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Im Zweifel für den Ankläger
Früher wurden Frauen als Hexe verbrannt. Diese Zeiten sind zum Glück vorbei - die Männer haben ihre Rolle übernommen.
I. Es ist mir so rausgerutscht, und zwar in der Deutschstunde. Ein kleiner, anzüglicher Spaß, um die 9a aus ihrer Lethargie zu wecken. Wir besprachen einen Text über Kinderarbeit in Asien. Während die eine Hälfte der Klasse sich im Übergang befand zwischen Tiefschlaf und Koma, frönte die andere subversiven Aktivitäten. Die 15-jährige Daniela verschickt fleißig Zettelchen an die Jungen, wahrscheinlich Liebesbriefe. Mein Blick blieb an ihr hängen: wie fast alle Mädchen trug sie ein bauchfreies Oberteil. Es war weiß, eng und ich konnte mehr von ihren Rundungen sehen, als mir lieb war.
„Daniela“, rief ich sie auf. „was heißt korrelieren?“
„Puh ... ich glaube, das ist, wenn sich im Meer so ein Riff bildet.“
„Und ich glaube, deine Bildung korreliert nicht mit deiner Oberweite. Lies es zuhause im Lexikon nach, ihr solltet das lernen für heute.“
Der Erfolg dieses kleinen Spaßes war verblüffend: die Klasse brach in schallendes Gelächter aus, lediglich Danielas Kuhaugen glotzten, obwohl dieses Adjektiv streng genommen nicht steigerungsfähig ist, eine Spur ausdrucksloser als sonst.
II. „So einen Scherz hätte ich Ihnen gar nicht zugetraut, Sie sind doch sonst immer so zurückhaltend, Herr Eichenlaub“, lachte Rektor Fels, als ich ihm davon erzählte. Er war 63, schon seit 30 Jahren an dieser Schule und mein einziger Freund dort; wir beide vertraten noch Werte wie Gerechtigkeit und Leistung, während der Rest des Lehrerkollegiums aus 68‘er-Abklatsch bestand – natürlich waren wir deshalb unbeliebt. „Leider nehmen sie uns das übel. Heute hat eine Reporterin des Tageblatts angerufen; ihr seien Gerüchte zugetragen worden, wonach ein Lehrer sexistische Bemerkungen mache.“
„Ich habe noch nie eine Schülerin belästigt, und das wissen Sie. Daniela steht Fünf und will sich rächen.“
„Ja, aber leider handelt es sich bei der Reporterin um Danielas Mutter, eine stadtbekannte Feministin, die schon einige Männerskalps an ihrem Gürtel hat.“
„Heilige Scheiße“, rutschte es mir heraus, obwohl Dr. Fels Katholik war. "Vielleicht sollte ich mich entschuldigen?"
"Das Recht muss dem Unrecht nicht weichen, Eichenlaub. Sie werden nicht vor den Schülern zu Kreuze kriechen so wie die anderen. Nicht solange ich Rektor bin."
III. Wir dachten, die Sache sei hiermit erledigt, aber bei der nächsten Elternversammlung erhob sich eine Frau: Sie habe Gerüchte gehört, die unter den Schülern kursierten, und wolle nun wissen, was wir gedächten gegen die sexuellen Handlungen eines bestimmten Lehrkörpers zu unternehmen? Geraune erhob sich im Saal. Rektor Fels versicherte , er werde sich der Sache annehmen.
„Zum Glück hat sie keine Namen genannt“, seufzte ich, als wir uns am nächsten Tag in seinem Büro trafen. „Ist die Anschuldigung erst einmal erhoben, lässt sich die Unschuld nie wieder herstellen.“
„Vielleicht sollten Sie Danielas Mutter ein Gespräch anbieten. Ein Interview mit der Zeitung, das jeder lesen wird. So schlimm wie im Fernsehen sind die Medien auch nicht. Ich werde inzwischen folgenden Erlass per Rundschreiben verschicken. Mal sehen, ob wir die Blagen nicht zur Vernunft bringen.“
Er hielt mir einen Zettel entgegen. Das Tragen bauchfreier Oberteile, so stand dort, ist mit sofortiger Wirkung tabu. Nur so ist sicherzustellen, dass keine Ablenkung der Schüler vom Unterricht erfolgt. Damit dürfte das Problem erledigt sein, glaubte ich, rief aber trotzdem beim Tageblatt an und erbot mich, eine Stellungnahme abzugeben. Sicher war sicher, auch wenn ich unschuldig war.
IV. Was für ein Tag! Heute morgen trat ich mit unschuldiger Ahnungslosigkeit ins Klassenzimmer und sah Busen. Die gesamte weibliche Hälfte der 9a saß mit freiem Oberkörper an den Pulten.
„Warum seid ihr halbnackt?“
„Anordnung vom Rektor“, sagte Daniela. „Wir sollen unsere Oberteile zuhause lassen.“
Sie wollten mich fertig machen, aber nicht mit mir. „Wir schreiben ein Diktat.“, sagte ich. Dann begann ich Goethes Faust vorzulesen, direkt vor mir die Busen: helle und dunkle, kleine und straffe, runde und spitze, alle bedeckt von jugendlicher, samtweicher Haut. Und ich durfte nicht hinsehen. Es war die Hölle.
V. „Gut gemacht“, sagte Fels und klopfte mir auf die Schulter. „Lassen Sie sich von denen das Leben nicht zur Hölle machen. Hat das Tageblatt schon zurückgerufen?“
„Noch nicht. Und selbst wenn sie anrufen: Ich bin verunsichert, ich weiß nicht mehr, wie ich mich verhalten soll, alles was ich tue, wird falsch ausgelegt.“
„Eichenlaub – bleiben Sie immer bei der Wahrheit, dann kann Ihnen nichts passieren. Und lassen Sie den Kopf nicht hängen, auch in diesem Land kommen irgendwann einmal bessere Zeiten.“
VI. Kurz vor Mitternacht klingelte das Telefon, schlaftrunken hob ich ab.
„Nahles vom Tageblatt“, meldete sich eine Frauenstimme.
„Verdammt“, grunzte ich. „Es ist fast Mitternacht und ich muss früh aufstehen.“
„Ich bin Danielas Mutter. Ich rufe spät an, ich weiß, aber es geht um einen Bericht über sexuelle Belästigung an Ihrer Schule; dieser soll morgen schon erscheinen.“
Sofort war ich hellwach. „Fragen Sie, was immer Sie wollen.“
„Erste Frage: Sind Sie der Ansicht, die Schüler seien in Ihrem Unterricht auffallend freizügig gekleidet?“
Ich musste nachdenken, denn ein Nein wäre gelogen, ein Ja aber fast schon ein Schuldeingeständnis. „Meine Schüler können anziehen, was sie wollen, solange sie ihre Leistung bringen.“
„Mir liegen aber Zeugenaussagen vor, Sie hätten auf die Kleidung eines Mädchens mit einer Bemerkung reagiert, die man als anzüglich einstufen kann.“
„Über die Kleidung dieser Schülerin kann ich Ihnen nichts sagen, da ich darauf nicht achte, aber ihre Leistungen ließen zu wünschen übrig, und darauf bezog sich meine Bemerkung.“
„Also ist an den Anschuldigungen nichts dran?“
Ich musste lachen: „Nein, und wenn jemand dies weiterhin behaupten will, dann sollte vielleicht besser ein Gericht darüber befinden — ich bin mir aber sicher, dort käme niemand durch mit so einer Münchhausengeschichte.“
„Danke, Herr Eichenlaub.“
VII. Als ich am nächsten Tag in die Schule kam, hielt mir Dr. Fels wortlos die Zeitung entgegen. Unter der Überschrift ‘Mädchen belästigt – Schule handelt nicht‘ las ich ein Interview mit mir:
Tageblatt: „Herr Eichenl.(vollständiger Name der Redaktion bekannt), eine Schülerin bezichtigt Sie der sexuellen Belästigung. Was ist dran an diesen Vorwürfen?
Eichenl.: „Verdammt, lassen Sie mich in Ruhe.“
Tageblatt: „Stimmt es, dass die Schülerinnen zu Ihren Stunden auffällig freizügig gekleidet erscheinen?“
Eichenl.: „Von mir aus könnten Sie noch mehr zeigen.“
Tageblatt: „Aber die besagte Schülerin folgt nicht der von Ihnen gewünschten Freizügigkeit?“
Eichenl.: „Lassen Sie es mich so formulieren: Ihre Kleidung ist nicht außergewöhnlich, aber das Gleiche gilt auch für ihre Noten.
Tageblatt: „Soll das etwa heißen ...?“
Eichenl.: „Wagen Sie ja nicht, das zu schreiben, beweisen können Sie nämlich nichts, hahaha.“ (Aufgrund eines Lachanfalls von Eichenl. musste das Interview hier abgebrochen werden, Anm.d.R.)
„Mein Gott“, stammelte ich, „das habe ich so nicht gesagt, die haben meine Worte entstellt.“
„So ein Schmierenblatt“, schnaubte Fels. „Wer liest das überhaupt?“
„Meine Mutter.“
VIII. Die nächsten Wochen waren für uns weniger angenehm, besonders seit das Tagesblatt seine Titelstory ’Doktor Gier immer noch auf freiem Fuß‘ veröffentlicht hatte. Dieser Bericht war zwar unsachlich, denn ich habe nachweislich keinen Doktortitel, aber das Foto exzellent. Meine Nachbarn grüßten nicht mehr, meine Mutter legte auf, wenn ich anrief, und zur Schule ging ich schon frühmorgens im Dunkeln, seitdem ich eines Tages in der Straßenbahn von einer Frau angespuckt worden war, was die Umstehenden mit nicht unerheblichem Beifall bedachten.
Das übrige Lehrerkollegium hatte sich von uns isoliert. Dass wir überhaupt noch zum Dienst erschienen, war allein auf die uns beiden eigene Sturheit zurückzuführen: denn außer der öffentlichen Meinung und dem Ratschlag des Bürgermeisters, unseren Wirkungskreis wenn möglich zu verlagern an eine andere Schule (oder noch besser in ein anderes Land) gab es keine rechtliche Handhabe gegen uns.
„Mir hängt dieses Getue zum Halse heraus“, sagte der Rektor gerade jetzt zu mir, während wir in seinem Büro unser zweites Frühstück verzehrten. „Wenn eine 15-jährige ihren nackten Bauch zeigt, soll man als Mann nicht mehr hinschauen dürfen? Kierkegaard sagte hier trefflich: Moralische Empörung ist der Heiligenschein der Scheinheiligen. Ich werde meine Meinung vertreten, bis mir Gerechtigkeit wiederfährt, und wenn es 100 Jahre dauert!“
Trotz dieses rhetorischen Glanzlichtes mochte ich nicht vollständig darauf vertrauen, dass wir diesen Zeitpunkt noch erleben würden, was weniger an schlichten biologischen Gesetzmäßigkeiten lag, als an dem Ziegelstein, der krachend gegen die Wand schlug, nachdem er seinen Kopf nur knapp verfehlt hatte. Durch die zerbrochene Fensterscheibe sah ich auf dem Schulhof eine Menge aus Schülern, aufgebrachten Eltern und Schaulustigen, die ihre Schmährufe mit solcher Hingabe herausschleuderten, dass sie auch in Hoyerswerda eine gute Figur gemacht hätten.
„Pfui“, sagte Dr. Fels und wies auf ein Transparent. „Was unsere Jugend für unflätige Worte kennt.“
„Außerdem stellt es eine Aufforderung zu einer Straftat dar“, ergänzte ich. „Ich frage mich, wo die Polizei bleibt?“
„Sie treten gerade die Eingangstür auf“, sagte Dr. Fels. In diesem Moment klingelte neben mir das Telefon.
„Ja?“
„Nahles hier, vom Tageblatt. Ich habe gehört, Sie seien in Schwierigkeiten.“
„Ja, und zwar wegen Ihnen — Sie können sich nicht vorstellen, was hier gerade passiert.“
„Das kann ich sehr gut, denn ich stehe gerade auf dem Schulhof. Sie müssen mir zuhören: ich habe über Ihren Fall nachgedacht und ich glaube, ich bin bereit Ihnen zu vergeben.“
„Prima, und warum sagen Sie das den Leuten nicht endlich?“
„Das werde ich, ich will nur vorher eine kleine Gegenleistung und der Fairness halber sage ich Ihnen vorher, das Gespräch wird aufgezeichnet. Gestehen Sie!“
„Gestehen ... aber was ... Herrgott ja, ich bin Ihnen ausgeliefert.“ Den Geräuschen nach zu urteilen, stürmte der Mob gerade die Treppe herauf. „Ich habe unzüchtige Gedanken gehabt. Ich habe auf die Körper meiner Schülerinnen geschaut und ich fand es erregend. Ich weiß, es war falsch, aber ich bin doch ein Mann.“ Dr. Fels hatte einen Eichenschrank vor die Tür geschoben, die schon unter den Axtschlägen splitterte. „Verfickte Scheiße, was wollen Sie denn noch?“
„Ich vergebe Ihnen.“
Die Tür brach auf, ein Molotowcocktail zersplitterte an meiner Schläfe und als ich begann zu schreien, wurde mir klar, dass es das war, worauf sie gewartet hatte.