Im Vertrauen
Im Vertrauen
Vertrauen ist keine Tugend, die einfach so über Jason Manning kam.
Er bahnte sich seinen Weg an die Spitze der internationalen Aufstiegsmöglichkeit, indem er sich hauptsächlich weigerte irgendjemandem zu vertrauen; nicht seinen Geschäftspartnern, nicht seinen Rivalen oder seinen Feinden, nicht seinen sogenannten Freunden, nicht einer einzigen seiner Ehefrauen und sicherlich auch keiner seiner Mätressen.
„Traue niemandem!“, hatte sein heiliggesprochner Vater ihm seit seiner Kindheit so oft gesagt, dass Jason sich beim besten Willen nicht mehr daran erinnern konnte, wann der Alte es das erste Mal zu ihm gesagt hatte.
Jason befolgte den Rat seines Vaters so gut, dass er mit seinem vierzigsten Lebensjahr einer der zwölf wohlhabendsten Männern Amerikas war. Seinen Aufstieg zum Reichtum vollbrachte er, indem er den Platz des Alten in dessen Unternehmen einnahm und seinen alten Vater damit entthronte. Der Alte schaute tödlich überrascht als Jason ihn aus seinem eigenen Konzern und der Gesellschaft verdrängte.
Deshalb war Jason auch in erheblichen Schwierigkeiten, als er knapp zehn Jahre später erfuhr, dass er bald sterben würde.
Natürlich vertraute er nicht der Diagnose seines Hausarztes. Pankreaskrebs. Er konnte keinen Pankreaskrebs haben. Das ist nur eine dieser grausamen Vergeltungen, die Mutter Natur an Leuten ausübt, die nicht richtig auf ihren Körper geachtet haben. Jason hatte niemals geraucht, trank selten und dann immer in Maßen und seit seiner Kindheit hatte er immer seinen Broccoli und die ganze andere gesunde Nahrung gegessen, die seine Mutter ihm aufgetischt hatte. Sein ganzes Erwachsenenleben folgte er einer strickten Kur für gute Muskulatur, wenig Fett und mit Aerobicübungen.
„Ich will eine zweite Untersuchung!“ fauchte Jason seinen Arzt an.
„Sicher,“ sagte der traurigaussehende Doktor. Er gab ihm die Adresse des besten Arztes in der Stadt.
Jason vertraute dieser Empfehlung jedoch nicht und suchte sich seinen eigenen Experten.
„Pankreaskrebs.“ sagte die führende Medizinerin des berühmtesten Hospitals der Stadt traurig. Jason schnaubte die Ärztin wütend an, machte eine Kehrtwende und verschwand, fest entschlossen seinen großzügigen Jahresbeitrag an das Hospital zu streichen. Daraufhin eignete er sich einen Decknamen an und flog alleine in der Touristenklasse über den Ozean und ließ sich dort bei weiteren sechs Ärzte in sechs verschiedenen Ländern untersuchen, ohne je jemandem anzuvertrauen, wer er wirklich war.
Pankreaskrebs.
„Es wird stetig schmerzvoller,“ einer der Diagnostiker sagte ihm das sein Gesicht ihn schwach an den Chef eines großen Unternehmens erinnere.
Ein Anderer warnte ihn: „Am Ende werden sogar unsere besten Schmerzmittel fast nutzlos sein.“, danach brach er in Tränen aus, um sein Mitgefühl zu zeigen. Ein echter Italiener.
Und ein weiterer Arzt, ein freundlicher Schwede, gab Jason den Namen eines Sterbehilfen-Experten. „Er kann ihren Abschied lindern,“ erzählte er ihm.
„Ich kann das nicht tun,“ murmelte Jason, fast benommen. „Ich bin katholisch.“
Der schwedische Doktor nickte verständnisvoll.
Auf dem langen Heimflug musste er letztendlich anerkennen, dass der Tod ihn bald holen würde und das ganze Broccoli und sein privates Gesundheitsprogramm ungeachtet blieben.
„Um Gottes Willen, ich hätten nicht einmal meiner Mutter vertrauen dürfen,“ wurde ihm klar. Ihr und ihrem, „Iß alles auf, Jace. Es ist gut für dich.“
Wenn es auch nur eine Person im gesamten Universum gab, der Jason nahezu vertraute, dann war es sein Bruder, der Priester.
So kam es nach drei Wochen, die Jason nutzte um diverse relativ komplizierte Vorbereitungen zu treffen, dass sein Chauffeur ihn zu dem vornehmen Bostoner Vorort fuhr, indem Monsignore Michael Manning als Pastor in der St. Raphaels Kirche diente.
Diese Neuigkeiten betrübten Michael. „Ich schätze das ist es wohl, was auch mich erwartet.“ Michael war fünf Jahre jünger als Jason und hat mitfühlend alle Anfälle und Krankheiten seines Bruders mitbekommen - Windpocken, Masern und Mumps. Als Jugendlicher hatte er sich sogar exakt denselben Knochen am Bein gebrochen, wie sein Bruder fünf Jahre zuvor und auch auf dieselbe Art: Er ist ins dritte Base geschlittert, auf dem selben Baseballfeld.
Jason lehnte sich in den glasgrünen Ledersessel und starrte in den knisternden Kamin und bemerkte dabei, so wie jedes mal wenn er seinen Bruder besuchte, dass Michaels Armutsgelübde ihn nicht daran hinderte ziemlich komfortabel zu leben. Das Pfarrhaus war ein prachtvolles altes Haus, dass von treuen Gemeindemitgliedern in einen sehr guten Zustand gebracht worden war und normalerweise immer mit Lebensmitteln und diversen Erfrischungen von den lokalen Händlern ausgestattet war. Auf dem Kaffeetisch zwischen den Beiden stand ein silbernes Kaffeetablett, auf welchem sich zartes chinesisches Geschirr und eine feine englische Kaffeekanne mit dampfenden Kräutertee befand.
„Und es gibt nichts was man dagegen tun kann?“, fragte Michael in brüderlicher Besorgnis.
„Nicht in dieser Zeit“, sagte Jason.
„Wie lange ...?“
„Möglicherweise hundert Jahre, vielleicht auch noch mehr.“
Michael blinzelte verwirrt. „Hundert Jahre? Worüber redest du überhaupt?“
„Freezing.“
„Freezing?“
„Freezing.”, wiederholte Jason. “Ich werde mich einfrieren lassen bis die medizinische Wissenschaft herausgefunden hat, wie man Pankreaskrebs heilt. Dann werde ich wieder aufgetaut und kann mein Leben wieder fortsetzen.“
Michael richtete sich auf. „Du darfst dich nicht einfrieren lassen Jason. Nicht bis du tot bist.“
„Ich werde nicht dasitzen und darauf warten, dass der Krebs mich tötet.“, sagte Jason und dachte dabei an den Schmerz. „Ich werden einen Doktor finden, der mir die Injektion gibt.“
„Aber das wäre Selbstmord! Eine Todsünde!“
„Ich werde nicht für immer tot sein. Nur solange bis sie es gelernt haben meinen Krebs zu heilen.
Angst stand in Michaels Augen. „Jace, hör mir zu. Eine tödliche Spritze zu nehmen ist Selbstmord.“
„Es muss getan werden. Sie können mich nicht einfrieren, wenn ich noch lebe. Und selbst wenn sie es täten, das würde mein Herz genauso zum Stillstand bringen wie die Injektion und ich wäre sowieso tot.“
„Es ist immer noch Selbstmord, Jace.“ , Michael war wirklich bestürzt. „Aber die heilige Kirche lehrt - “
„Die heilige Kirche ist ein par Jahrhunderte hinter dem heutigen Stand.“ , murmelte Jason.
„Es ist nicht Selbstmord. Es ist mehr wie ...eine Langzeit-Betäubung.“
„Du wärest gesetzlich tot.“
„Aber nicht moralisch tot.“ , bestand Jason.
„Immer noch ...“ , flüsterte Michael und faltete seine Hände wie zum Gebet.
„Ich begehe keinen Selbstmord.“ , versuchte Jason zu erklären. „Ich werde nur einige Zeit schlafen gehen. Ich begehe dadurch keine Sünde.“
Michael war der Beichtvater seines Bruders, seitdem er geweiht worden war. Er hatte einen Teil seiner Sünden gehört.
„Du betrittst einen sehr schmalen Grat, Jace.“ , warnte der Pastor seinen Bruder.
„Mike. Die Kirche muss endlich lernen mit der modernen Welt umzugehen.“
„Ja vielleicht. Aber ich denke hier an die gesetzlichen Aspekte. Deine Ärzte müssen dich für gesetzlich tot erklären, oder?“
„Es ist ganz schön kompliziert. Ich muss mir die Injektion wohl selbst spritzen, denn sonst kann der Staat die Ärzte wegen Mordes anklagen.“
„Der Staat erlaubt doch Sterbehilfe, oder?“ , fragte Michael dunkel.
„Ja, auch wenn du denkst, dass es eine Sünde ist!
„Es ist eine Sünde.“ , fauchte Michael. „Das ist nicht eine Meinung, das ist Fakt.“
„Die Kirche wird ihre Meinung dazu früher oder später ändern.“ , sagte Jason.
„Niemals!“
„Sie muss! Die Kirche kann sich nicht ewig vor der Moderne verstecken. Sie muss sich ändern, Mike.“
„Du kannst nicht die Moral ändern. Was vor zweitausend Jahren wahr war, ist es auch heute noch.“
Jason massierte sich die Schläfe. Kopfschmerzen bahnten sich ihren Weg durch seine Nervenbahnen, auf die selbe Art wie immer, wenn er und Michael stritten.
„Mike, ich kam nicht her, um mich mit dir zu streiten.“
Der Priester wurde augenblicklich ruhig. „Entschuldige, Jace. Es ist nur ... du riskierst viel. Ich befürchte du wirst nie wieder aufwachen. Ich befürchte du stirbst während des Einfrierens.
Wird Gott dir den Selbstmord vergeben?“
Jason geriet wieder in diese Stimmung, die ihn immer Contra-Argumente einfallen lies, um Michael zu überzeugen bzw. zu trotzen. „Gott ist viel klüger als wir, Mike.“
Michael lächelte reuevoll. „Ja, ich nehme an, dass er es ist.“
„Ich werde es tun, Mike. Ich werde nicht diese Höllenqual erleiden, um dann endgültig zu sterben. Nicht wenn ich es vermeiden kann.“
Sein Bruder stimmte dem mit einem resignierten Achselzucken zu. Aber dann saß er wieder stocksteif in seinem Sessel.
„Was ist los?“ , fragte Jason.
„Du wärest gesetzlich tot?“ , fragte Michael.
„Ja ich sagte dir doch ...?“
„Dann würde dein Vermögen vererbt werden.“
„Nein, ich werde nicht...“ , Jason starrte seinen Bruder an. „Oh mein Gott!“, keuchte Jason.
„Mein Vermögen! Ich muss sicher gehen, dass es sicher verwahrt wird solange ich eingefroren bin.“
Michael nickte zustimmend. „Du willst doch nicht, dass dein Geld verschlungen wird solange du dich im Cryo-schlaf befindest. Du würdest aufwachen und mittellos sein.“
„Meine Kinder haben alle ihre eigenen Anwälte.“, stöhnte Jason.
„Meine Bankiers. Meine Ex-Frauen!“
Jason rannte aus dem Pfarrhaus.
Obwohl die Ärzte ihm versichert hatten, dass es Monate dauern würde, bis der Schmerz stark würde, konnte Jason schon den Krebs in seinem Darm fühlen, der wuchs und sich von Jasons gesunden Zellen ernährte, während er verzweifelt versuchte seinen weltlichen Besitz zu verstauen, so das niemand ihn stehlen könne, solange er eingefroren in einer Säule aus flüssigem Stickstoff läge.
Sein Vermögen war riesig. In seinem Testament hinterließ er großzügige Summen an seine fünf Kinder und seine fünf Ex-Frauen. Obwohl diese sich gegenseitig hassten, wusste Jason, dass sie sich, in dem Augenblick in dem er sich einfrieren lassen würde, vereinigen würden, um sich in ihrer Gier auch den Rest seines Vermögens einzuverleiben.
„Ich brauche dieses Geld.“, flüsterte sich Jason zu. „Ich werde in hundert Jahren nicht mittellos aufwachen.“
Sein hohes Firmenpersonal schlug vor Finanzberater mit einzubeziehen. Diese Finanzberater sagten ihm, sie bräuchten den Rat einiger mit der Verfassung vertrauten Anwälte in Washington.
„Diese Angelegenheit wird definitiv vor dem höchsten Gericht ausgetragen werden müssen.“ ,beichtete ihm sein bester Anwalt. „Ich meine, wir reden hier über die Definition von Tod. Das, was sie Vorhaben ist aktive Sterbehilfe und diese ist illegal.“
„Vielleicht sollte ich mit dem Cryoschlaf warten, bis diese Definition sich zu meinem Gunsten ändert. Ich denke da an die Legalisierung der Sterbehilfe.“ , schlug Jason vor.
Sein Top Anwalt zuckte nur mit seinen in einen Armanianzug eingekleideten Schultern. „Dann stellen sie sich schon darauf ein zehn Jahre oder noch mehr zu warten. Wie sie wahrscheinlich bereits wissen, erfordern diese Dinge viel Zeit.“
Jason hatte nicht einmal zehn Monate mehr. Er knirschte mit den Zähnen und fuhr mit der Planung für den Cryoschlaf fort, während er seinen Anwälten erzählte, sein Testament bzw. sein letzter Wille solle „bombenfest“, unwiderrufbar, idiotensicher und unzerbrechlich sein.
Sie nickten mit ihren Köpfen in Gleichklang und verzogen dabei ihre blassen Gesichter, als hätten sie Zahnschmerzen.
„So etwas wie ein unzerbrechliches Testament gibt es nicht.“ , warnte der älteste Anwalt Jason. „Wenn ihre mutmaßlichen Erben genug Zeit haben, um –“
„Und das Geld –“ , sagte einer der jüngeren Anwälte.
„Oder die Aussicht auf Geld –“ , fügte noch ein junger Anwalt hinzu.
„Dann besteht die hohe Gefahr, dass das Testament gebrochen wird.“
Jason knurrte sie an.
Seine Krankheit und die Pläne des Einfrierens überschritten die Grenze der Möglichkeiten, die der Geschäftsführung zur Verfügung standen. Nach alldem konnte man Niemandem dieses bedeutsame Geheimnis mehr anvertrauen und Gerüchte zirkulierten an der Wall Street.
Journalisten und Reporter begannen herumzuschnüffeln.
Jason stellte fest, dass sein Geheimnis schließlich doch die Öffentlichkeit erreicht hatte, als ihn eine Delegation von Bankiers einlud mit ihnen zu speisen. Es waren fette, glatzköpfige Männer, doch sie guckten besorgt, als Jason sich mit ihnen in den privaten Speisesaal des exklusiven Innenstadtclubs setzte.
„Ist es wahr?“ ,fragte der jüngste der Gruppe. „Werden sie sterben?“
Die Anderen, die um den runden Tisch saßen, spielten Verlegenheit vor, lehnten sich aber vor, um Jasons Antwort hören zu können.
Er antwortete ihnen monoton aber ehrlich.
Der älteste Bankier war eine weißhaarige Frau mit einem strengen Blick und einem hervorstehendem Kiefer. Sie sprach ebenso monoton wie Jason zuvor und sagte:
„Ihre vielen diversen Unternehmen schulden unseren Banken mehrere Billionen Dollar.“
„So ist das Geschäft.“ , antwortete er. „Banken leihen ständig Billionen an andere Unternehmen. Wieso sind sie so besorgt?“
„Es ist die Ungewissheit, die dieses Vorhaben mit sich bringt.“ , brachte wieder der jüngste hervor. „Werden sie Tod sein oder nicht?“
„Ich werde für einige Zeit tot sein.“ , antwortete Jason. „Aber das ist nur eine gesetzliche Bedingung. Ich komme wieder.“
„Ja.“, murmelte einer der älteren Bankiers. „Aber wann?“
Achselzuckend antwortete Jason, „Das, kann ich ihnen nicht sagen, denn ich weiß es nicht.“
„Aber was passiert mit ihren Unternehmen in dieser Zeit?“
„Was wird aus unseren großzügigen Darlehen?“
Jason sah, was die Bankiers im Auge hatten. Rückzahlung. Sofortige Rückzahlung. Das Kapital in Besitz bringen und verkaufen. Die Bänke würden einen schönen Profit erzielen und seine Feinde würden fröhlich sein gesamtes Imperium unter sich aufteilen. Sein Vermögen, das hauptsächlich auf dem Wert seiner eigenen Unternehmen aufbaut, würde dahinschwinden.
Jason ging nach dem Essen mit den Bankiers in sein kostspieliges Büro und schluckte seine Medizin. Plötzlich stürmte eine Frau in sein Büro. Ihr Haar war zerzaust von dem Kampf mit den Sekretärinnen, Assistenten und Büromanagern; sie musste sich durchkämpfen um in Jasons Büro zu gelangen.
Jason schaute mit gläsernen Augen hoch, weg von dem Fläschchen mit der Medizin; sie schritt ein und schloss die große Doppeltüre hinter sich zu und ein siegesbewusstes Lächeln lag in ihrem schönen jungen Gesicht. Er brauchte nicht zu fragen, wer sie war oder warum sie sein Büro überfiel. Er bemerkte diesen Finanzamtblick auf ihrem Gesicht - schlau, wissend, schonungslos und überzeugt von ihrer Macht.
„Kann man nicht einmal sterben ohne von dem Finanzamt gehetzt zu werden?“, stöhnte er.
Sie sah schön aus und hatte einen Blick wie eine Raubkatze. Sie erinnerte ihn an seine zweite Frau. Sie schlich langsam über den dicken kostspieligen Teppich in Jasons Büro und setzte sich elegant auf den, eigens für dieses Büro entworfenen Stuhl vor seinem Schreibtisch.
„Wir verstehen, dass sie sich einfrieren lassen wollen, Herr Manning.“ Ihre Stimme war ein leises Schnurren.
„Ich sterbe.“, sagte Jason.
„Sie müssen dennoch ihre hintere Steuer bezahlen, tot oder lebendig.“, sagte sie.
„Regeln sie das mit meinen Anwälten, dafür werden sie bezahlt.“
„Das ist eine ungewöhnliche Situation, Mr. Manning. Wir hatten noch nie Umgang mit einem Steuerzahler, der sich selbst einfrieren lassen will.“ Sie erhob eine von ihren schön geschwungenen Brauen und schaute ihn an. “Das wird doch wohl kein sorgfältig ausgearbeitetes Schema sein um die Zahlung der hinteren Steuern zu vermeiden, oder?“
„Denken sie etwa ich würde mir eine tödliche Krankheit selbst zufügen nur um Steuern zu hinterziehen?“
„Nun, wir müssen ihren ganzen Besitz beschlagnahmen sobald sie eingefroren sind.“
„Wie bitte?“
„Wir werden ihren Besitz beschlagnahmen! Bis wir ein Gericht haben, das entscheidet ob sie vorsätzlich versuchen sich ihrer Steuerzahlerpflichten zu entziehen oder nicht.“
„Das würde meine Unternehmen und meine Aktien ruinieren!“, entfuhr es Jason. “Es wäre ihr sicherer Untergang.“
„Das ist unvermeidlich.“, sagte die Zuständige für das Finanzamt, während es in ihren goldig-braunen Augen glänzte.
„Warum holt ihr nicht sofort eure Gewehre heraus und bringt mich gleich, hier und jetzt um?“
Sie fing an zu lächeln. „Es ist komisch. Wissen sie - man zu sagen pflegt, dass es nur zwei absolute Gewissheiten auf der Welt gibt. Diese sind der Tod und Steuern. Nun den Tod können sie vielleicht umgehen.“ Ihr Lächeln wich und sie beendete den Satz kalt, “aber Steuern werden immer mit ihnen sein. Immer!“
Mit diesem Satz erhob sie sich vom Stuhl und verließ dringlich das Büro.
Jason schnappte nach dem Telefon und rief seinen Versicherungsagenten an.
Dieser Mann war kein geringerer als der Präsident von Amalgamated Life Assurance Society, Inc., der größten Versicherungsagentur in Hartford, eine Stadt, die immer noch als Hochburg der Versicherungen in der Welt gilt. Er und Jason sind seit Jahrzehnten Freunde gewesen – nun, eigentlich mehr Bekannte. Wie Jason hatte auch die Versicherungsgesellschaft sich an die Spitze aller Versicherungen gekämpft, obwohl auch sein Bekannter mit praktisch nichts in den Händen angefangen hatte, außer dem bescheidenen Lohn seines Vaters und den Aktien von AT&T, die seine Mutter besessen hatte.
„Es ist das beste, das du machen kannst, Jason!“, bezeugte ihm der Bekannte von der Versicherungsgesellschaft. „Eine Lebensversicherung ist die sicherste Investition auf der Welt. Übrigens sind die Begünstigungen beim Auszahlen steuerfrei.“
Das wärmte Jasons Herz. Er lächelte in den Übertragungsbildschirm seines Telephons. Sein Bekannter war hübsch, sein Haar war grau meliert fast silbern und sein Gesicht braungebrannt und seine Haut gestrafft von der besten Kosmetikchirurgie, die man für Geld kaufen konnte.
„Die Anzahlung,“ ,fügte er hinzu, „wird ein wenig hoch sein, Jace. Aber du hast ja auch nur noch wenig Zeit bis du gehst.“
„Aber ich will mein Vermögen beschützt und sicher sehen,“ ,sagte Jason. „Was ist wenn ich mein ganzes Kapital in eine Lebensversicherung investiere?“
Für den Bruchteil einer Sekunde sah Jasons Bekannter aus wie jemand, dem ein Engel persönlich versichert hatte, dass er in unendlicher Wonne leben werde.
„Dein ganzes Vermögen?“, keuchte der Bekannte von der Versicherung.
„Alle meine weltlichen Besitztümer.“
Der Mann hatte ein breites Lächeln, zu breit, dachte Jason. „Das wäre perfekt“, sagte er, um Selbstkontrolle ringend. „Wirklich perfekt. Wir würden ausgezeichnet für deinen Besitz sorgen. Niemand wäre fähig seine Hand daran zu legen, glaub mir.“
Jason fühlte das alte Warnsignal und hörte die Stimme seines Vaters zu ihm flüstern.
„Mein Kapital wird in deinen Händen wirklich sicher sein?“
„Vollkommen sicher!“, bezeugte ihm sein ehemaliger Freund.
„Wir reden hier über eine sehr lange Zeit“, sagte Jason. “Ich könnte über viele Jahre hinweg eingefroren sein. Vielleicht ein ganzes Jahrhundert oder noch länger.“
„Die Versicherungsindustrie gibt es bereits seit Jahrhunderten, Jace. Wir sind die stabilste Institution der modernen Zivilisation.“
Genau in diesem Moment flackerte der Bildschirm und wurde schwarz. Jason dachte, dass die Verbindung getrennt worden war. Doch bevor er irgendetwas dagegen tun konnte, erschien das Gesicht eines jungen orientalischen Gentleman auf dem Übertragungsbildschirm, das ihn anlächelte.
„Ich bin der neue Vorstandsleiter von Amalgamated Life,“ , sagte er mit einer perfekten Aussprache. „Wie darf ich ihnen helfen?“
„Was ist mit - “
„Amalgamated ist von Lucky Sun Corporation, einer Tochterfirma von Bali Entertainment und Gambling Limited übernommen worden. Wir verändern und revolutionieren zur Zeit das Versicherungswesen. Unser neues Hauptquartier wird in Las Vegas, Nevada sein. Nun, wie kann ich ihnen dienlich sein?“
Jason schrie kurz und legte auf.
Wem kann ich trauen? Fragte er sich selbst wieder und wieder, während sein Chauffeur ihn zu seinem palastartigen Haus brachte, weit außerhalb der Stadt auf einem großen Landsitz. Ich habe keine sieben Zwerge, dachte Jason den Tränen nahe. Ich habe niemanden. Ich habe gar keine Menschenseele.
Der Mordversuch löste sein Problem beinahe.
Mit Ausnahme der Diener war er alleine in seinem großen geräumigen Haus. Wie so oft stand Jason auf seiner überglasten Veranda und überblickte die schöne bewaldete Schlucht, die ihm eine freie Sicht auf den Sonnenuntergang ermöglichte. Die Industrieabgase aus der fernen Stadt brachten den Himmel zum feurigen Leuchten; bestechende Farbverläufe von Orange bis Rot. Jason goss sich den sehnlich gebrauchten Whisky in ein schweres Kristallglas, er versuchte krampfhaft seine Furcht zu verdrängen, während er der Sonne beim untergehen zuschaute.
Er wusste, dass ihm nur noch einige wenige kostbare Sonnenuntergänge bleiben würden. Okay, ich werde nicht wirklich tot sein, erzählte er sich selbst. Ich werde nur für eine Weile eingefroren im Eis liegen. So wie bei einem Schlaf. Ich werde nur später als üblich erwachen.
Ach ja? Forderte ihn eine Stimme in seinem Kopf heraus. Wer wird dich auferwecken? Was lässt dich denken, dass sie sich jahrelang, vielleicht sogar Jahrhunderte lang, um dich sorgen werden? Was wird sie davon abhalten einfach den Stecker zu ziehen? Oder deinen Körper an ein medizinisches Labor zu verkaufen? Oder eine Metzgerei?
Jason schauderten diese Gedanken. Er drehte sich abrupt um und ging hastig Richtung Tür, als wie aus dem Nichts eine Kugel das gebogene Glass zerbrach genau an der Stelle, an der er wenige Sekunden vorher gestanden hatte.
Es regnete Glasssplitter. Jason ließ sein Glas fallen und taumelte durch die Tür in seine Bibliothek.
„Ein Scharfschütze?“, keuchte er laut. „Hier draußen?“
Nein, dachte er kopfschüttelnd. Scharfschützen erledigen ihre Jobs in Innenstädten oder Universitätsgeländen oder auf Autobahnen und Straßen. Nicht mitten zwischen den Häusern der Reichen und Mächtigen. Er rief nach seinem Butler.
Keine Antwort.
Er schrie nach irgendjemandem der Belegschaft.
Kein Lebenszeichen.
Er robbte zu dem Telefon, das auf dem Sherry Tischlein lag, neben den geschmackvoll platzierten Sesseln beim gemütlichen Kamin. Das Telefon war tot. Er schlug einige male drauf, aber es blieb tot. Das Kaminfeuer flammte hitzig auf und bestürzte ihn so sehr, dass er fast über den Sherrytisch fiel.
Auf seine Armbanduhr schauend sah Jason, dass es genau neunzehn Uhr dreißig war. Der Hauscomputer arbeitete immer noch, merkte er. Der gasbetriebene Kamin war zur rechten Zeit gestartet worden. Aber das Telefon funktioniert nicht und die Dienerschaft erwidert nichts. Und ein wahnsinniger Scharfschütze lauert im Tal und will den Tod.
Die Tür zur Bibliothek öffnete sich langsam. Jasons Herz schlug heftig gegen seine Brust. Er fühlte das Pochen in seinem ganzen Körper.
„Waxon, Gott sei Dank, du bist es!“
Jasons Butler trug ein silbernes Tablett in seinen handschuhweißen Händen.
„Ja, Sir,“, antwortete er mit seinem gewöhnlichen, sich selbst in den Schatten stellenden Säuseln.
„Warum haben sie nicht geantwortet, als ich sie gerufen habe? Jemand hat auf mich geschossen und ich - “
„Ja, Sir, Ich weiß. Ich musste hinausgehen, zur Schlucht und mit dem Mann handeln.“
„Mit ihm handeln?“
„Ja, Sir“ flüsterte der Butler. „Es war ein professioneller Auftragskiller von ihrer dritten Frau engagiert.“
„Von Jessica?“
„Ich glaube ihre frühere Frau will sie tot sehen bevor sie das neue Testament aufsetzen.“, sagte der Butler.
„Uhhh!“ stöhnte Jason und sackte in den Sessel. All seine Kraft schien aus ihm zu entweichen.
„Ich dachte sie mögen vielleicht einen Whisky, Sir.“ Der Butler beugte sich über ihn und hielt ihm das Silbertablett hin. Das Kristallglas fing das Licht des Feuers in sich auf wie glänzende goldene und bernsteinfarbene Edelsteine. Die Eiswürfel im Glas klangen beruhigend.
„Nein danke,“ sagte Jason. „Ich habe mir bereits einen genehmigt, als ich herein gekommen bin.“
„Wollen sie keinen Weiteren, Sir?“
„Sie wissen doch, dass ich nie mehr als einen Whisky am Abend trinke.“ Jason schaute hoch in das Gesicht des Butlers. Waxon hatte schon immer ausgesehen wie eine Wachsfigur - so ausdruckslos. Aber in diesem Moment, mit dem tanzendem Feuerschein auf seinen Gesichtszügen, sah er - aufmerksam, wohlmeinend aus.
„Sollten wir nicht die Polizei rufen?“, fragte Jason. „Ich meine, der Mann hat versucht mich umzubringen.
„Es ist schon für alles gesorgt, Sir.“, Waxon bewegte das Tablett mit dem Glas näher zu Jason, „Ihr Whisky, Sir.“
„Ich will keinen weiteren Whisky, verdammt!“
Der Butler schaute enttäuscht auf das Glas. „Ich dachte lediglich, nach all der Aufregung wäre…“
Jason schickte den Butler fort, der aber das Glas auf dem Tischchen neben dem Sessel stehen ließ. Allein in seiner Bibliothek starrte Jason wie gefesselt die Flammen im Gaskamin an. Das Kristallglas glitzerte und blinkte verlockend. Möglicherweise ist ein weiterer Whiskey genau das, was ich jetzt brauche, sagte Jason sich selbst. Es war schließlich ein harter Tag.
Er legte das Glas auf seine Lippe und stoppte. Waxon weiß, dass ich nie mehr als einen Drink am Abend trinke. Wieso sollte er…?
Gift! Jason warf das Glas in den Kamin, sprang aus dem Sessel und hetzte zur Garage. Sie wollen mich alle umbringen! Fünf Frauen, fünf Kinder, zehn Anwaltskanzleien, Bankiers, das Finanzamt – ich bin ein Gejagter!
In der Garage mit dem gedimmten Licht angekommen, zögerte er einen Moment. Sie könnten eine Bombe am Ferrari angebracht haben, sagte er sich selbst. Deshalb nahm er stattdessen den Pickuptruck des Gärtners.
Als er den langen Kiesweg knirschend herunterfuhr zur Hauptstraße, zerbarsten die Fenster seiner Bibliothek durch eine spektakuläre Gasexplosion.
Nach einiger Zeit erreichte er das Pfarrhaus seines Bruders, es war beinahe Mitternacht. Aber Jason fühlte sich fremdartig ruhig, in innerem Frieden mit sich selbst und der vertrauensunwürdigen Welt, die er schon bald verlassen würde.
Jason hämmerte gegen die Tür des Pfarrhauses, bis Michaels Hausdame sich das Nachthemd über ihrem mageren Körper zuhaltend, zögernd und unwillig die Tür öffnete.
„Der werte Pfarrer schläft bereits!“, sagte sie mit einem verärgerten Stirnrunzeln.
„Wecken sie ihn!“, befahl Jason noch entschlossener.
Sie brachte ihn ins Studierzimmer und forderte ihn auf dort zu warten. Der Kamin war kalt und dunkel. Das einzige Licht in diesem Raum kam von der grünlichen Lampe auf Michaels Schreibtisch. Jason ging hin und her, zu angespannt um stillzusitzen.
Sobald Michael ins Studierzimmer gekommen war, in seinen Pantoffeln und dem Bademantel und sich den Schlaf aus den Augen reibend, schüttete Jason seine Seele aus.
„Dein ganzes Vermögen der Kirche geben?“, Michael sank in einen der Ledersessel.
„Ja!“, Jason zog den anderen Ledersessel nahe an seinen Bruder heran und lehnte sich eifrig zu ihm, „Mit gewissen Provisionen selbstverständlich!“
„Provisionen.“
Jason zählte auf seinen Fingern ab: „Erstens will ich, dass die Kirche für die Erhaltung meines Körpers sorgt. Ich will das Versprechen der Kirche, dass niemand den Stecker zur Lebenserhaltung zieht.“
Wachsam nickte Michael.
„Zweitens will ich, dass die Kirche ständige Recherchen über medizinischen Entwicklungen betreibt und entscheidet wann ich wiederbelebt werde. Und von wem.“
Erneut nickend sagte Michael: „Weiter!“
„Das war es schon!“
„Das sind die einzigen Bedingungen?“
Jason sagte: „Ja!“
Ein wenig erregt im Sessel sitzend sagte Michael: „Und was kriegt die Kirche als Gegenleistung?“
„Die Hälfte meines Vermögens.“
„Die Hälfte?“, Michaels Augebrauen hoben sich.
„Ich denke das ist fair, und du? Die Hälfte meines Vermögens für die Kirche und die andere Hälfte auf mich wartend, wenn ich wiederbelebt bin.“
„Hmmm, wie viel ist es denn? Ich meine wie groß ist dein Vermögen?“
Mit einem Achselzucken erwiderte Jason: „Ich bin mir nicht ganz sicher. Meine privaten Aktienanteile, Bankkonten, bewegliche Investitionen u.s.w. – müssten schon einige Billionen sein, vermute ich.
„Billionen?“, Michael betonte das b.
„Ja, Billionen.“
Michael schluckte.
Jason lehnte sich zurück in den glasgrünen Sessel und stieß einen langen erleichterten Seufzer heraus. „Tu das für mich und die Kirche kriegt mein halbes Vermögen. Mike, du könntest viel Gutes mit einer Billionen und ein par Dollars machen.“
Michael ließ die Hand über sein eingefallenes Kinn gleiten. „Ich muss mit dem Kardinal reden“, murmelte er. Dann lächelte er plötzlich ganz sanftmütig. „Heilige Maria Mutter Gottes, ich werde wahrscheinlich all das bis zum Vatikan bringen müssen!“
***
Als Jason aufwachte, dachte er einen erschreckend Augenblick lang, dass beim Einfrieren etwas schiefgelaufen war. Er lag immer noch auf dem Tisch umgeben von Grün tragenden Medizinern und Technikern. Die Luft fühlte sich kalt an und er sah einen schwachen Eisnebel vor seinen Augen dahintreiben.
Aber dann bemerkte er, dass die Decke des Labors tadellos weiß gewesen war, während die Decke über ihm nun farbig strahlte. Blinzelnd und fokussierend sah er, dass die Decke, die Wände und der ganze Raum dekoriert waren mit unglaublich wertvollen Gemälden der Renaissance, die Heilige abbildeten und Engel in schönen wallenden Gewändern in einer Flut von glühenden Farben.
„Wo bin ich?“, fragte er mit einer schwach krächzenden Stimme, „Welches Jahr haben wir?“
„Sie sind sicher.“, sprach eine der grünmaskierten Personen. „Sie sind von ihrer Krankheit geheilt. Das Jahr ist anno domini zweitausendneunundfünfzig.“
Ein halbes Jahrhundert, sagte Jason zu sich selbst. Ich habe es geschafft! Ich schlief mehr als fünfzig Jahre und sie haben mich wiedererweckt und ich bin geheilt und wieder gesund! Jason glitt in den beruhigendsten und süßesten Schlaf, den er je hatte. Die Tatsache, dass der Mann mit einem fremden Akzent zu ihm gesprochen hatte störte ihn nicht im Geringsten.
Die nächsten sieben Tage musste Jason sich einer Reihe von medizinischen Untersuchungen unterwerfen und endlos Fragen beantworten von Menschen, die er für Psychologen hielt. Wenn er versuchte herauszufinden wo er war oder Fragen stellte über die Welt im 21. Jahrhundert, wurde er immer vertröstet: „Später. Es wird später sehr viel Zeit dafür geben.“
Sein Zimmer war klein aber erfreulich, sein Bett komfortabel. Das einzige Fenster des Zimmers ließ den Blick zu auf einen reich verzierten Frühlingsgarten, üppige Bäume und hell blühende Blumen im glänzend strahlenden Sonnenlicht. Es regnete nur nachts und Jason wunderte sich, denn das Wetter schien irgendwie absichtlich und bewusst gesteuert zu werden.
Langsam erholte er sich. Die Krankenschwestern fuhren ihn den Korridor entlang, dessen Wände und Decke mit Fresken verziert waren. Der Ort sah weder aus wie ein Krankenhaus noch roch er wie eines. Nach einer Woche begann er selbstständig Spaziergänge im Garten zu unternehmen. Der Sonnenschein fühlte sich gut an, schön warm. Er bemerkte viele Priester und Nonnen, die auch im Garten spazierten und in fremden Sprachen redeten. Natürlich dachte Jason sich, dass dies ein Ort sein müsse, der von der Kirche geleitet wird.
Erst als er ein Trio Schweizerwächter in ihren farbigen Trachten erspähte wurde ihm klar wo er war – im Vatikan.
„Ja, es ist wahr,“ gab eine junge Frau zu, die Chefpsychologin des Erweckungsteams war. „Wir sind im Vatikan.“, sie hatte eine sanfte Stimme und sprach Jasons Sprache mit einem kaum bemerkbaren Akzent.
„Aber warum -?“
Sie berührte seine Lippen mit ihrem kühlen Finger. „Sein Heiligkeit wird ihnen alles erklären.“
„Seine Heiligkeit?“
„Il Papa. Sie werden ihn morgen sehen.“
Der Papst.
Sie gaben Jason einen neuen königsblauen Anzug zu tragen, für die Audienz mit dem Papst. Jason duschte, rasierte sich, kämmte seine Haare, zog den seidigen neuen Anzug an und wartete ungeduldig. Ich werde den Papst sehen!
Sechs Schweizer Leibwachen, drei schwarze Roben tragende Priester und ein Bischof eskortierten ihn durch die Flure des Vatikans, hinaus in den privaten Garten, durch viele Türen und ein Treppenhaus hinauf. Jason erhaschte einen flüchtigen Blick auf lange Schlangen von Touristen in weiter Entfernung, denn dieser Teil des Vatikans lag weit hinter den Grenzen für die Touristen.
Schließlich führten sie ihn in ein kleines privates Büro. Mit Ausnahme von einigen französischen Fenstern waren die Wände bedeckt mit Fresken von Raphael. In der Mitte des Marmorbodens stand ein sorgfältig und kunstvoll geschnitzter Schreibtisch. Weiterhin keine anderen Möbel im Raum. Hinter dem Schreibtisch war, kaum erkennbar, eine kleine Tür, die durch die Bilder unglaublich gut getarnt war. Jason stand aufrecht vor dem verlassenen Schreibtisch als die Schweizer Wächter, die Priester und der Bischof sich hinter ihm in eine Reihe einordneten. Dann flog die kleine Tür auf und der Papst in strahlend weißen Gewändern betrat den Raum.
Es war Michael.
Jasons Knie zitterten beinahe als er seinen Bruder sah. Er war älter aber nicht allzu viel. Sein Haare waren weiß geworden, aber sein Gesicht sah fast gleich aus, nur ein par kleine Fältchen mehr um die Augen, auf den Schläfen und um den Mund. Mikes leuchtend blaue Augen waren immer noch ungetrübt und munter. Er stand aufrecht und mühelos. Er sah aus wie ein gesunder Mitsechziger voller Vitalität, nicht wie ein etwas mehr als neunzig Jahre alter Mann, denn Jason wusste wie alt Michael schon sein müsste.
„Mike?“, verblüfft starrte Jason den Mann in den weißen Gewändern des Papstes an. „Mike, bist du es wirklich?“
„Ja, ich bin´s, Jace.“
Für einen konfusen Moment wusste Jason nicht, was er tun sollte. Er dachte er sollte vor dem Papst niederknien, seinen Ring küssen oder irgendein Zeichen des Respekts und der Verehrung erweisen. Aber wie konnte es Mike sein, wie konnte er noch so jung sein, obwohl fünfzig Jahre vorbei gegangen sind?
Dann öffnete Papst Michael der I., seinen Bruder anstrahlend, die Arme für Jason. Und Jason huschte in seine Arme und ließ sich von Mike umarmen.
„Bitte, lasst uns allein“, sagte der Papst zu den wartenden Begleitern. Die Phalanx von Priestern und Wächtern strömte geräuschlos, bis auf ein schwaches Rascheln der schwarzen Roben, aus dem Raum heraus.
„Mike du bist der Papst?“, Jason konnte es kaum glauben.
„Dank dir, Jason.“, Mikes Stimme war fest und kraftvoll, eine Stimme gewöhnt an Autorität.
„Und du siehst aus – wie alt bist du jetzt?“
„Siebenundneunzig“, lachte Michael. „Ich weiß, ich sehe nicht so aus. Es gab eine Menge Verbesserungen in der Medizin, dank dir.“
„Dank mir?“
„Du hast Dinge zum laufen gebracht, Jace. Hast mich auf den Weg gebracht, der mich hierhin geführt hat. Du hast die Welt verändert, vielmehr, als einer von uns es hätte vermuten können in den früheren Tagen.“
Jason fühlte sich schwach auf den Knien. „Ich verstehe nicht.“
Einen starken Arm um die Schultern seines Bruders werfend führte Papst Michael I. seinen Bruder zu den französischen Fenstern. Sie schritten hinaus auf einen kleinen Balkon. Als Jason sah wie hoch über der Erde sie waren, fühlte er sich ein bisschen benommen. Die Stadt Rom lag um sie herum - beeindruckende Gebäude badeten in den warmen Sonnenstrahlen, die von einem bestechend klaren Himmel kamen. Vögel zwitscherten fröhlich von den nebenstehenden Bäumen. Kirchenglocken läuteten in der Ferne.
„Hör mal!“, sagte Michael.
„Was soll ich hören?“
„Das, was du nicht hörst.“
Jason schaute seinen Bruder näher an. „Bist du in den Zen eingetreten oder so etwas?“
Michael lachte. „Jace, du hörst keine Automotoren, oder? Wir benutzten nun elektrisch betriebene Wagen, sauber und leise. Du hörst keine Hupen und Menschen, die einander verfluchen. Alle sind höflicher und viel respektvoller. Und schau dir die Luft an! Sie ist viel reiner. Kein Smog und keine Umweltverschmutzung.“
Jason nickte betäubt. „Die Dinge haben sich weit entwickelt seit dem ich abgetaucht bin.“
„Dank dir.“, sagte Michael erneut.
„Ich verstehe nicht.“
„Du hast die Kirche wiederbelebt, Jace. Und heilige Mutter, die Kirche hat die westliche Zivilisation wiederbelebt. Wir beschritten ein neues Zeitalter, ein Zeitalter des Glaubens, ein Zeitalter der Moral und des Gehorsams gegenüber dem Gesetz.“
Jason fühlte sich überwältigt: „Ich habe sie Kirche wiederbelebt?“
„Deine Idee dein Vermögen der Kirche anzuvertrauen. Ich hatte darüber nachgedacht. Bald schon verbreitete ich die Meinung, dass auf der Welt die Kirche allein vertrauenswürdig genug sei, um das Kapital von Freezees zu bewachen, - “
„Freezees?“
„Menschen, die sich selbst haben einfrieren lassen. So werden sie jetzt genannt.“
„Freezees.“, es hörte sich für Jason an wie eine Eiscremesorte, die er als kleines Kind gekannt hatte.
„Ganz recht, Jace.“, mit einem vielsagendem Blick griff Michael mit beiden Händen an die Balustrade des Balkons und fuhr fort: „Die Kirche der Mutter Gottes hat die Vollmacht über die Freezees zu wachen, während sie hilflos sind, und die Ausdauer für sie über Jahrhunderte zu sorgen, sogar Jahrtausende wenn es notwendig ist.“
„Aber wie veränderte das alles?“
„Michael grinste ihn an: „Du als einer der wenigen von allen Menschen, solltest das herausfinden können.“
„Geld!“, sagte Jason.
Papst Michael nickte nachdrücklich. „Die Reichen kamen zu uns, damit wir uns um sie sorgten während sie eingefroren wurden. Du gabst uns dein halbes Vermögen, viele andere gaben uns sehr viel mehr. Je verzweifelter sie waren, desto mehr boten sie uns an. Wir feilschten nie; wir nahmen immer das, was sie gewillt waren zu geben. Hast du eine Vorstellung davon, wie viel Geld in die Kirche floss? Nicht nur Billionen, Jace. Trillionen! Trillionen von Dollern.“
Jason dachte darüber nach wie viele Zinseszinsen seine Zinsen in einem halben Jahrhundert wohl aufgelaufen hätten. „Wie viel bin ich jetzt wert?“, fragte er.
Sein Bruder ignorierte ihn: „Mit all diesem Geld kam Macht, Jace. Echte Macht. Macht die Politiker zu bewegen. Macht ganze Nationen zu kontrollieren. Mit dieser Macht kam Autorität. Die Kirche konnte sich als moralischer Führer der westlichen Welt wieder behaupten. Die Menschen waren bereit für moralische Führung. Sie brauchten sie und wir besorgten sie. Die alten teuflischen Wesen sind weg, Jace. Verbannt.“
„Ja, aber wie viel –„
„Wir gaben es weise aus.“, sprach der Papst mit glänzenden Augen weiter. „Wir investierten in die Zukunft. Wir begannen die Welt neu zu bauen. Und das brachte uns die Dankbarkeit und die Loyalität der halben Welt.“
„Was soll ich jetzt investieren?“, fragte Jason.
Michael drehte sich ein wenig weg von ihm. „Es gibt eine neue Moral hier, eine schöne neue Welt des Glaubens und des Respekts für Autorität. Die Welt, so wie du sie kanntest, ist für immer fort, Jace. Wir haben den Hunger beendet. Wir haben die Weltpopulation stabilisiert – ohne künstliche Geburtenkontrollmethoden.“
Jason konnte es nicht vermeiden seinen Bruder anzulächeln. „Du bist immer noch gegen Verhütungsmittel.“
„Einige Dinge ändern sich nie. Eine Sünde ist immer noch eine Sünde.“
„Du dachtest temporärer Selbstmord sei ein Sünde.“, erinnerte ihn Jason.
„So ist es immer noch.“, sagte der Papst ganz ernst.
„Aber du hilfst Menschen sich selbst einzufrieren! Du hast mir doch gerade erst erzählt –„
Michael legte eine Hand auf Jasons Schulter. „Jace, nur weil diese armen angsterfüllten Seelen ihr Geld der heiligen Kirche überlassen, heißt das nicht, dass sie keine tödliche Sünde begehen, wenn sie sich umbringen.“
„Aber es ist kein Selbstmord! Ich bin in doch hier, ich bin wieder lebendig!“
„Rechtlich gesehen bist du tot.“
„Aber das – “, Jasons Atem stockte in seiner Kehle. Er mochte das Funkeln in Michaels Auge nicht. „Die heilige Kirche kann Selbstmord nicht verzeihen, Jace.“
„Aber du bist dadurch begünstigt!“
„Die Wege des Herrn sind unergründlich. Wir nutzen das Geld, das uns die Sünder leihen, für die Hilfe, aus der Welt einen schöneren Ort zu machen. Trotzdem sind sie immer noch Sünder.“
Ein schreckliche Vision begann in Jasons furchterfüllten Gedanken Form anzunehmen. „Wie – wie viele Freezees habt wiederbelebt?“, fragte er mit zittriger Stimme.
„Du bist der erste“, antwortete sein Bruder, „und der letzte.“
„Aber du kannst sie nicht eingefroren lassen! Du hast versprochen sie wiederzubeleben!“
Papst Michael schüttelte seinen Kopf langsam; sein Gesicht zeigte mehr Mitleid als Sorge. „Wir versprachen dich wiederzubeleben, Jace. Wir gaben dem Rest keine derartigen Versprechen. Wir stimmten nur ein, nach ihnen zu schauen und sie zu bewahren bis sie geheilt werden könnten von dem, was sie umgebracht hatte.
„Aber das bedeutet, dass du sie wiederbeleben musst.“
Ein frostiges Lächeln berührte dezent des Papstes Lippen. „Nein tut es nicht! Im Vertrag ist es anders bestimmt. Unsere besten Anwälte haben es bis zur Perfektion ausgelegt. Nun, viele von ihnen sind Jesuiten. Der Vertrag gibt der Kirche die Autorität zu entscheiden, wann sie wiederbelebt werden. Wie lassen sie eingefroren.“
Jason konnte fühlen wie sein Herz gegen die Rippen schlug. „Aber warum sollte irgendjemand zu euch kommen und sich einfrieren lassen, wenn niemand wiederbelebt wird? Erkennen sie denn nicht - “
„Nein, sie erkennen es nicht, Jace! Das ist der schönste Teil dessen. Wir kontrollieren die Medien vollständig. Und wenn eine Person der Gewissheit des Todes begegnet, wärst du schockiert darüber wie wenig Fragen uns gestellt werden. Wir bieten das Leben nach dem Tod, das ist von jeher unser Angebot. Sie interpretieren unser Angebot auf ihre eigene Art und Weise.“
Jason sackte auf die Steinbalustrade. „Du meinst, dass trotz all der Fortschritte in der Medizin, die ihr gemacht habt, die Menschen immer noch nicht weise geworden sind?“
„Trotz all unseren medizinischen Fortschritten, müssen Menschen immer noch sterben. Und die Reichen wollen es immer noch umgehen, wenn sie können. Dann rennen sie zu uns.“
„Und ihr erleichtert sie von ihrem Geld.“
Michaels Gesicht verhärtete. „Jace, die Kirche hat gewissenhaft ihren Handel mit dir beendet. Wir haben über dich gewacht für ein halbes Jahrhundert, und als deine Krankheit heilbar wurde haben wir dich sofort wiederbelebt, so wie es vereinbart war. Aber wozu soll ein neues Leben gut sein, wenn deine unsterbliche Seele in Gefahr ist verdammt zu werden?“
„Ich haben mich nicht selbst umgebracht!“, beharrte Jason widerspenstig.
„Was du getan hast – was alle Freezees getan haben – wird als Selbstmord erachtet in jedem Gericht der westlichen Welt.“
„Die Kirche kontrolliert die Gerichtshöfe?“
„Jeden einzelnen!“, erwiderte Michael. Er stieß einen traurigen geduldigen Seufzer aus und sagte dann: „Die Mission der heiligen Kirche ist die Errettung von Seelen, nicht Körpern. Wir werden deine Seele retten, Jace. Jetzt.“
Jason sah die Schweizer Wächter hinter den französischen Fenstern stehend auf ihn warten.
„Du hast das schon einmal durchgemacht, Jace,“, sagte ihm sein Bruder. „Du wirst nichts fühlen.“
Erschrocken schrie Jason: „Du willst mich ermorden lassen?“
„Es ist kein Mord, Jason. Wir werden dich bloß wieder einfrieren. Du wirst hinunter in die Katakomben kommen zu all den anderen.“
„Aber ich bin geheilt, verdammt! Ich bin wieder völlig in Ordnung!“
„Es ist für das Heil deiner Seele, Jace. Es ist deine Buße für die Sünden, die du auf dich geladen hast durch den Selbstmord.“
„Du frierst mich ein, damit du all das Geld behalten kannst! Und du lässt die anderen eingefroren, um auch ihr Geld zu behalten!“
„Es ist zu ihrem Besten.“, sagte Papst Michael. Er nickte den Wächtern zu, die auf den Balkon schritten und Jason ergriffen.
„Es ist wie die gottverdammte Inquisition!“, entfuhr es Jason mit gellendem Schrei, „Ihr verbrennt Menschen am Marterpfahl, um ihre Seele zu retten!“
„Es ist zu ihrem Besten, Jace.“, sagte Papst Michael, als die Wächter Jason wegschleppten. „Es dient der Welt zum Guten. Es ist auch gut für die Kirche und es dient deiner unsterblichen Seele zum Guten.“
„Gegen die Wächter ringend flehte Jason: „Wie lange wirst du mich dort unten lassen? Wann wirst du mich wiederbeleben?“
„Der Papst zuckte die Achseln: „Die heilige Kirche hat sich über zwei Jahrtausende durchgesetzt, Jace. Aber was ist schon ein Jahrtausend oder zwei, wenn du auf den endgültigen Erlöser wartest?“
„Mike!“, brüllte Jason. „Um Gottes Willen!“
„Gott ist viel klüger als wir Beide!“, sagte Michael grimmig. „Vertrau mir!“