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Im Skepsisgewitter ohne Schirm
Eine ältere Frau vor mir schaut mich kritisch durch ihre zu klein geratene Hornbrille an. Sie wirkt so normal. Freundlich eben. Ohne böse Absichten. Ihr Herz scheint am rechten Fleck zu sitzen, jedoch wohl nicht groß genug zu sein, um auch mich darin aufzunehmen, denn ihr Blick schneidet scharf in meine Haut. Genervt schüttle ich meinen Kopf. Als wollte sie eine mir selbst nicht bekannte Wahrheit heraus schneiden. Ich weiß es nicht. Vielleicht bin ich es auch, mein Gesicht mit der krummen Nase oder die Art wie ich sitze, der in den Leuten die Skepsis weckt. Einen inneren Urinstinkt, der sie vor mir warnt. Die Menschen um mich herum und ich werfen uns Blicke zu. Misstrauen gegen erzwungene Freundlichkeit.
Nach einer gefühlten Ewigkeit, in der ich ihren Augen ausgesetzt bin, langweilt mich der Ausdruck. Mein Kopf dreht sich mühsam nach hinten und meine Augen wandern auf eine Anzeigetafel: noch eine gute halbe Stunde. Noch eine halbe Stunde Skepsisgewitter mit prasselndem Regen. Ich bin es gewohnt so nass zu werden. Egal wo ich bin, ob auf der Straße, bei Freunden oder in der Familie; immer prasseln mir die eiskalten Regentropfen voller Unverständnis entgegen. Dort zu sitzen und mich unwohl zu fühlen, das ist also nichts neues. Ich hatte noch nie irgendetwas, um mich davor zu schützen. Noch nie einen Schirm, um den Regen abzuwehren.
Als sich mein Blick wieder nach vorne wendet, entdecke ich eine junge Frau. Sie ist allerdings bestimmt ein paar Jahre älter als ich und hält in einer Hand eine zylindrische Sporttasche. Nach ein paar Minuten stellt sie die Tasche ab und beginnt darin zu graben. Ihre hellblaue Jacke zerknittert dabei ein wenig und ihre Hose berührt am Knie den verdreckten Boden. Aber das alles scheint sie nicht weiter zu stören, und in Gedanken vertieft, bemerkt sie ihr Umfeld überhaupt nicht. Ihre Haare immer wieder aus dem Gesicht wischend fährt sie einfach fort. Die Zeit um sie herum scheint beinahe still zu stehen. Mir fällt auf, dass ich sie die ganze Zeit anstarre. Eine meiner schlechten Angewohnheiten. Zügig drehe ich meinen Kopf zur Seite, versuche möglichst unauffällig zu wirken, wobei mir das wie ein Ding der Unmöglichkeit erscheint.
Etwas später, wahrscheinlich nur einige Sekunden, riskiere ich es erneut. Sie hockt vor ihrer Tasche und greift nach einer Trinkflasche. Diese hatte ihr wahrscheinlich auch zugerufen: Trink mich! Das Gefäß glänzt im Sonnenlicht blau und als es geöffnet wird, prickelt die Luft. Die entweichende Kohlensäure versetzt jedes Molekül in der Nähe in Schwingung. Jene, die von ihr getroffen werden, erwachen in neugeborener Frische. Jedoch sitze ich zu weit entfernt, um auch nur einen Hauch des Erlebnisses zu spüren. Als die Frau aus der Flasche trinkt, fließt ein kleines Rinnsal aus ihrem Mund und tropft auf den Boden, wobei an gleicher Stelle sofort eine Blume erblüht. Ein Windröschen. Leichte Regentropfen fallen auf das Glasdach über uns und schirmen die kleine Blume ab, und so ist es ein Segen, dass sie vom herab fallenden Trinkwasser genährt wird. Mit jedem Tropfen erscheint sie in neuen Farben und während die Welt um uns herum im aschgrauen Beton versinkt, weist uns ihr Leuchten den Weg in die Freiheit.
Meine Gedanken schweifen durch den Raum und darüber hinaus, verbinden sich mit grellen und warmen Farben und vermischen sich mit dem Wasser des Meeres und dem Öl der Bäume. Ein prachtvolles Bild entsteht vor meinem inneren Auge, bei welchem sogar ein Gemälde von Monet eher wie ein nebelverhangener Gebirgshang wirkt; bis ich schließlich an einem Paar irritierter Augen hängen bleibe. Wie vom Blitz getroffen erstarre ich und komme schreckhaft der Realität wieder ein kleines Stückchen näher.
Hektisch wischt die Frau sich das Wasser vom Kinn und starrt mich an. Dabei macht sie einen kleinen Schritt nach vorne und zertritt das Windröschen. Zurück ins nichts. Es soll keiner sehen. Sie schaut mich verwirrt und leicht beschämt an, doch wenigstens nicht kritisierend. Hektisch wende ich mich ab, wobei sich meine Mundwinkel leicht nach oben bewegen und ich ein Grinsen nicht unterdrücken kann. Es ist nicht boshaft gemeint. Jedoch weiß ich nicht, ob das irgendwer verstehen würde. Ich freue mich einfach, etwas wahrgenommen zu haben, das anderen entgangen ist; einen kleinen ganz besonderen Moment eingefangen zu haben, welcher mich und diese Frau verbindet. Doch sie blickt verwirrt weg und ich brauche keine Gedanken lesen zu können, um zu erkennen, dass in ihrem Geist eine verfaulte Ranke gewurzelt hat, die sich nur noch weiter ausbreiten wird, je länger ich hier in ihrer Nähe sitze. Ich würde all das Prickeln verderben und sie nur mit in das Unwetter ziehen.
Um weiteren unangenehmen Blickwechseln aus dem Weg zugehen, erhebe ich mich, schnappe mir meinen Rucksack und fliehe. Schnurrstracks an ihr vorbei. Ich traue mich nicht, sie nochmals anzuschauen. In ausreichender Entfernung bleibe ich stehen, setze mich erneut auf meinen Reisekoffer und warte weiter; warte ohne Sinn und Verstand auf einen anderen Moment.