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Im Untergrund

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30.12.2002
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Im Untergrund

Ich komme zu mir und weiß nicht, wo ich bin.
Ich sehe mich auf einem Stuhl sitzen, inmitten blass aussehender Gestalten.

Da fällt es mir wieder ein: ich bin tot. Ich bin gerade gestorben. Also bin ich eine frische Leiche.

Ich schnuppere an meinem Arm. Da ich erst relativ kurze Zeit tot bin, habe ich noch etwas vom Duft des Lebens an mir. Das tröstet mich ein wenig über meine Lage hinweg.

Ich sehe mich neugierig um, unterziehe meine Leidensgenossen einer genauen Inspektion.

Ich kann gar nicht glauben, dass sie alle tot sind. Sie wirken so lebendig, wie sie da mit zumeist missmutigen Gesichtern auf ihren Stühlen sitzen, kerzengerade.
Sie unterhalten sich leise miteinander.
Da bemerke ich, dass sie über mich reden. Ich konzentriere mich auf das, was sie sagen.

„Du musst dir möglichst bald die Unterleibsorgane entfernen lassen,“ raunt eine mir gegenübersitzende hübsche Frau mit langen, roten Haaren.
„Das ist ganz wichtig, weil sonst die Verwesung sehr früh einsetzt, und dann fängst du dermaßen an zu stinken, dass dich hier keiner mehr anfasst!“

Erschrocken sehe ich ihr ins blasse Gesicht. „Ist das wirklich nötig?“ frage ich schockiert, „wird es denn wenigstens betäubt, wenn man das machen lässt?

„Mädchen, du bist doch tot! Da spürst du den Eingriff gar nicht. Du empfindest keine Schmerzen mehr. Aber, wenn es dich beruhigt, du kannst dir einen kleinen Rausch geben lassen. Dann merkst du garantiert nichts davon.“

„Hier, schau mal,“ meldet sich eine Andere zu Wort, hebt ihren Pullover hoch und bietet mir ihren Bauch dar.
„Siehst du, wie gut das wieder verheilt ist? Ich habe den Eingriff 1997 vornehmen lassen. Hätte ich es nicht getan, wäre ich jetzt ein glitschiger, verwester Klumpen stinkendes Aas. Aber sieh mich an! Ich sehe doch noch ganz gut dafür aus, das ich schon fünf Jahre tot bin . Oder?“

Verwirrt sehe ich von einer Gestalt zur anderen. Es sind alles Frauen, und sie sehen tatsächlich alle irgendwie gut aus, wenn auch etwas künstlich.

„Was macht ihr denn hier, wenn ihr doch tot seid?“

„Dasselbe wie du auch, Baby!“ lacht die Rothaarige kehlig. „Wir schmoren im Zwischenstadium, bis man uns endlich rauslässt, in die nächste Daseinsform. Und solange wir hier warten, wollen wir doch auch unseren Spaß haben, was?“ sie sieht sich befallheischend in der Runde der blassen Frauen um.

Spaß haben, denke ich. Wie soll ich als toter Mensch und ohne Unterleibsorgane denn noch irgendwie Spaß haben können?

Da geht hinter mir eine Tür auf. Eisiger Windhauch hüllt mich ein. Ein Arzt stolziert mit offenem, ihn umwehenden Kittel herein, direkt auf mich zu.

„Hallo Barbara,“ lächelt er mich leise an, „schön, dich zu sehen.“ Und er reicht mir die Hand.
Jetzt erkenne ich ihn! Es ist Dr. Schwarz, der anästhesiologische Chefarzt des Krankenhauses, in dem ich jahrelang als Krankenschwester tätig war. Er reicht mir die Hand, die ich verwirrt ergreife. Fragend sehe ich ihn an. „Sind sie auch tot?“ flüstere ich, „oder wieso sind sie hier?“

„Nein, nein,“ lächelt Dr. Schwarz, „ du weißt doch, dass wir Ärzte mit Gott so unsere kleinen Geschäftchen machen. Ich lebe noch, aber ich verdiene mir hier ein paar Sonderrechte nebenbei. Ich konserviere die Verstorbenen, so, dass sie nicht allzuschnell der Verwesung anheimgestellt sind. Alles Geschäft, weißt du.“

Er kommt mit seinem Gesicht nahe an mich heran und beschnuppert mich. „Mmmhh, du riechst noch fast so gut wie zu deinen Lebzeiten, lass uns nicht zu lange warten, sonst ist der Effekt nicht mehr so gut wie jetzt!“

Zögernd stehe ich auf und folge ihm zu einer Art Paternoster. Mit weinroten Plüschvorhängen ausgeschlagene Kabinen, die aussehen wie kleine Theaterbühnen, steigen von unten hoch. Sie schweben an uns vorbei und entschwinden nach oben in ein dunkles Nichts.

„Los, steig schon ein,“ drängt mich Dr. Schwarz. Aber ich traue mich nicht! Der Abstand zwischen dem Boden, auf dem ich stehe und der Kabine ist zu groß. Mindestens ein Meter. Ich sehe in die Tiefe und erschaudere. Unten brodelt eine lavaartige, dampfende Masse.
Gierig bleckt sie zu uns hoch, als wollte sie uns mit heißer Zunge ablecken.

„Das schaffe ich nicht!“ presse ich ängstlich hervor.
„Natürlich schaffst du das!“ tadelt mich Dr. Schwarz. „ Los, spring endlich!“
Und er schubst mich, indem er mir hart in den Rücken schlägt. Ich strauchele, schwanke und fange mich gerade eben noch ab, bevor ich in die Tiefe zu stürzen drohe.

Wütend drehe ich mich zu Dr. Schwarz um, aber er ist nicht mehr da. Ich sehe wieder zu dem Paternoster und bemerke, dass er in einer der Kabinen nach oben schwebt. „Warte nicht zu lange, Barbara!“ ruft er zu mir herunter.
Da nehme ich all meinen Mut zusammen, warte die nächste und noch die übernächste Kabine ab, spanne alle meine Muskeln und setze zum Sprung an.
Ich stoße mich ab und springe tatsächlich! Auf Händen und Knien lande ich in der Kabine, aber der Boden ist mit einer glibberigen, gallertartigen Masse benetzt. Ich rutsche ab und halte mich krampfhaft am Plüschvorhang fest. Es reißt mir die Beine weg, sie hängen ins Leere, meine Hände umklammern mit aller Kraft den Vorhangstoff. Ich merke, wie die Kraft aus meinen Armen schwindet. In Panik strampele ich wie wild mit den Beinen, versuche mit den Füßen irgendeinen Halt zu erhaschen. Ich trete aber immer nur ins Nichts.
Bevor meine Hände jetzt endgültig den Klammergriff lösen, denke ich: "eigentlich kann mir doch gar nichts passieren. Ich bin ja schon Tot"!

Da spüre ich, wie ich an den Hüften gepackt und hochgehoben werde. Dann werde ich auf festem Boden abgesetzt. Ich kann nicht erkennen, wer mich da herausgeholt hat, ich bin ganz allein vor einem dunkelgrünen Vorhang. Hinter dem Vorhang ist ein bläuliches Flimmern zu sehen und Stimmengemurmel zu hören. Langsam, unendlich langsam nähere ich mit angehaltenem Atem meine Hand dem Vorhang und dann, ratsch - reisse ich ihn auf.

Dahinter stehen sechs bequeme Ohrensessel. In ihnen lümmeln sich fünf Frauen.
Auf dem Boden hockt ein albern und dümmlich aussehender kleiner, dicker Mann mit Stirnglatze und Clownsmund. Er hat ein rotgeringeltes Hemd und lange Feinripp-Unterhosen an, und er schwitzt und begrabbelt gierig die Beine der Frauen.

In der Luft liegt ein unbeschreiblicher Geruch! Es ist eine Mischung aus leichtem, süßlichen Verwesungsgeruch und viel schwerem Parfüm. Ein betörender und zugleich unerträglicher Duft, der an Friedhofskappellen und Lilien erinnert.

Die Frauen aber starren gebannt auf einen Fernseher, wo gerade eine Margarinewerbung läuft.
Gerade klatscht ein klitschenasses, splitternacktes Mädchen einem schlafenden Jüngling einen Becher Margarine auf den nackten Rücken, und alle fünf Frauen seufzen vor Wonne auf.
Vorsichtig und zögernd nehme ich in dem sechsten Sessel Platz und schaue auch in den Fernseher.
Jetzt erklärt eine strengaussehende Wissenschaftlerin, was man mit einem Tampon in der Hand macht. Und ich fühle, wie der kleine, feiste Clown seine Hand zwischen meine Beine schiebt!
Entsetzt kneife ich meine Beine zusammen und zische ihn an: „Verschwinde! Fass mich nicht noch mal an!“

Erschrocken aufquiekend rollt er sich zur Seite, grummelt vor sich hin und wendet sich einer anderen Dame zu. Diese ist jedoch so mit dem Fernsehprogramm beschäftigt, dass sie gar nicht bemerkt, wie er sich an ihr zu schaffen macht.

Ungläubig sehe ich mir die ausdruckslosen Gesichter an, und dann wirft sich ein Schatten über mich, den ich körperlich spüre.
Eine Polizistin ist eingetreten, eine große Frau in Uniform, mit einer Pistole an der Hüfte.
„Weißt du, wer dieses Schwein ist?“ zischt sie mir zu und deutet mit ihrem Kinn auf den Clown.
Ich schüttele nur stumm den Kopf.

„Du bist ziemlich neu hier, stimmts?“ brummt sie, nicht unfreundlich.

Diesmal nicke ich.

„Das ist ein Nekrophiler, ein perverses Arschloch! Ein Lebender, der es mit Leichen treibt! Er schleicht sich hier heimlich ein, weil er die nötige Connection hat. Er tut so, als sei er tot, und dann macht er sich über unsere Frauen her. Ich gäbe alles darum, ihn oben auffliegen zu lassen.“

Ich beobachte den Nekrophilen. Ich sehe, wie er sich total erregt an den kalten Schenkeln einer blassen Frau reibt, die wie eine Porzellanpuppe aussieht.
In mir keimt Wut auf, und Hass. Ich wechsele einen Blick des Einverständnisses mit der Polizistin und verlasse mit ihr die Fernsehecke. Wir kommen zu einem überdimensionalen Kühlschrank. Die Polizistin öffnet ihn, und ein unbeschreiblicher Verwesungsgestank schlägt uns entgegen. In dem Kühlschrank sind schmierige, glitschige, grünschimmelige Fleischbrocken eingelagert. Sie verpesten die ganze Luft.

„Das sind alles Schwestern von uns, die sich nicht mehr gehalten haben,“ seufzt die Polizistin und zuckt resigniert mit den Schultern.

Dann schleppt sie einen großen Koffer herbei und öffnet ihn. „Nimm jetzt eine heraus und lege sie in den Koffer!“ befiehlt sie mir. Zögernd strecke ich die Hände aus. Dann durchzuckt mich ein Gedanke!
Wenn ich dieses tote Fleisch berühre, werde ich diesen Geruch an mir haben, und mein guter Lebensduft, der mir in Spuren noch anhaftet, wird ganz verschwunden sein. Aber das wird früher oder später sowieso der Fall sein, und wenn ich dazu beitragen kann, diesem Schwein eins auszuwischen -

Ich packe beherzt zu und nehme einen der glibbernden Brocken in meine Hände. Das Gewebe ist so mürbe, dass es in meinen Händen zu Brei vermatscht und mir ein Großteil durch die Finger rinnt. Hastig werfe ich den Rest in den Koffer und schließe ihn.

Die Polizistin nicht anerkennend und bedeutet mir, ihr zu folgen. Wir gehen wieder zur Fernsehecke, aber der Clown ist nicht mehr da. Schnell eilt die Polizistin zu einem Fahrstuhl, dessen Tür noch weit geöffnet ist, und ich bleibe ihr dicht auf den Fersen.

Im Fahrstuhl ist der Clown gerade dabei, sich stadtfein zu machen.
„Er hat mal wieder gehabt, was er wollte,“ flüsterte mir die Polizistin ins Ohr, „er sucht sich immer nur die Toten aus, die noch angenehm duften, damit er sich nicht verrät! Damit vor allem seine Frau nichts merkt. Er hat eigens für sie ein Parfüm kreiert, das die Komponenten zarter Verwesung, Lilienblüte, Jasmin und Zimt in sich vereint. Damit sie nicht misstrauisch wird, wenn er von hier zurückkehrt. Aber jetzt hat er verspielt!
Du wirst noch einmal auf die Welt der Lebenden zurückkehren um ihn zu enttarnen!“

Jetzt beginnt die Tür des Fahrstuhls sich langsam zu schließen. Bevor sie ganz zu ist, stößt mich die Polizistin zu ihm herein. Er bemerkt mich gar nicht, so sehr ist er damit beschäftigt, seine Krawatte korrekt zu binden.

Endlich hält der Fahrstuhl und die Tür öffnet sich. Gleißendes Sonnenlicht ergießt sich in den kleinen Raum und schmerzt, Messerstichen gleich, in meinen Augen.
Blind greife ich nach dem Koffer und versuche, dem Clown zu folgen. Meine Beine schmerzen bei jedem Schritt, aus meinen Füßen quillt Blut. Ich habe keine Schuhe an.
Immer noch sticht das Tageslicht mir die Augäpfel heraus, und ich versuche mit letzter Kraft, dem Clown auf der Spur zu bleiben. Da erahne ich ihn auf der anderen Straßenseite. Der Koffer ist schwer, er ist inzwischen durchtränkt von seinem übelriechenden Inhalt. Wo ich gehe, verrät eine Spur aus fleischwasserfarbenen Tropfen. Unter der Last des Koffers werden mir fast die Arme aus dem Körper gerissen, und ich komme nur Millimeter vorwärts.
Der Clown entfernt sich immer weiter und weiter.
Verzweifelt denke ich nach, was ich tun könnte, Da kommt mir der Zufall in Gestallt einer netten, alten Dame zu Hilfe. Sie steht hinter mir, schwenkt einen Terminkalender in der rechten Hand und ruft: „ Hallo, junger Mann! Sie haben dieses Büchlein hier im Fahrstuhl vom Untergrund-Bahhnhof liegengelassen!“

Der Clown hält inne, dreht sich langsam um, erkennt sein Eigentum und kommt zurückgelaufen.

Noch ist er fünfzig Meter von mir entfernt. Ich bin bereit, ich erwarte dich! Komm nur, komm in meine Nähe, damit ich es dir geben kann!

Vierzig Meter.

Meine Hand nestelt am Kofferschloss, es geht nicht auf! MIST!

Dreißig Meter.

Ich breche mir alle Fingernägel ab, aber das Schloss ist nicht zu öffnen! Tränen der Wut mischen sich mit denen des Schmerzes.

Zwanzig Meter.

Ohnmächtige Wut elektrisiert mich und setzt neue Kraft in mir frei. Na warte, du Schwein!

Zehn Meter. Die letzten Schritte. Mit jedem Schritt kommt er mir einen Meter näher,
sechs, fünf, vier drei, zwei . Auf ihn!
Mit den allerletzten Kraftreserven reisse ich den Koffer vom Boden hoch, hebe ihn über meinen Kopf, hole aus, ziele und haue ich ihm den Koffer auf den Kopf. Er bleibt stehen, wie vom Donner gerührt! Sieht mich mit kindlich erstauntem, fragendem Blick an.
Dann dreht er sich dreimal um sich selbst und sackt schließlich unter der Last des Koffers zusammen.
Nun schnappt das Kofferschloss auf, und der ganze entsetzliche Inhalt ergießt sich über den Clown. Es verstopft ihm Mund , Nase und Ohren und verätzt ihm die Augen.
Nun fühle ich, wie auch ich falle!
Alle Kräfte entschwinden mir, ich falle , und der Clown fällt auf mich drauf. Er begräbt mich unter sich, drückt mit seinem Gewicht auf meinen Bauch, und wir fallen und fallen und fallen.

In der Ferne höre ich noch die Sirene eines Krankenwagens und dann umfängt mich freundliches Schwarz.
Da wird die Sirene des Krankenwagens lauter und immer lauter, sie verändert ihre Tonart, wird zu einem „Beep – Beep – Beep“, einer Endlosschleife, wie es mir scheint.

Mühsam reiße ich noch einmal die Augen auf, helles Sonnenlicht trifft mich wieder.
Doch es schmerzt mich diesmal nicht.
Ich recke und strecke mich, schiebe meinen Hund zur Seite, der es sich mal wieder auf meinem Bauch gemütlich gemacht hat, und stelle endlich meinen nervtötenden Wecker aus.

 

Hallo BeautifulExperience, ich freue mich, das dir meine Geschichte gefallen hat. :D
Ich bin ja noch nicht sehr lange hier, aber es macht mir sehr viel Spass, gerade auch der Austausch untereinander. Und ich habe hier aufgrund der konstruktiven Kritiken eine ganze Menge gelernt.
Meine ersten Geschichten waren ja noch sehr unreif, aber dank eurer Hilfe bin ich schon einen Schritt vorangekommen. Danke dafür.
Tschüss - barkai

 

habe deinen "Tanz" gelesen, und ich war hingerissen!Frau Bibliothekar ist vielleicht zu zart besaitet.... was spülst du denn? Geschirr? Nein!
Du hast einen ganz eigenen, seltsamen Stil zu schreiben. habe mir inzwischen alles durchgelesen, was du veröffentlicht hast.
Mir fiel "Tanja" auf, die in deinem Leben wohl eine übergeordnete Rolle spielt.
Bleib dir treu und schreibe noch ganz viel! Es ist einfach genial!
barkai

 

Moin barkai :) :D

Da hast Du ja ein coole Story abgeliefert die so herrlich surreal ist das man beim Lesen quasi hineingesaugt wird...
Das ende mit dem Wecker und dem Hund war dann wieder so erschreckend real das es mich wir ein schwall kalten Wassers quasi aus der Stoy und in das Komment Feld spülte.

So was richtig schön morbides zur richtigen Uhrzeit :D

*wink*

jaddi

P.S.: Irgendwie war mir klar das ich Bo hier unten in den Komments finden würde...*gg*

 

Hi Jadzia, ich freue mich sehr, das dir meine Geschichte gefallen hat. Danke, für deine Kritik!
Lieben Gruß, Barbara

 

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