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Im Spiegel
Durch ihre Tränen konnte sie kaum etwas sehen, als sie aus dem Gerichtsgebäude auf die Straße trat. Sofort wurde sie von den Reportern umringt. „Frau Linhardt, gibt Ihnen dieses Urteil Genugtuung?“ – „Was haben Sie gefühlt, als der Täter beschrieb, wie er es getan hat?“ – „Stimmt es, dass ihre Ehe am Tod ihrer Tochter zerbrochen ist?“
Starke Hände ergriffen ihre Schultern und bugsierten sie durch die Menge der Aasgeier zu einem Auto. Erst als der Motor startete und der Wagen sich langsam in Bewegung setzte, schaffte Martha Linhardt es, ihre Tränen unter Kontrolle zu bekommen und sich umzusehen. Neben ihr saß mit kreidebleichem Gesicht ihr Bruder Matthias. Und als Martha sich erschöpft an ihn lehnte, hallten die Worte aus dem Plädoyer des Staatsanwaltes in ihrem Kopf nach:
"...an Grausamkeit kaum zu überbieten...Beweislast erdrückend...Gefahr für die Allgemeinheit...erst acht Jahre alt...stundenlanges Martyrium
"Martha, meinst du nicht, ich sollte erstmal bei dir bleiben?"
Erschöpft blickte sie in das besorgte Gesicht ihres großen Bruders. Mehr als ein kurzes Nicken brachte sie nicht zu Stande. Zu sehr hatte die Verhandlung sie aufgewühlt. Der junge Staatsanwalt, der nur daran interessiert zu sein schien, seine Karriere voranzubringen und immer wieder in die Akten sehen musste, weil er den Namen ihrer Tochter vergessen hatte. Der Bericht der Gerichtsmedizin, in dem all die grausamen kleinen Details aufgeführt waren, von denen jedes Einzelne schon genügt hätte, um Martha das Herz zu brechen. Der Bericht des Psychologen über die schwierige Kindheit des Angeklagten. Und schließlich das Geständnis des Mannes, der ihr Katharina genommen hatte, ihr einziges Kind.
"Frau Linhardt, Ihre Tochter war für mich eine fantastische Erfahrung. Sie erlauben doch sicher, dass ich mich auch in Zukunft an die schöne Zeit mit ihr erinnern werde? Sie hatte übrigens Ihre Augen, wunderschön, mein Kompliment."
Matthias blieb fast zwei Monate bei ihr. In den ersten Tagen war sie eine schlechte Gastgeberin. Wenn sie nicht in Katharinas Zimmer saß und weinte, lief sie ruhelos durch das Haus und sprach mit niemandem ein Wort. Ihren Mann sah sie währenddessen nur einmal, als er sich die meisten seiner Sachen abholte und sich zurück in die Arme seiner langjährigen Geliebten begab. Martha hatte schon immer von der Affäre gewusst. Es war ihr egal, sie hatte ja Katharina.
In einer Gewitternacht endete Marthas Lethargie, mit Blitz und Donner wurde sie aus ihrer Gleichgültigkeit gerissen. Sie hatte lange in Katharinas Zimmer gesessen und in den großen Spiegel gestarrt, vor dem ihr geliebtes Mädchen so gerne getanzt hatte. Draußen zuckten die Blitze über den pechschwarzen Himmel und erleuchteten immer wieder schemenhaft die Szene.
Nicht nur das Monster hatte Martha gesagt, dass Katharina ihr ähnelte. Immer schon hatten die Menschen sie darauf hingewiesen und sie hatte sich darüber gefreut. Nun sah sie ihre Augen im Spiegel und spürte, wie falsch das alles war. Nicht sie, Katharina sollte in diesem Zimmer sitzen. Sie sollte spielen und lachen und lernen und wachsen. Sie sollte glücklich sein.
Rainer Völkel hatte ihr das Liebste genommen. Sein Spiegelbild musste grauenhaft sein. Zerbrechen sollte er. Zersplittern in tausend Scherben. Sie wollte das Bild dieses Monsters nie wieder vor Augen haben.
Wie aus einem Reflex heraus griff Martha nach der Nachttischlampe neben ihr und warf sie mit voller Wucht in den Spiegel. Feine Splitter verteilten sich auf dem bunt gemusterten Teppichboden. Beim nächsten Donnergrollen verließ Martha Linhardt das Zimmer ihrer toten Tochter und verschloss es von außen.
Rainer Völkel schlief schlecht in seiner neuen Zelle. Das konnte an dem Gewitter liegen, das draußen lärmte, oder aber an der ungewohnten Enge. Während der Untersuchungshaft hatte er noch wesentlich mehr Freiraum genossen - wahrscheinlich wegen der viel gerühmten "Unschuldsvermutung". Ebenfalls zu Gute kam ihm, dass er einfach nicht aussah wie der böse schwarze Mann, vor dem alle Eltern ihre Kinder warnten.
Als er Katharina Linhardt ermordete, war er gerade 24 Jahre alt. Mit seinem offenen Blick, seinem jugendlichen Aussehen und seinem selbstbewussten Auftreten schien es jedermann unmöglich, dass er tatsächlich eine solche Bestie sein sollte. Bis heute ging die Polizei davon aus, dass das Mädchen sein erstes Opfer gewesen war. Gerne erinnerte sich Rainer an die stolzen Gesichter der Beamten, die glaubten, einen potentiellen Serienmörder schon nach seiner ersten Tat gefasst zu haben. Dabei war es nur sein erstes Kind gewesen. Leider. Er hätte sich von Anfang an auf Jüngere beschränken sollen. Nun, dieses Vergnügen war ihm entgangen.
Nur widerwillig dachte Rainer an seine eigene Kindheit zurück. Er wäre wahrscheinlich froh gewesen, wenn sein Vater den Mut gehabt hätte, ihm die Kehle durchzuschneiden. Aber diese Charaktereigenschaft war ihm zum Leidwesen seiner zwei Kinder völlig fremd. Seit dem Tod ihrer Mutter waren sie Störfaktoren im alkoholgetränkten Leben des Vaters und es verging kein Tag, an dem sich Rainer nicht wünschte, endlich zu sterben.
Es wurde nicht besser, als das Jugendamt sich einschaltete. Doch Rainer hatte Glück: Er war schon sechzehn und überstand die zwei Jahre in den Pflegefamilien. Sein Bruder Thomas war 14, als ihn ein anderes Pflegekind im Streit um fünf Mark den Schädel einschlug. Rainer war zu dieser Zeit bereits mit 18 Jahren zum Mörder geworden. Im Nachhinein fand er, dass der Sturz von der Treppe für seinen alten Herrn ein vergleichsweise mildes Todesurteil darstellte.
Warum er danach nicht aufgehört hatte, wusste Rainer selbst nicht genau. Sie waren alle so schwach gewesen. Die Bettlerin im Stadtpark hatte er mit einer Plastiktüte erstickt. Sie war dem Alkohol verfallen, ihr Leben war sowieso erbärmlich. Im Grunde hatte er sie nur von ihrem Leiden erlöst. Dem Arbeitsvermittler hingegen hatte Rainer gezeigt, was Leiden bedeutet. Der unangenehme Geruch von verkohltem Fleisch stieg ihm noch heute in die Nase, sooft er an den nackten, winselnden Mann zu seinen Füßen und den Lötkolben dachte. Er hätte ihm ja nur einen anständigen Job besorgen müssen. Bei diesem Mord hatte er herausgefunden, dass Schreie ihm auf die Nerven gingen.
Doch der Höhepunkt seiner Karriere als Serienmörder war Katharina. Diese großen Augen, die so vertrauensvoll blickten, als er sie zu sich lockte. Der Schmerz in ihren Gesichtszügen, als sie begriff, was er war. Er hätte sich gerne noch so viel mehr Zeit mit ihr gelassen, ihr die Grausamkeiten dieser Welt gezeigt und sie dann von ihnen befreit. Seufzend kehrte Rainer ins Hier und Jetzt zurück.
Seit der Verurteilung saß er im Hochsicherheitstrakt des Gefängnisses in Einzelhaft. Hätte man ihn mit den anderen Insassen zusammengebracht, wäre das einem Todesurteil gleichgekommen. Kindermörder standen in der Hierarchie ganz unten. Außerdem legte Rainer keinen Wert auf Gesellschaft. Seine Erinnerung an wundervoll gewalttätige Zeiten genügte ihm vollkommen.
Um 6:30 Uhr ertönte ein Wecksignal und das Licht in seiner Zelle ging an. Wie gewöhnlich schwang sich Rainer aus seinem Bett und ging zum Waschbecken, um mit kaltem Wasser die Müdigkeit zu vertreiben. Sein Vater hatte dafür auch gerne einen Gürtel benutzt. Der Blick in den Spiegel zeigte ihm einen freundlich wirkenden jungen Mann mit einem viel zu wissenden Blick. Er wollte sich gerade neue Kleidung aus seinem Spind holen, als in seinem linken Fußgelenk etwas mit einem furchtbaren Geräusch zu zersplittern schien. Von dem Schmerz, der seinen Körper durchflutete, wurde ihm schwarz vor Augen. Als er langsam wieder zu sich kam, blickte er entsetzt auf seinen Fuß, der in einem nahezu grotesken Winkel von seinem Bein abstand.
Ein pochender Schmerz brandete vom linken Unterschenkel aus durch Rainers Körper und überdeckte alle anderen Emotionen und Gedanken. Die Schreie des Mörders, bevor er wieder von einer gnädigen Ohnmacht empfangen wurde, schafften es auch den hartgesotteneren Insassen einen Schauer über den Rücken zu jagen.
Rainer erwachte auf der Krankenstation der Anstalt. Sein linkes Bein war bis zum Knie in Gips verpackt und das ganze Zimmer schien unter einem grauen Schleier zu liegen. Ein kurzer Blick nach rechts lieferte ihm auch den Grund für diese veränderte Wahrnehmung. Über einen Tropf wurden ihm stetig Schmerzmittel verabreicht.
"Herr Völkel?"
Die Stimme klang angenehm dumpf. Rainer brauchte ein paar Sekunden, um seine Augen in die Richtung zu zwingen, aus der sie kam.
"Herr Völkel, sie haben einen schweren Trümmerbruch im Fußgelenk erlitten. Sie wurden operiert, Ihre Genesung wird jedoch Wochen in Anspruch nehmen. Wenn Sie wieder etwas klarer sind, werden einige Beamte Sie nach dem Unfallhergang befragen. Haben Sie mich verstanden?"
Rainer nickte leicht mit dem Kopf. Wie zur Hölle war das passiert?
"Ich werde kurz ihren Blutdruck messen, Herr Völkel."
Rainer war kurz davor, sich von den Schmerzmitteln wieder in einen angenehmen Dämmerzustand versetzen zu lassen, als sich die Blutdruckmanschette an seinem rechten Oberarm aufpumpte und den Knochen in eine Ansammlung unzähliger feiner Splitter verwandelte, die sich wie tausend spitze Nadeln im Fleisch verteilten. Der neue Schmerz, soviel stärker als der im Knöchel, explodierte in Rainer Völkels Gehirn. Der vollkommen überforderte und entsetzte Gefängnisarzt wurde gleich nach der Erstversorgung der neuen Verletzung abgezogen. Von nun an beschäftigten sich gleich zwei Fachabteilungen renommierter Universitäten mit dem Phänomen Rainer Völkel.
Rainers Zustand in den nächsten Wochen war geprägt von einem ständigen Hin- und Her zwischen Operationssälen und Krankenbett. In seinen wachen Phasen musste er sich zusammennehmen, um nicht die ganze Zeit über wie ein weinendes und sabberndes Kleinkind in seinem Bett zu liegen. Seit ihm ein Pfleger das Becken zertrümmert hatte - der arme Mann hatte versucht, ihm einen Nachttopf unterzuschieben - bewegte man den Patienten so wenig wie möglich.
Rainer war einerseits dankbar dafür, ersparte ihm das doch neue Brüche, andererseits begann er sich den Rücken wundzuliegen. Seine Gedanken wurden nur von einer Frage bestimmt: Warum? Als Zehnjähriger war die schwerste Verletzung, die ihm sein Vater je mit seinen Prügeln zufügen konnte, ein gebrochener Arm gewesen. Unzählige Stunden grübelte er darüber nach, wie einem gesunden 25jährigen Mann etwas derartiges widerfahren konnte. Wenn er zu müde zum Nachdenken war, starrte er auf den Fernseher in der oberen linken Zimmerecke. Und dort sah er sie schließlich wieder.
Martha Linhardt sah gut aus in ihrem hellgrauen Kostüm. Fast zu gut für eine Frau, die vor knapp einem halben Jahr ihr Kind verloren hatte. Geduldig beantwortete sie die Fragen des Moderators, der sie in seiner Rückblicksendung als "eine der tapfersten Frauen des Jahres" vorstellte. Auf die Frage, ob sie von dem schlechten Zustand des Mörders ihrer Tochter gehört hätte, antwortete sie: "Sollte das für mich von Interesse sein?" Ihre Augen waren so kalt wie die seinen während der Gerichtsverhandlung.
Als sein Anwalt Rainer in der nächsten Stunde seinen wöchentlichen Krankenbesuch abstattete, hatte dieser nur eine Bitte an ihn:
"Bring sie her. Sie weiß etwas."
Der Gang roch nach Desinfektionsmittel. Das Geräusch, das ihre hochhackigen Schuhe auf dem abgenutzten Linoleumboden verursachten, hörte sich falsch an. Und doch: Niemals hatte Martha Linhardt so das Gefühl gehabt, am richtigen Ort zu sein. Lange blieb sie in der Türöffnung stehen, die ihr gezeigt worden war, und starrte mit ausdrucksloser Miene auf das menschliche Wrack auf den weißen Laken.
Von dem Monster, das ihre Tochter getötet hatte, war nicht mehr viel zu sehen. Lediglich die Augen schienen genau so tiefschwarz und unergründlich wie die, die sie während des Prozesses beinahe um den Verstand gebracht hatten. Die Ärzte hatten so gut wie möglich versucht, die Gliedmaßen zu bandagieren, so dass Rainer Völkel Ähnlichkeit mit einer vor sich hin siechenden Mumie hatte. Dutzende Schläuche führten in seinen Körper. Blutiger Urin sammelte sich in einem Beutel seitlich des Bettes.
Der Justizvollzugsbeamte, der Martha hierher begleitet hatte, ging an ihr vorbei und zog scheppernd einen Metallstuhl neben das Krankenlager. Als Martha sich langsam neben dem Mörder ihrer Tochter niederließ, schienen die Augen aus einer Starre zu erwachen. Das verwundete Monster fixierte die Frau wie das Kaninchen die Schlange.
„Ich bin gekommen, Herr Völkel. Ihr Anwalt sagte lediglich, dass Sie mich sprechen wollten. Ich ging davon aus, Sie wollten sich bei mir entschuldigen, da es mit Ihnen offenbar zu Ende geht."
Martha bemerkte das leichte Zittern in ihrer Stimme. Die Ärzte hatten ihr vor dem Besuch mitgeteilt, dass einige Splitter in Völkels Körper wanderten - zu viele, um sie alle zu entfernen. Er würde in nicht allzu ferner Zukunft einen grausamen Tod erleiden. Sie holte mehrmals tief Luft, bevor sie fortfahren konnte:
„Nun, mit dem gebrochenen Kiefer, können Sie natürlich nicht mehr sprechen."
Völkels Augen weiteten sich leicht bei der Erinnerung daran. Sicher war er der einzige Mensch auf dieser gottverdammten Erde, der sich beim Essen von Grießbrei den Kiefer zertrümmert hatte. Er konzentrierte sich wieder auf Martha.
"Dennoch bin ich hergekommen, um Ihnen zu sagen, was ich fühle. Nicht Ihretwegen. Sie sind ein Monster, das keinerlei Mitgefühl verdient, schon gar nicht von mir. Ich bin meinetwegen gekommen und wegen Katharina. Weil sie nicht gewollt hätte, dass ich mein Leben lang so verbittert bleibe."
Eine Träne glitt langsam Marthas linke Wange hinab und kam an den bebenden Lippen zum Stehen. Trotz der Schmerzen in seinem Körper empfand Rainer Völkel eine gewisse Freude darüber, dass sie litt.
„Glauben Sie an das Schicksal, Herr Völkel? An eine höhere Instanz, eine Naturgewalt, die wir nicht fassen können, nicht begreifen? Sie sind für mich der Beweis, dass es diese Gewalt gibt. Sehen sie sich nur an. Ein Haufen verwesendes Fleisch, zu nichts mehr fähig.“
Martha nahm sich ein paar Sekunden Zeit, um ihren Blick abschätzig über den Körper vor ihr gleiten zu lassen, bevor sie ihrem schlimmsten Albtraum wieder direkt in die Augen sah.
„Ich vergebe Ihnen, Herr Völkel. Ich nehme Ihre Entschuldigung an. Ich war nie Ihr Richter und dieses Urteil haben Sie selbst gesprochen, da Ihr Körper Ihren Charakter widerzuspiegeln scheint. Ich verzeihe Ihnen. Leben Sie wohl.“
Die letzten Worte gingen fast unter in Marthas Tränen und ihrem Schluchzen. Der Wachmann wandte sich sichtlich bewegt ab. Vorsichtig beugte sich Martha über Rainer Völkels Gesicht, um ihm scheinbar einen Kuss auf die Wange zu hauchen. So leise, dass nur er es hören konnte, flüsterte sie Rainer zu:
„Was war das letzte, was Sie über meine Tochter gesagt haben, Herr Völkel?“
Die geflüsterten Abschiedsworte von Martha Linhardt ließen Rainer Völkel keine Ruhe. Um 23:41 Uhr desselben Tages, als sich über der Stadt ein Gewitter zusammenbraute und die Blitze über den Himmel zuckten, da fiel es ihm wieder ein:
„Wissen Sie, Herr Richter, eigentlich war es doch die Schuld des Mädchens. Ich habe ja gar nicht vorgehabt, sie zu töten, aber was kann ich denn dafür, dass ihr Arm gleich bricht, nur weil man sie ein wenig härter anpackt. Sie war einfach zu zerbrechlich, ein verwöhntes kleines Porzellanpüppchen. Ich habe ihr Gebrüll wegen der Schmerzen einfach nicht mehr ausgehalten.“
Im Moment dieser Erkenntnis hallte der erste Donnerschlag im Hof der Strafanstalt wider und Rainer Völkels Herz tat seinen letzten Schlag.
Zwei Wochen nach Völkels Tod half Matthias seiner Schwester dabei, Katharinas Zimmer auszuräumen. Sie wolle endlich mit dem Kapitel abschließen, hatte sie gesagt und Matthias freute sich darüber, wie gefasst sie bei der Sache war. Sie schien wieder ein geregeltes Leben zu führen, auch die Scheidung war inzwischen durch. Ab und zu ertappte er sie sogar bei einem Lächeln.
Die Obduktion von Rainer Völkel hatte das Ergebnis erbracht, dass er – sah man von den schweren Splitterbrüchen einmal ab – ein völlig gesunder Mann gewesen war. Seit seiner Beerdigung schien Martha wie von einer unsichtbaren Last befreit und ihre versöhnlichen Worte kurz vor dem Tod des verurteilten Mörders fanden in der Gesellschaft viel Anerkennung.
Die Sonne tauchte das Zimmer in ein warmes Licht, als sie es öffneten. Matthias Blick fiel auf die kleine rosa Nachttischlampe, die er seiner Nichte zum fünften Geburtstag geschenkt hatte. "Darf ich die haben?", fragte er seine Schwester, die gedankenverloren auf das Blumenmuster des Teppichs starrte.
Seit über einem halben Jahr hatte sie das Zimmer nicht mehr betreten, aber bis auf ein paar Staubflusen sah alles so aus, als ob Katharina erst vor kurzem noch hier gespielt hatte. Matthias verschaffte sich einen groben Überblick. "Und wo willst du das Ungetüm hin haben?" Der große Spiegel stand an seinem gewohnten Platz, und durch das Sonnenlicht, das er reflektierte, schien er von innen heraus zu leuchten. Lächelnd blickte Martha auf ihr Spiegelbild, das ihr einen kurzen Moment lang zuzublinzeln schien.
„Ich denke, der Spiegel sollte bleiben. Es kann doch nicht schaden, gelegentlich einen Blick hineinzuwerfen.“