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Im Wohngebiet

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12.04.2016
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Im Wohngebiet

Das Ballspiel war zuende. Alle verließen den roten Platz. Wir strömten vom Spielfeld nach Hause, ungeordnet noch. Hinter dem Weg auf der Wiese erst bildeten sich die Grüppchen, die einen An- oder Ausschluss verlangten, standen dann wieder dort, der Fußballplatz noch in Sichtweite. Wer tschüß sagte und wer nicht, es gab von beiden genügend, was konnte man daran ablesen? Bälle unter vielen der Arme, doch nur ein oder zweien war die Ehre zuteil geworden, im Spiel zum Einsatz zu kommen. Alle gingen zugleich, als hätte es jemand gerufen. Später Nachmittag also. Ein Sommertag. Ein Tag in der Mitte der Jahre, die waren und der Jahre, die kamen. Ein Moment auf dem Gras zwischen dem Fußballplatz und den Straßen, in denen man wohnte. Wohin konnte das eigentlich führen? Ein Vogel deckte mit seinem Flug den Himmel ab.
So kamen wir sonntags immer von Spielfeld. So war es auch jetzt noch, seit Ulrich fehlte. Sah man den Unterschied überhaupt? Wenn jetzt jemand käme und von außen schaute, jemand, der uns nicht kannte, würde er Ulrichs Fehlen bemerken? Würde er erkennen, dass einer, der sonst hier dazugehörte, nicht mehr bei uns war? Als ob er stattdessen eine Lücke sähe? Ein menschenförmiges schwarzes Loch auf dem Bild unseres Nachmittags? Ulrich war groß gewesen, ein Langer. So hatten sie es auch immer über ihn gesagt: Er ist ein Langer. Es gab keine bestimmte Stelle, an der man jetzt nach ihm suchen würde, er stand mal mit diesem Grüppchen und mal mit einem anderen, oft ging er auch allein. Das Hagere, das er hatte, war eigentlich nichts Besonderes, viele hatten das, und bestimmt nicht nur hier. Wenn er seinen Ball trug, sah man auch, dass er große Hände hatte, lange Finger, sie hielten die Dinge, als könne er nicht glauben, dass sie fähig waren festzuhalten.
Wir sprechen eigentlich nicht mehr über Ulrich. Vor oder während des Spiels sowieso nicht, aber auch danach ist das Thema vor allem Fußball. Verabredungen werden getroffen, man fragt oder erzählt, was man erlebt hat. Mädchengeschichten, ein paar. Eine Serie auf Netflix. Ein neues Game. Lachen. Das sind die Gespräche. Aber nicht über Ulrich. Man spricht nicht über die Dinge, die nicht da sind. Wie viel müsste sonst gesprochen werden.
Am Anfang vielleicht für eine kurze Zeit schon, als Ulrichs Verschwinden neu war. Die Nachricht ging so kreuz und quer durch die Gruppen, verstummte wieder, flammte noch einmal auf bei denen, bei denen alles erst später ankommt, den Schnellcheckern. Es stellte sich heraus, dass noch nicht einmal alle wussten, wer Ulrich überhaupt war, und das, obwohl er jeden Sonntag mit uns gespielt hatte, seit zwei Jahren beinah. Es gab nicht mehr darüber zu sagen. Und dann noch einmal an dem Sonntag, nachdem man seine Leiche gefunden hatte, da ging sogar das Spiel etwas später los, weil alle so viel zu reden hatten, und man sah ihnen an, dass jeder es eilig hatte, alles loszuwerden, was er darüber wusste.
Und was sie redeten. Die intimsten Details wurden unter einem Schirm gesenkter Stimme preisgegeben. Ich hatte die Jungs, die nun davon erzählten, noch nie das Wort Penis sagen hören, und es dauerte einige Zeit, bis sie wieder Schwanz sagten, auch über Ulrich. Von seinem Penis war die Haut abgezogen worden, sagten sie, und die Hoden fehlten. Der Bauchraum war geöffnet worden. Die Gurgel wurde ihm durchgeschnitten. Seine Rippen waren zerquetscht. In seinem Gesicht fehlten die Zunge, die Nase und die Ohren. So fanden ihn Bauarbeiter am Montagmorgen auf der Baustelle des Einkaufszentrums im Neubaugebiet, vom Bewehrungsstahl der Mauer durchbohrt, die sie gerade gießen wollten. Später hieß es, sein Schwanz war geschält wie eine Banane. Erst hat er ihm die Eier abgefressen, und nachdem er ihn mit dem Rücken auf das Gitter gespießt hat, hat er ihn aufgeschlitzt und sich über den Rest hergemacht. Das rostige Eisen ging genau durch sein Herz, erzählten manche, aber das war wohl etwas, was einer dann schon dazuerfunden hatte.
Das war am zweiten Sonntag das, was die Älteren sagten. Sie sagten es noch einmal zueinander, obwohl jeder schon wusste, was passiert war. Die, die es zuerst so erzählten, wurden die Fachleute dafür und sie waren es, denen nun die Ereignisse gehörten, zumindest für diesen Tag und vielleicht auch noch länger. Von den Kleineren kam eine Gruppe zu mir und fragte mich, ob ich als Erwachsener glauben würde, dass sie nun Angst haben müssten, und ich sagte nein.
Am dritten Sonntag wurde nicht mehr viel über Ulrich gesprochen. Man hörte, dass dort wo das Blut in den noch feuchten Beton gezogen war, nun alles neu gemacht werden sollte auf der Baustelle. Wahrscheinlich war der Vater von einem der Älteren Arbeiter dort.
Wir stehen nicht lange auf der Wiese neben dem Fußballplatz, denn wenn es dunkel wird, soll keiner mehr draußen sein. Eine neue Regel, keiner stellt sie in Frage, es soll nur fürs Erste sein. Ein paar, die einen weiteren Weg haben, steigen auf ihre Fahrräder und fahren schon los. Nicht alle wohnen direkt in der Nachbarschaft, aber auch die mit den kürzeren Wegen beginnen jetzt davonzuziehen. Die Formalitäten des Abschieds, klatschende Hände, aneinanderstoßende Fäuste, Daumen, die sich verhaken. Bis dann. Tschau. Bis nächsten Sonntag. Oder die, die sich näher kennen, manchmal: Bis später. Beine, die Fußball gespielt haben, jetzt zum Gehen oder zum Radeln benutzt. Manche in Trainingshosen, andere in Shorts und in Strümpfen. Was so ein Mensch wert ist. Es gibt keinen Preis wie für Schwein oder Rind oder Schaffleisch. Wie viel Mühe in einem Menschen steckt, nicht immer zahlt es sich aus. Ein Junge geht an mir vorbei und schaut mich mit unsicherem Blick an. Ich weiß, er heißt Henry.
Letzte Rufe. Wer lachend ein letztes Mal winkt, obwohl niemand mehr da ist, um ihm zu winken, wer stumm aufbricht, um in die Wohnung seiner Eltern zu gehen. Im Zwielicht des Flurs werden sie ihren Rucksack ablegen und Eile haben, zum Abendessen zu kommen. Die Eltern warteten schon auf sie. Schmutzige Sachen, die zum Waschen herausgelegt werden müssen. Wie war es, wir haben schon gewartet. Im Wohnzimmer die Geschwister, vielleicht. Ein Abend am Esstisch mit der Familie, vor dem Fernseher, schließlich im Bett ihrer Jugendzimmer. Das Wochenende ist zuende, und die Schulsachen sind schon gepackt. Wer Gewinner im Spiel war und wer Verlierer, wird keine Rolle mehr spielen. Eine neue Woche bahnt sich an. Wer noch an den vergangenen Tag denkt und wer schon aufs Morgen schaut, bis der Schlaf allen die Augen schließt. Alle sind da, an diesem Sonntagabend. Der Sommernachthimmel über dem Wohngebiet ist schwer von Dunkelblau.

 

Hallo,

ein Wahnsinnstext ist das. Bestes Debüt seit sehr langer Zeit.

Für mich ist das vor allem ein Text, der auf einer Meta-Ebene funktioniert - wer erzählt wie, was, wie zuverlässig ist das, was wird gesagt und von wem. Fast postmodern schon.

Natürlich ist das ein Trick, dieses ständige Versichern, Hinterfragen, auch weil nie klar wird, welche Perspektive der Erzähler hat, wie er involviert ist, aus welcher Position er heraus berichtet. Am Anfang ist mir das zu viel, da würde ich etwas verknappen, weil es sich dann schnell verausgabt, dieser Effekt.

Auch genau die richtige Länge, noch länger, dann würde dieser Effekt versiegen, aber so, auf dieser Kürze, ist es ertragbar und tragbar.

Ja, gerne gelesen.

Gruss, Jimmy

 

Hallo Randvoll,

und Willkommen hier.

ich fand es relativ schwer, in den Text hereinzukommen. Es dauert ein wenig lange, bis es zum Punkt kommt. Fast hätte ich schon aufgehört zu lesen. Zum Glück nicht, denn die Story gefällt mir gut. :thumbsup:

Textliches:

Alle verließen den roten Platz. Wir strömten vom Spielfeld nach Hause
Den Platz verlassen, vom Spielfeld strömen. Finde ich doppelt gemoppelt.

Alle gingen zugleich, als hätte es jemand gerufen
Als hätte jemand was gerufen?

Ein Tag in der Mitte der Jahre, die waren und der Jahre, die kamen.
Da dachte ich an Mittvierziger. Dabei sind es ja Kinder/Jugendliche.

Wohin konnte das eigentlich führen? Ein Vogel deckte mit seinem Flug den Himmel ab.
So kamen wir sonntags immer von Spielfeld.
Der Vogel kommt so urplötzlich, mag gar nicht zum Text drumherum passen.

An der Formatierung könnte man noch was tun; ein paar Absätze einbauen.
Aber sonst: Ein guter Einstand. ;)

Liebe Grüße,
GoMusic

 

Hey Randvoll

Man hörte, dass dort [Komma] wo das Blut in den noch feuchten Beton gezogen war, nun alles neu gemacht werden sollte auf der Baustelle.

Ich leite meinen Kommentar mit dem Verweis auf einen Kommafehler ein. Das war's dann aber auch schon mit Kritik.

Was mich besonders beeindruckt, ist die Tatsache, dass der Text mich einerseits intellektuell überzeugt. Dieses Erzählen vom Erzählen und davon, wie sich die Bedeutungen verschieben, wie man eine Zeitlang das taktvolle "Penis" verwendet, um dann wieder zum "Schwanz" zurückzukehren. Wie Details dazugedichtet werden - hast du auch gemacht, nicht? - und anderes vergessen geht usw., usw. Das ist alles echt clever, wie ich finde.

Andererseits erzeugt das erzählerische Schwanken, dieses Zögern und Fragen, oder z.B. die Tatsache, dass Menschen als Ansammlung von Gliedmassen, Händen, Füssen, Beinen präsentiert werden, eine ganz eigentümliche Stimmung. Ich erfahre beinahe nichts über diese Gruppe und gleichzeitig alles und das wirkt eben auch auf der emotionalen Ebene.

Man spricht nicht über die Dinge, die nicht da sind. Wie viel müsste sonst gesprochen werden.

Exemplarisch für die zahlreichen klugen Stellen habe ich die hier rausgegriffen, einfach, um noch mal meiner Begeisterung Ausdruck verleihen zu können.

Lieber Gruss und ein herzliches Willkommen!
Peeperkorn

 

Hallo Randvoll,

wirklich ein sehr eindrucksvoller, beeindruckender Text. Ich weiß da gar nicht viel zu sagen, außer dass ich große Hochachtung davor habe, wenn man so schreiben kann, so unaufdringlich und ruhig, während dennoch all die Bedrohlichkeit der Szene machtvoll ins Bewusstsein kriecht. Wirklich toll!

Da freu ich mich schon richtig auf weitere Texte. :)

LG

 

Hallo,

danke für euer Feedback, ich habe mich sehr darüber gefreut.
Du hast recht, da ist ein Kommafehler, danke, Peeperkorn.

Da dachte ich an Mittvierziger. Dabei sind es ja Kinder/Jugendliche.

Der Erzähler ist aber ein Erwachsener, vielleicht sogar ein Mittvierziger. Diese Information kommt eher beiläufig daher - zu beiläufig?

Danke noch mal fürs Lesen und eure Kritikpunkte.

 

Hallo Randvoll,

Der Erzähler ist aber ein Erwachsener, vielleicht sogar ein Mittvierziger.

Jetzt, wo du es sagst, habe ich es verstanden. :schiel:

Diese beiden Aussagen waren es, wo ich dachte, der Erzähler sei einer von den Kids:

Verabredungen werden getroffen, man fragt oder erzählt, was man erlebt hat. Mädchengeschichten, ein paar. Eine Serie auf Netflix. Ein neues Game.
wer stumm aufbricht, um in die Wohnung seiner Eltern zu gehen.

Doch hier wird klar, dass es ein Erwachsener ist:
Von den Kleineren kam eine Gruppe zu mir und fragte mich, ob ich als Erwachsener glauben würde, dass sie nun Angst haben müssten, und ich sagte nein.

Leider hat das bei mir nicht so richtig funktioniert. Womöglich habe ich das nicht konzentriert genug gelesen oder habe mich durch die obigen Aussagen in die Irre führen lassen.

Diese Information kommt eher beiläufig daher - zu beiläufig?
Wenn du mich so direkt fragst, sage ich: „ja“. :Pfeif:

Viel Spaß noch hier.

Liebe Grüße,
GoMusic

 

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