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Im Strom der Einsamkeit - MS Dolor
Dolor
Das kleine weiße Schiffchen trieb hilflos auf den wilden Fluten, die der Regen auf die Straße gezaubert hatte. Links und rechts durchpflügten Reifen das Wasser, die Wellen schlugen weiße Kronen und warfen das zarte Heck immer wieder gegen den Bordstein.
Auf dem Bug des kleinen weißen Schiffchens stand in trügerisch prunkvollen Lettern der Name „MS Dolor“. Obwohl der reißende Strom schier unbezwingbar schien, kenterte es nicht.
Tapfer trieb es die Straßen entlang, obwohl es immer wieder hin und her geworfen wurde und das Wasser es mit dem Dreck beschmutzte, den der Regen von den Straßen aufgespült hatte.
Es kämpfte mit all seinen Kräften, denn es war ein Frachter und seine Fracht war von großem Wert. Es musste diese Ladung ausliefern, denn das war die Aufgabe der MS Dolor, ihr Schicksal, der Grund, warum sie geschaffen wurde. Und so kämpfte sie für Stunden gegen die Strömungen an, die sie hinabziehen wollten und gegen die Feuchtigkeit, die in ihre Wände drang und sie schwer werden ließ. Immer wieder stürzte sie sich in die Täler hinab und erklomm die Berge, die das Wasser vor ihr auftürmte.
Die Erlösung kam spät, aber rechtzeitig.
Der graue Junge stand einfach da und sah das kleine Schiffchen, das inzwischen ebenso grau geworden war wie er selbst, auf dem reißenden Strom die Straße hinabkommen.
Er hatte gewartet und die MS Dolor kämpfte ein letztes Mal gegen die wilden Fluten an. Erschöpft ließ sie sich in die kraftlose Hand sinken, die wartend ins Wasser getaucht war.
Der graue Junge hob das Schiffchen vorsichtig aus dem Strom und betrachtete es eine Weile. Die trügerisch prunkvollen Letter am Bug erfreuten ihn, doch sein Blick blieb ausdruckslos. Wie selbstverständlich faltete er das Schiff auseinander und seine erloschenen Augen lasen die wertvollen Zeilen, die die Fracht der MS Dolor gewesen waren:
„Ich versinke. Ertrinke im Fluss des Lebens und der Einsamkeit. Das Wasser hat die rettenden Bretter morsch gemacht und sie brechen unter meinem Gewicht. Die Strömung zieht mich hinunter, immer wieder und meine Kraft kann mich nicht mehr lange halten.
Warum sieht mich niemand?“
Die Trostlosigkeit des Jungen blieb unverändert. Sorgsam faltete er das Papier wieder zusammen und schuf so das kleine Schiffchen neu. Doch er setzte es nicht zurück in die reißenden Fluten, denn die Fracht war für ihn bestimmt.
Zu Hause setzte er das graue Schiffchen zu den tausend Schiffen, die er selbst geschaffen hatte und schwamm weiter in seinem eigenen Strom der Einsamkeit.
Tage später ging der trostlose Junge eine unbedeutende Straße hinab. Er ging sie hinab, weil ihn der Strom in diese Richtung trieb und er den Kampf gegen die Fluten schon lange aufgegeben hatte.
Die Straße war grau, unbedeutend und leer. Der Junge fiel gar nicht auf. In den Häusern hatten sich die farbigen Menschen verborgen und bildeten schillernde Flecken in der Farblosigkeit.
Das graue Mädchen war plötzlich da. Sie war ebenso trostlos wie er selbst und lange Zeit standen sie sich schweigend gegenüber. In Ihren Augen leuchtete in goldenen Lettern der Name MS Dolor und das Grau blendete sie.
Der Fluss der Farben plätscherte um sie herum, ohne dass sie es bemerkten und wortlos blickten sie ins Grau des anderen.
Als die Ewigkeit vergangen war, nahmen sie sich bei den Händen.
„Ich sehe dich!“ sagte der graue Junge und gemeinsam gingen sie die Straße hinauf.
Hilflos kämpfte sich ein kleines weißes Schiffchen an ihnen vorbei durch die wilden Fluten und segelte die Straße hinab. Der Fluss der Einsamkeit forderte seine Opfer.