Mitglied
- Beitritt
- 03.07.2002
- Beiträge
- 1
Im Westen nichts Neues
Seit Stunden hat mein Gaspedal fast keine Bedeutung mehr. Die sonst so freie Autobahn wird coloriert vom unregelmäßigen Bremsen der Fahrzeuge vor mir. Kurze Phasen des fließenden Verkehrs geben die Erinnerung an diese herrliche Strecke zurück, auf der die 150 Pferde meines Wagens eigentlich ihre ganze Stärke entfalten können. Wie oft bin ich diese Strecke schon gefahren. Und mit wieviel Wohlgefühl konnte sich die Tachonadel über längere Zeit am Anschlag des Geschwindigkeitsmessers wohlfühlen.
Regen und Sonne wechseln sich ab. Es ist faszinierend zu sehen, wie sich innerhalb von wenigen Metern eine geschlossene Fläche glänzenden Himmels zu staubtrockener Oberfläche wandelt.
Ich kenne die Strecke.
Gerade war wieder für eine kurze Zeit die Gelegenheit, den Motor durchatmen lassen zu können, als wieder eine Wand von Rot der vorfahrenden Autos mir das Gefühl von Freiheit nimmt.
Das war es dann mal wieder. Aber ... irgendetwas ist anders.
Rechtsblinkende Fahrzeuge erwecken in mir Interesse auf freie Sicht. Ich kann den Kühler eines Fahrzeuges wenige hundert Meter vor mir auf der linken Spur sehen. Den Kühler? Ein Unfall! Zuviele Fahrzeuge, auf der linken Spur, die nicht blinken. Fahrzeuge, die stehen. Fahrzeuge, die Teil des Unfalls sind.
Ich ordne mich rechts ein.
Ein Mann bemüht sich, einen Platz für ein Warndreieck zu finden. Ein winziges Zeichen Plastik für das, was Teil des Weges geworden ist. Splitter zerborstenen Glases, Teile von dem, was der Stolz des Besitzers gewesen sein konnte, liegen weit verstreut vor mir. Menschen, die in Gruppen zusammenstehen. Ich kann ihr hilfloses Schweigen hören. Auto an Auto steht dort. Großzügiges Interieur und familienfreundliches Raumangebot haben Ihren Platz mit hässlicher Unsymetrie getauscht.
Ein paar Menschen hüllen etwas mit einer goldenen Thermodecke ein. Ein kleiner Schuh an einem zitternden Bein, das sich vor der Wärmung wehrt, lässt mich eine Frau erkennen, für die die Straße ihre Bedeutung verloren hat.
Meter um Meter fahre ich weiter. Ich habe aufgehört, die zerstörten Träume zu zählen. Zwei-, dreihundert Meter Schicksalserfüllung geben die Sicht frei auf dreispurige Leere. Der Sportwagen, der noch gerade vor mir fuhr, ist schon kaum noch zu erkennen.
Ich bleibe rechts. Ich schalte das Radio ein. Es müssten gleich Nachrichten kommen.
Die leidige Diskussion um die Stasiakten, belagerte Palästinenser, Deutschland im Finale. Nichts. Das Übliche. Dann die Verkehrsmeldungen ...
A2 Richtung Hannover, in Höhe Herford, 3 km Stau wegen eines Unfalls. Und jetzt weiter im Programm.
Ich bleibe nicht lange rechts. Die Bahn ist frei.
Ich kenne die Strecke.