Was ist neu

Im Zahlenreich

Mitglied
Beitritt
30.12.2003
Beiträge
153

Im Zahlenreich

Einst begab es sich, dass ein Einser aus dem Reich der arabischen Zahlen sich aufmachte, um das Leben kennen zu lernen und Abenteuer zu bestehen.
Der Einser war so selbstbewusst wie alle jungen Burschen. Schließlich war er in die Mengenlehre gegangen und hatte sie mit guten Ergebnissen abgeschlossen. Er hatte einen Trunk aus der Schale des Wissen genommen und war klug für sein Alter, doch weise wird man erst durch das Leben. Die Neuner waren die Ältesten und Weisesten in diesem Reich, denn sie hatten schon viel erlebt.
Nachdem er einen halben Tag munter fürbass geschritten war, kam er in einen Wald. Zwar hatte er munkeln gehört, dass es dort mitunter nicht mit rechten Dingen zugehen sollte. Von etwas hören aber ist nicht selbst erleben.
Kaum war er etwa hundert Schritte in den Wald hinein gegangen, begegnete ihm eine Schlange. Sie hatte ein glänzendes Schuppenkleid an und sah sehr verführerisch aus. Er grüßte sie höflich, worauf sie ihn mit schmeichelnder Stimme in ihr Schloss einlud. Noch nie habe sie einen so reizenden jungen Einser gesehen.
„Ich bin eine verwunschene Prinzessin“, fuhr die Schlange fort, „nur ein Jüngling aus dem Reich der Zahlen kann mich erlösen, so wurde mir geweissagt“.
Während sie zu ihm sprach und ihn mit starrem Blick fixierte, wurde es dem Einser unheimlich. Erst als ein lautes Rascheln zu vernehmen war, konnte er seine Augen von der Schlange abwenden. Das Geräusch hatte ein Igel verursacht.
„Na“, sagte der Igel zum Einser, „hat sie dich gerade auf ihr Schloss eingeladen?“.
„Woher weißt du das?“, fragte der Einser verblüfft, „genau so hat es sich zugetragen“.
„Der Igel ist nur neidisch“, zischelte die Schlange dazwischen. „Schon lange versucht er, sich mir aufzudrängen. Er ist mir zu stachlig, ich mag ihn nicht“. Und an den Einser gewandt: „Lass dich nicht bereden vom Igel und komm mit mir. Erlöst du mich, will ich dich königlich belohnen“.
Der Igel nahm einen Apfel, den er auf seinem Stachelkleid mit sich trug, biss ein Stück ab und begann zu schmatzen, während er den Apfel wieder aufspießte. „Sie lügt“, bemerkte er zwischen zwei Schmatzern. „Sie ist eine böse Hexe, ihr Schloss ist voll von Gutgläubigen. Sie müssen dort Frondienste leisten. Die Schlange lauert hier den Wandersleuten auf, seit sie im Zahlendschungel keine Opfer mehr findet. Dort ist sie schon bekannt“.
Mit wütendem Zischen ging die Schlange auf den Igel los. Dabei hatte sie sich im Augenblick in einen Adler verwandelt. Kaum war aus der Schlange ein Adler geworden, stand an der Stelle, wo der Igel gerade noch war, ein Hirsch mit mächtigem Geweih. Da verwandelte sich der Adler in einen glühenden Feuerball, um den Hirsch zu verbrennen. Aber oh Wunder! Als sich der Feuerball auf den Hirsch stürzte, war da nur ein alter Brunnen. Dort hinein fiel der Feuerball und zischte, so dass eine gewaltige Dampfwolke aufstieg.
Nun hatte der Einser genug gesehen und war froh, heil aus dem Kampf zwischen Schlange und Igel heraus gekommen zu sein. ’Der Igel muss wohl ein mächtiger Zauberer gewesen sein’, dachte er bei sich.
„Danke, lieber Zauberer“, rief er zum Brunnen hinüber, „dass du mich vor der Falschheit der Schlange beschützt hast. Ich schenke dir mein Obst dafür“. Er entnahm seinem Proviantbeutel einen großen rotbäckigen Apfel und legte ihn auf den Rand des Brunnens. Da sprach der Brunnen: „Deine Dankbarkeit soll belohnt sein. Wenn du mich brauchst, dann rufe drei Mal ’ Zauberigel schnell herbei!’. Auf der Stelle stehe ich dann vor dir“.

Bald war es Nachmittag, und der Einser gelangte an den Rand des Waldes. Eine breite Straße führte am Waldrand entlang. Er beschloss, der Chaussee zu folgen.
Auf einmal hörte er eine Stimme rufen: „Wohin des Wegs, schöner Jüngling?“.
So angestrengt er umher blickte, nirgends konnte er das Wesen sehen, das ihm zugerufen hatte.
„Hier bin ich doch!“, rief die Stimme wieder. „Vorsicht, gleich zertrittst du mich“.
Da sah er etwas Winziges zu seinen Füßen, das kaum zu erkennen war. „Wer bist du denn?“, fragte er verwundert.
„Ich bin eine Null“, erklärte die Stimme fröhlich. „Schau, was ich in der Hand halte. Das ist ein Komma, damit man mich nicht übersieht. Ein bisschen kann ich mit dem Komma auch zaubern“.
Tatsächlich erkannte er ein Komma, mit dem die Null ihm zuzuwinken schien.
„Nimm mich mit“, bat ihn die Null, „vielleicht kann ich dir von Nutzen sein“.
„Von mir aus“, erwiderte der Einser gutmütig und etwas spöttisch. „Komme mir jedoch nicht zwischen die Füße, ich kann dich ja kaum sehen“.
Also gingen sie zusammen weiter. Kaum hatten sie eine Stunde Weges hinter sich, als in der Ferne ein prächtiges Schloss zu sehen war. Sie beschlossen, bis zum Schloss zu gehen. Beide waren müde und hungrig. Vielleicht konnten sie dort Speise, Trank und Nachtlager für sich finden.
Sie kamen direkt auf ein großes Tor zu, das verschlossen war. Rechts und links zog sich eine hohe Mauer hin. Der Einser rüttelte am Tor und rief laut: „Hallo, ist denn hier niemand? Ich möchte nur ein wenig rasten, bitte öffnet mir“.
Auf den Lärm hin öffnete sich ein Fenster im Schlossturm und eine wunderschöne Jungfrau blickte ihn an. Es war eine römische Eins, das konnte er erkennen. Sie war gerade gewachsen und sah aus wie ein I.
„Du musst weiter ziehen“, rief die Eins ihm zu. „Außer mir gibt es nur einen riesigen Hund, der vor meiner Tür sitzt, damit ich nicht fliehen kann. Ich werde hier gefangen gehalten“. Während sie sprach, blickte sie sehnsüchtig zu ihm hinunter in die Freiheit. „Ich bin einem römischen Hunderter versprochen. Der ist viel zu alt für mich und sieht aus wie ein D mit seinem dicken Bauch. Nun hofft man, meinen Willen zu brechen und hält mich deshalb gefangen“.
„Lass mich überlegen“, rief der Einser zum Fenster hinauf. „Ich werde dich befreien. Mir wird schon etwas einfallen“.
Plötzlich meldete sich die Null zu Wort. „Unter dem Tor ist eine Ritze. Dort hindurch gelangen wir in den Schlossgarten“, sagte sie zum Einser.
„Warum wir?“, wollte er wissen. „Du kannst da hindurch, aber ich bin zu groß für diesen engen Spalt“.
„Stelle dich hinter mein Komma“, erwiderte die Null. „Dann wirst du schon sehen“.
Ungläubig folgte der Einser diesem Rat, und siehe da! Er wurde ganz klein, nur noch ein Zehntel seiner alten Größe hatte er. Da ging die Null voran, das Komma hinter sich. Dann folgte der Einser, und schon waren sie auf dem Weg zum Schloss. Als sie die Tür geöffnet hatten, stand ein großer Hund hinter der Tür.
„Verschwindet“, knurrte er bösartig. „Ich bin als Wache hier und lasse euch nicht durch. Aus dem Weg, oder ich zerfetze euch“.
Nun wechselte die Null geschwind ihren Platz und stellte sich hinter den Einser. Der wurde gleich zehn Mal so groß, als er für gewöhnlich war, und seine Kraft nahm um dasselbe Maß zu. „Verschwinde du lieber“, sagte er von oben herab zu dem Wachhund, „sonst zertrete ich dich“.
Der Hund bekam Angst und lief winselnd davon. Der Einser, die Null im Gefolge, stürmte die Treppen hinauf bis in den Schlossturm. Mit der Null im Rücken war er so stark, dass die Kammertür, hinter der die römische Eins gefangen war, beim ersten Schlag aufsprang.
Die Eins bekam einen tüchtigen Schreck, als sie den riesigen Einser vor sich stehen sah. Doch die Null stellte sich wieder neben den Einser, so dass er seine natürliche Größe zurück erhielt. Da fiel ihm die Eins in die Arme und weinte vor Freude. Schnell ging es die Treppen hinunter und auf das Tor zu.
Das hatten aber die Null und der Einser nicht bedacht. Sie konnten wieder hinaus, doch nicht die befreite Gefangene. Da versagten auch die Kräfte der Null, denn sie kann bei einer römischen Zahl nichts bewirken. Zum Glück fiel dem Einser der Zauberigel ein. Er säumte nicht lange und sagte drei Mal die Zauberformel. Kaum ausgesprochen, schwebte ein riesiger Schwan herbei und ließ sich bei ihnen nieder.
„Steigt auf meinen Rücken und sagt, wohin ich euch bringen soll“, sprach der Schwan zu den erstaunten Zahlen. Da merkte der Einser, dass es der Zauberer war. Schnell war beschlossen, dass sie zusammen bleiben wollten. Der Schwan flog sie in des Einsers Heimat und wünschte ihnen beim Abschied ein glückliches Leben.

Der Einser und die Eins hielten bald darauf Hochzeit. Sie bauten sich ein Haus, wobei die Null gut helfen konnte, denn sie machte bei Bedarf den Einser größer und stärker. So war das neue Heim bald errichtet. Die Null blieb bei dem jungen Paar und erwies sich im Laufe der Zeit noch oft als nützlich.

 

Hi Pied,

eine herrlich schöne Geschichte in gewohnter Pied Piper Qualität, an der es absolut nichts auszusetzen gibt:cool:

Ungläubig folgte der Einser diesem Rat, und siehe da! Er wurde ganz klein, nur noch ein Zehntel seiner alten Größe hatte er.

Diese Stelle hat mir besonders gut gefallen. Zeigt sie doch, dass auch die vermeindlich Kleinen oft einen wichtigen Beitrag leisten können und nicht unterschätzt werden sollten.

Insgesamt hat mir diese Story von denen, die ich bisher von Dir gelesen habe, mit Abstand am Besten gefallen. Was nicht heissen soll, daß die Anderen schlecht waren.

Weiter so! :thumbsup:

Gruß
Jörg

 

hi pied piper,

schöne geschichte, ich fand auch die bereits zitierte stelle besonders toll :) zahlenmagie, hab ich es doch gleich gesagt! schwarze magie... o.O
ich hab die story auch gern gelesen!

glg, cherry

 

Hallo Ihr’s,

@ Jörg,
danke für das Lob. Dass Du diese hier für die gelungenste von mir hältst überrascht mich etwas; mein Vertrauen in die Geschichte war nicht so groß. Es hat aber sicher auch mit den unterschiedlichen Präferenzen der Leser zu tun. :) Danke!

@ cherry,
auch Dir Dank für die Bewertung. Ich befürchtete, Du würdest sie aus der Rubrik verbannen wollen ;). Aber Deine Idee mit der „Schwarzen Magie“ ... die hat etwas! *nachdenk*

@ Illu,
danke für Dein Urteil, wenn auch Deine kombinatorische Gabe einen Teil der Überraschung genommen hat. Gut, dass Du noch unter uns weilst – in einer anderen Story von mir wurde ein Illusionist erschossen und ich war darüber sehr traurig :D!
Ja, der Igel gibt viel her für Bilder :)

LG an alle, PP :)

 

Hey Illu,

die habe ich verschieben lassen nach Satire, schau dort mal rein. - Shareholder value

Gruß PP :)

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom