit. Bis einer der beiden mit voller Absicht eine Biene zertrat und dafür um ein Haar eine Ohrfeige von Großvater kassierte. Und das war das Ende der großartigen, neuen Generation von Imkern in der Familie Gabriele."
"Dein Vater ist ein richtiges Arschloch!", sagt Dennis und betrachtet seinen leeren Teller. "Das kann man doch nicht machen! Das muss doch …"
"Der Punkt …", setzt Nikos an, aber Dennis unterbricht ihn: "Hat er sich später wenigstens dafür entschuldigt?" Dennis hat lauter gesprochen als beabsichtigt.
Nikos sinkt in sich zusammen und fragt: "Was soll das bitte bringen?" Er beugt sich weiter nach vorne und spricht leise, obwohl die einzigen anderen Gäste an der gegenüberliegenden Wand sitzen. "Ich weiß ganz genau, dass er sich Alex oder Philipp als Sohn wünscht und er weiß auch, dass ich das weiß. Zwischen uns ist alles geklärt, wir kommen miteinander aus."
Dennis hebt die Augenbrauen und spielt an seiner Goldkette. Er sagt: "Wenn du meinst. Aber eigentlich kann er sich glücklich schätzen, dich als Sohn zu haben und nicht so einen Vollidioten wie Alex."
Nikos bemüht sich zu lächeln und beinahe gelingt es ihm. Sein eckiges Gesicht ist voller Schatten: der Dreitagebart unter der Nase und am Kinn, die Härchen zwischen den Augenbrauen, die lila Flecken unter den Augen. In letzter Zeit schläft er wenig. Er schiebt den Teller in die Tischmitte und sagt: "Komm, iss noch ein paar, damit wir hier wegkommen."
Gemeinsam essen sie von Nikos’ Teller. Immer wenn Nikos zu lange auf einem Gemüsebällchen oder den Pommes kaut, lässt Dennis die Gabel sinken und wartet.
"Bist du ganz sicher, dass du dir das morgen antun willst?", fragt Dennis nach einer Weile. "Mit der kompletten Familie? Wir können das Grab deines Großvaters auch noch später besuchen, wenn …" Er sucht nach den richtigen Worten. "Wenn dein Kopf wieder frei ist."
"Keine Sorge, ich komme schon klar", sagt Nikos.
"Du kannst es auch auf mich schieben, dann …"
Nikos winkt ab und sagt: "Es geht mir gut, Dennis. Wirklich."
Dennis erwidert nichts und fischt das letzte Gemüsebällchen von Nikos’ Teller. Dann fahren sie wieder nach Immenweiler.
Honiggelbe Sonnenblumen schmücken den Sarg aus dunklem Eichenholz. Sie wirken leblos, konserviert, vielleicht weil sie sich nicht dem Licht zuwenden, das durch das hohe Fenster in die Friedhofskapelle fällt. Anstelle von Pater Mazur spricht ein junger Geistlicher hinter dem Stehpult.
Nikos sitzt zwischen seinen Eltern und Elena in der vordersten Stuhlreihe. Elena umklammert die Hand ihres Freundes, der direkt neben ihr in der ersten Reihe sitzen darf. Die Augen in ihrem blassen Gesicht sind verweint. Sie wohnt direkt im Nachbarort und hat viel Zeit mit ihrem Großvater verbracht.
Nikos’ Mutter hat die Beine unter dem Rock übereinandergeschlagen, ihre Handtasche ist offen und griffbereit. Sie lässt den Blick von einer Seite zur anderen wandern, um in einem Anflug ungewohnter Mütterlichkeit rechtzeitig Unmengen von Taschentüchern an ihre trauernde Familie zu verteilen.
Dennis sitzt allein irgendwo ganz hinten. Nikos hat sich nur ein einziges Mal flüchtig umgedreht. Die Worte seines Vaters sind unmissverständlich gewesen, Widerspruch nicht nur unerwünscht, sondern sinnlos wie bei Naturgesetzen.
Dennis hat nur geschwiegen, kurz aber deutlich genickt und ist trotzdem sein schwarzes Hemd holen gegangen. Zum Friedhof ist er mit seinem eigenen Auto gefahren. Am anschließenden Leichenschmaus darf Dennis nicht teilnehmen, das würde zu viele Fragen aufwerfen, hier in Immenweiler, wo jeder jeden kennt. Er wird zum Haus von Nikos’ Eltern fahren und warten, bis alles vorüber ist. Erst jetzt bemerkt Nikos den Haustürschlüssel seiner Eltern in der Hosentasche. Dennis wird draußen warten müssen.
Nach der Zeremonie steht Nikos zusammen mit den übrigen engen Verwandten neben dem Grab seines Großvaters. Eine Hand nach der anderen ergreift die seine. Ein Gesicht nach dem anderen zieht mit Beileidsbekundungen auf den Lippen an ihm vorüber, hauptsächlich runzelige Gesichter alter Immenweiler, die Nikos als Kind gekannt haben. Niemand hier weiß, wer er heute ist.
Zwischen den Gesichtern wandern Nikos’ Augen immer wieder zu Dennis, der abseits unter einer Pappel steht. Ganz in Schwarz gekleidet sieht Dennis ernst aus und feierlich, nur seine hellbraunen Haare bewegen sich gelegentlich im Wind. Am liebsten würde Nikos zu ihm laufen und ihm weinend um den Hals fallen.
Dann strömt die Trauergemeinde endlich in Richtung des östlichen Friedhofstors. Obwohl er den Friedhof so schnell wie möglich verlassen will, wird Nikos langsamer und lässt sich hinter Alex zurückfallen. Dennis muss irgendwo weiter hinten sein, um jetzt möglichst unauffällig zu verschwinden.
Am nächstbesten Grab bleibt Nikos stehen. Die Astern müssen kürzlich gegossen worden sein, denn die frisch aufgehackte Erde auf dem Grab ist noch feucht. Wassertropfen hängen an den hellblauen Blütenblättern der Astern. Auf dem Grabstein liest Nikos den Namen: Lore Schlagentweith.
Sein Vater und seine Mutter gehen hinter ihm vorbei, ohne den Rhythmus ihrer Schritte zu unterbrechen. Einzig Elena lässt die Hand ihres Freundes los, bleibt kurz stehen und drückt für einen Moment Nikos’ Schulter. Nikos schaut ihr nach, sieht sie mit wenigen Schritten ihren Freund einholen, der auf sie gewartet hat. Nicht zum ersten Mal wünscht sich Nikos, wie die anderen zu sein.
Er wendet sich wieder dem Grab zu und entdeckt eine Bewegung auf der feuchten Erde. Eine einzelne Biene kämpft sich einen Erdklumpen hinauf. Ihre Flügel sind knittrig und das feine Haarkleid auf ihrem Chitinkörper ist vollgesogen mit Wasser. Es scheint, als würde sie aus der Friedhofserde aufsteigen, als würden sich die Begrabenen langsam in Bienenschwärme verwandeln und in die Lüfte erheben. Nikos denkt an seinen Großvater, wie wenig Zeit er mit ihm verbracht hat, wie wenig sie sich gekannt haben. Die Biene erreicht den Gipfel des Erdklumpens und ihr Hinterleib, der endlich in der Sonne trocknet, pulsiert panisch im Takt von Nikos’ Herz.
Jemand bleibt neben ihm am Grab stehen. "Na", sagt Dennis und hebt die Hand, wie um Nikos zu berühren, zögert und lässt die Hand wieder in seiner Manteltasche verschwinden. "Beeil dich, sie warten schon", sagt er und nickt in Richtung Friedhofstor.
Nikos zuckt mit den Schultern. Er zieht den Haustürschlüssel hervor und dreht ihn im Licht. Dennis greift danach und neigt den Kopf nach rechts, als Nikos den Schlüssel fest in seiner Hand behält. Nikos’ Augen füllen sich mit Tränen. "Hast du nicht Lust mitzukommen?", fragt er und seine Stimme zittert. "Ich will dich meinen Verwandten vorstellen."
"Nicht besonders", antwortet Dennis und lässt los, "aber für dich würde ich alles machen."
Nikos steckt den Schlüssel zurück in die Hosentasche und greift nach Dennis’ Hand, sie fühlt sich warm an. Er wischt sich die Tränen aus den Augen.
Hand in Hand gehen sie los, doch erst nach einigen unsicheren Schritten traut sich Nikos, den Blick zum eisernen Friedhofstor zu heben, zu seinem Vater, der mit zusammengezogenen Brauen losstürmen will, zu seiner Mutter, die entsetzt dabei zuschaut, und zu Elena, die den Vater am Oberarm festhält und ihn mit sanfter Gewalt weiter zum Parkplatz zieht.
Nikos hält Dennis’ Hand fest umschlossen. Morgen weiß es ganz Immenweiler.