- Anmerkungen zum Text
Diese Geschichte ist ziemlich lang im Vergleich zu den meisten in diesem Bereich, daher eine kleine Vorwarnung. Ich wäre aber jedem, der sich die Zeit nimmt zu lesen und Feedback zu geben wahnsinnig dankbar!
Im Schatten
Seit drei Tagen hatte der Eremit nichts gegessen. Der Wind heulte um seine kleine Hütte und der Regen fiel ohne Unterlass. Normalerweise brachten die Bauern aus dem nahem Dorf ihm regelmäßig Nahrung, doch bei diesem Wetter wagte niemand den Weg, der über den steinigen Hang eines Hügels am Waldrand führte. Den Eremiten störte der Hunger nicht, zu fasten war eine gute spirituelle Übung. Lästiger war das Wetter selbst. Die Hütte, die er mit eigenen Händen gebaut hatte, stand schutzlos am Abhang, umgeben von nur wenigen kleinen Bäumen und Büschen. Sie war nicht allzu solide. Ihr Gerüst bestand aus Stangen, zwischen die flexible Weidenruten geflochten waren, um Wände zu bilden. Sie war von außen mit Lehm verputzt, das Dach war mit Strohbündeln gedeckt. Ein kleines Loch war schon vorher darin gewesen, damit der Rauch der Feuerstelle abziehen konnte, doch der heftige Wind hatte Stroh fortgerissen und es deutlich vergrößert. Der Regen strömte hinein und machte es unmöglich, ein Feuer zu entzünden. Der Eremit hätte ohnehin kein trockenes Holz mehr dafür gehabt. Auch unter der Tür floss das Wasser hinein, obwohl er den Spalt mit seinem Untergewand verstopft hatte. Das Bett, das aus nicht viel mehr als einem Strohsack bestand, war nicht mehr trocken zu bekommen. Es war kalt und klamm in der Hütte. Einen solch heftigen, tagelang anhaltenden Regen hatte es lange nicht gegeben.
Dies brachte die Entschlossenheit des Eremiten jedoch nicht zum wanken. Schon im Zisterzienserkloster, das er verlassen hatte, um in der Einöde zu leben, war der Alltag hart gewesen, reich an Arbeit und arm an Komfort. Hier draußen war es vielleicht noch härter, doch er hatte mehr Muße, um sich dem Gebet und der inneren Versenkung zu widmen. Diese Andacht war der Grund dafür, dass er bisher letztlich wenig von seinen widrigen Umständen bemerkt hatte. Den größten Teil des Tages verbrachte er in geistiger Verzückung. Er kniete sich auf den festgestampften Erdboden vor den winzigen, Tisch, der ihm als Altar diente und auf dem seine kostbarsten Besitztümer lagen: Ein plump geschnitztes Kruzifix und eine Abschrift des Neuen Testaments auf Pergament, eingeschlagen in Wachstuch, um es vor Feuchtigkeit zu schützen, außerdem ein Rosenkranz mit hölzernen Perlen. Meist brauchte er für die Versenkung nichts davon. Er nahm seine kniende Haltung ein, ließ alles los, was in ihm war und öffnete seinen Geist für die Berührung des Herrn. Schnell spürte er die göttliche Gegenwart, sie umhüllte ihn wie warmer Sonnenschein und ließ ihn die Nässe, den Hunger, das Kratzen seiner Kutte und seine bloßen, vor Kälte tauben Füße vergessen. Manchmal sah er dann vor sich das Antlitz Jesu oder der Jungfrau Maria. Ihre Gesichter glichen einander, beide strahlten mit demselben inneren Licht, beide hatten Augen voll von Liebe und Güte. Stunden konnten auf diese Weise vergehen, ohne dass er es bemerkte. Erst wenn er wieder auftauchte, spürte, dass seine Beine vom langen Knien völlig gefühllos geworden waren und sah, dass das Licht draußen schwand, wurde ihm bewusst, wie lange sein Zustand angedauert hatte. Dann brach sein Körper plötzlich in heftiges Zittern aus, weil er während des reglosen Verharrens völlig ausgekühlt war. Dann stand der Eremit langsam, vorsichtig auf und wartete, bis seine steifen und tauben Beine ihn sicher trugen. Wenn er schließlich stand, stampfte er mit den Füßen auf schwenkte die Arme, um sich aufzuwärmen. Manchmal sang er Choräle dazu. Auf einen Betrachter hätte es wohl etwas lächerlich gewirkt, doch es gab ja keinen, außer Gott. Von aller Welt verlassen war der Eremit in seiner Hütte glücklich.
Nach dem dritten Tag mit Regen und Sturm erwachte er in der Nacht ganz plötzlich, schreckte hoch wie aus einem bösen Traum, an den er sich nicht erinnern konnte. Um ihn herum war die Dunkelheit vollkommen, kein Mond und keine Sterne waren durch das Loch im Dach zu sehen. Fenster hatte die Hütte ohnehin nicht. Der Wind heulte, der Regen peitschte und prasselte gegen Dach und Wände. Gelegentlich war fernes Donnern zu hören, doch es gab keine Blitze, noch nicht jedenfalls. Der Eremit zitterte unter seiner dünnen Decke. Jetzt spürte er den Hunger und die Kälte. Und schlimmer als das: er fühlte sich allein. Das kam selten vor. Um sich zu beruhigen, begann er das Paternoster und Ave Maria zu beten, wieder und wieder, leise murmelnd. Irgendwann schlief er darüber ein.
Sein Schlaf wurde noch einmal gestört. Diesmal nahm er wahr, was ihn geweckt hatte, ein Rascheln und Kratzen wie von Krallen auf Holz. Er erschrak darüber, völlig unverhältnismäßig, wie ihm selbst bewusst war. Ein Tier war in die Hütte gekommen, sicherlich durch das Loch im Dach. Es mochte ein Vogel sein, ebenso gut ein Eichhörnchen oder Wiesel. Kein Tier, vor dem man sich fürchten musste. Dennoch schlug sein Herz seltsam schnell. Als er das Kratzen wieder hörte, diesmal scheinbar näher, zuckte er zusammen und schrie sogar leise auf. Nachdem er sich etwas beruhigt hatte tastete er im Dunkeln nach Feuerstein und Eisen sowie einer Öllampe, die sich auf seinem Tisch befanden. Er entzündete den Docht der Lampe und blickte sich in dem kleinen Raum um. Er leuchtete in alle Ecken. Aber da war nichts. Er stand sogar auf, um die rußgeschwärzte Unterseite des Daches zu untersuchen, auch dort war nichts zu finden. War das unbekannte Tier schon geflohen? Oder war es doch kleiner als gedacht, vielleicht nur eine Maus, die sich in irgendeinen Spalt verkrochen hatte?
Ihm war auf jeden Fall nicht mehr nach Schlafen zumute. Er nahm die Lampe, kniete sich vor seinen Tisch und schlug die Heilige Schrift auf, um zu lesen, bis der Tag graute.
Der Sturm ließ gegen Morgen nach, doch der Regen fiel ununterbrochen weiter. Als es hell geworden war und der Eremit sich etwas gefestigt fühlte, nahm er sich eine neue geistliche Übung vor, um seine Seele weiter zu stärken. Er las den Bericht über die Passion des Herren im Johannesevangelium. Dabei stellte er sich vor, beim Geschehen selbst anwesend zu sein. Er sah die Qualen des Herren und den Schmerz der Jungfrau Maria, die ihren toten Sohn in den Armen hielt. Und wer war für dieses Leid verantwortlich? Er selbst, so wie alle anderen sündigen Menschen, die nur durch das Opfer des Gottessohnes vor der ewigen Verdammnis gerettet wurden. Er weinte heiße Tränen der Zerknirschung. Und doch erfüllte ihn zugleich tiefe Dankbarkeit für die unendliche Güte des Herren, der für all dieses Sünder Leiden und Tod auf sich genommen hatte. Durch dieses Opfer gab es Hoffnung auf Erlösung selbst für die niedrigsten, verdorbensten unter den Kreaturen. Sie mussten nur beichten und bereuen.
Diese Übung spendete ihm Trost und Zuversicht. In gehobener Stimmung sang er den Choral „Ave Maris Stella“ und widmete sich den Rest des Tages Gebet und Kontemplation. Das Rascheln des unbekannten Tieres hörte er den ganzen Tag kein einziges Mal. Vermutlich hatte es die Hütte längst verlassen.
Und dennoch… als die Dämmerung nahte, spürte der Eremit eine wachsende Anspannung. Er brauchte ungewöhnlich lange, um in den Schlaf zu finden.
Er wusste nicht, wie lange er geschlafen hatte, als er erwachte. Es schien noch dunkler zu sein als in der letzten Nacht, dunkel wie in der Tiefe eines Brunnens. Er fühlte sich völlig desorientiert, war sich einen Moment nicht einmal bewusst, wo er sich befand. Und dann hörte er das Kratzen, laut, viel lauter als zuvor. Und dann, dann fühlte er die Krallen, durch die Decke, durch die dicke Kutte stachen sie in seine Haut und das Gewicht des Wesens drückte auf seinen Körper, schwerer als ein Eichhörnchen oder ein Wiesel, schwerer als ein normaler Vogel sein sollte. Der Eremit schrie auf, plötzlich von Panik erfüllt und schlug wild um sich, um es loszuwerden, dieses Ding. Es saß auf seiner Brust und nahm ihm den Atem. „Herr, Herr, steh mir bei!“, krächzte er. Da ließ es von ihm ab. Mit einem Mal war es in der Hütte völlig still, nur das Prasseln des endlosen Regens war zu Hören. Der Eremit entzündete die Öllampe und suchte wie in der letzten Nacht. Er fand nichts. Am liebsten hätte er das Licht bis zum Morgen brennen gelassen. Doch in der Lampe war nicht mehr viel Öl. Auch damit hätten ihn die Dorfbewohner versorgt. Er löschte also die Flamme, saß zitternd, aufrecht in der Dunkelheit und betete.
In den langen, finsteren Stunden hatte er Zeit, nachzudenken, während seine Lippen mechanisch lateinische Worte wiederholten. In ihm wuchs die Überzeugung, dass das Wesen, dessen Krallen er gespürt hatte, kein Tier war. Es war keine Schöpfung Gottes. Wie jeder Gläubige war sich der Eremit der Existenz des Teufels gewiss. Und nun hatte der Widersacher sich ihn in einer Lage der Schwäche zum Ziel genommen. Denn schwach war er, zumindest körperlich. Den nagenden Hunger nahm er inzwischen kaum noch wahr, aber er merkte, dass es ihm immer schwerer fiel, aufzustehen. Wenn er stand, fühlte er sich unsicher, beinah wankte er. Er fror jetzt beständig und zitterte ohne Unterlass. Er versuchte, sich in die Versenkung zu retten, doch seine Gedanken kamen nicht zur Ruhe. Sie kreisten um ein Thema: Wie viel Angriffsfläche bot er dem Teufel und seinen Dämonen? Welche Sünden lasteten ungebeichtet auf seiner Seele? Wann hatte er eigentlich zuletzt gebeichtet? Er konnte sich beim besten Willen nicht erinnern. Innere Unruhe quälte ihn, gleichzeitig arbeitete sein Verstand träge und schwerfällig. Es fiel ihm schwer, bei einem Gedanken zu bleiben. Wie schlimm konnten seine Sünden sein? Er war ein Einsiedler, der sein Leben Gott widmete. Er hatte doch kaum Gelegenheit ernsthaft zu sündigen, nicht wahr?
Andererseits … vielleicht war er manchmal zu träge gewesen, nicht eifrig genug in der Anbetung. Und Trägheit war eine der sieben Todsünden! Außerdem, vor einiger Zeit hatte dieses junge Mädchen ihm Essen gebracht, weil ihre Mutter krank war. Hübsch war sie gewesen. Als sie fortgegangen war, hatte er ihr nachgeschaut. Die Rundung ihres Hinterns hatte sich unter dem Kleid abgezeichnet und für einen Moment, nur einen kleinen, waren ihm unkeusche Gedanken gekommen. Gewiss, er hatte zur Strafe gefastet und sich gegeißelt. Gebeichtet hatte er jedoch nicht. Wenn er jetzt stürbe, könnte ihm eine lange Zeit im Fegefeuer drohen.
Er merkte kaum, dass es hell wurde. In Wirklichkeit wurde es an diesem Tag auch nur etwas weniger dunkel. Unmerklich ging die Schwärze der Nacht in ein düsteres Grau über. Der Eremit saß auf dem Bett, den Rücken gegen die Wand gelehnt. Es fiel ihm langsam schwer, sich aufrecht zu halten. Er hatte die Füße angezogen, bis unter die Kutte, um sie an seinem eigenen Körper zu wärmen, doch sie blieben eiskalt. Wenn er seine Hand vor die Augen hob, sah er, dass die Fingernägel bläulich verfärbt waren. Blass war diese Hand auch, kalkweiß und mager. Als er sie ein Stück weiter von sich fort hielt, erinnerte sie ihn im Dämmerlicht an die eines Skelettes. Memento Mori, dachte er versonnen. Zum ersten Mal wurde ihm klar, dass er in dieser Hütte wirklich sterben könnte. Nun, fürchtete er den Tod? Sollte er nicht triumphieren? Der heilige Einsiedler Hieronymus war von Dämonen in die Lüfte gezerrt und geprügelt worden. Und hier war nur ein Dämon. Vermutlich. Aber er war kein Heiliger. Er fand in sich keine Kraft für einen Kampf und er fürchtete den Tod, weil sein Gewissen nicht rein war. Wenn er nur beichten könnte...
Da durchfuhr ihn ein neuer Gedanke: Was, wenn er zum Kloster liefe? Es war nicht weit entfernt, kaum eine halbe Stunde Fußmarsch normalerweise. Normalerweise … Er versuchte sich nach oben zu drücken. Es kostete ihn unendlich viel Kraft, sein Körper kam ihm bleischwer vor. Als er stand, wurde ihm schwindlig, er musste sich für einen Moment an die Wand lehnen. Dann schlüpfte er in seine Sandalen und begann langsam, vorsichtig seinen Weg. Die Tür zu öffnen war anstrengend, sein Unterhemd lag noch davor, schwer, weil es mit Wasser vollgesogen war, doch er wagte nicht, sich zu bücken um es aufzuheben, aus Angst vor erneutem Schwindel. Er schob es mit dem Fuß beiseite. Dann zog er die Tür auf und trat ins Freie. Kalt war es, nicht kälter als drinnen, aber hier wehte ein beißender Wind, der den Regen in sein Gesicht trieb. Der Eremit zog die Kapuze seiner Kutte hoch, doch sie half nicht viel und schränkte seine Sicht ein. Ohnehin sah er nicht gut, es war so unheimlich düster. Der Boden war felsig, uneben und glitschig. Die Sandalen waren keine Hilfe, sie boten keinerlei Halt. Er begann den Abstieg in Richtung des Dorfes. Vielleicht würde es für’s Erste auch reichen, dorthin zu kommen. Der Weg zum Kloster erschien nun doch sehr weit. Wenn er erst in ein warmes Haus kommen könnte, etwas essen, sich ausruhen, dann wäre er der Strecke gewachsen. Mit diesem Gedanken setzte er seine zögernden Schritte. Zu spät bemerkte er, dass das Stück Felsen, auf das er seinen Fuß setze, abschüssig war. Er rutschte, er wankte und fiel rückwärts um. Einen Moment lang nur Schwärze, dann Sterne, Blut im Mund, weil er auf seine Zunge gebissen hatte. Schmerz im Kopf, im Rücken und Steißbein. Er brauchte einige Zeit, bis er sich aufsetzen konnte. Dann wollte er aufstehen. Er versuchte es mehrere Male - und scheiterte. Auf dem Felsen sitzend, durchnässt, schwindlig und mit einem Körper, der nur Schwäche und Schmerz zu sein schien, schrie er auf in hilfloser Frustration.
Eine ganze Weile saß er dort, immer wieder von trockenen Schluchzern geschüttelt. Angst stieg in ihm auf, Todesangst, die sein Herz zusammenschnürte, so dass es in seiner Brust lag wie ein kalter Klumpen. Er wollte nichts mehr als zu fliehen, irgendwohin. Doch es hatte keinen Sinn. Gestern hätte er vielleicht noch gehen und es ins Dorf schaffen können und dann ins Kloster. Er verfluchte sich, laut, und zuckte zusammen angesichts der Blasphemien, die er äußerte. Irgendwann blickte er in den grauen Himmel, betete um Kraft und kroch langsam, auf allen Vieren, zu seiner Hütte zurück. Drinnen fiel er schwer auf sein Bett und war dankbar, dass er wenigstens nicht mehr im Regen saß. Er fühlte sich unendlich erschöpft und seine Angst war einer bleiernen Apathie gewichen. Den Kopf gegen die Wand gelehnt, fiel er in tiefen Schlaf. Er hatte einen merkwürdig klaren, detailreichen Traum. Er saß auf einem Pferd, einem hübschen Jagdpferdchen, ein Begleiter neben ihm, sie waren jugendlich. Die Luft war frostig kalt, doch seine Kleidung warm und bequem. Er fühlte sich heiter, beinah übermütig. Dann aber sah er den Jungen. Einen Jungen in abgerissenen Kleidern, doch ein seiner Hand trug er etwas Buntes. Etwas, das der Eremit im Traum unbedingt besitzen wollte. Er trieb sein Pferd, der Junge rannte, unrealistisch schnell, und drehte sich im Laufen um und sein Gesicht war ganz deutlich trotz der Entfernung, es war abgezehrt, die großen hellen Augen aufgerissen in Verzweiflung, und Tränen liefen über die bleichen Wangen...
Der Eremit schreckte mit einem Schrei aus dem Traum hoch. Sein Gesicht hatte sich gegen die rauhe Wand gedrückt, er zog es zurück, bedeckte den Kopf mit seinen Händen und schrie erneut. Und weinte. Denn der Traum, das hatte er realisiert, sobald er erwachte, war eine Erinnerung. Er, er war der Jugendliche auf dem hübschen Pferd, der Sohn eines Ritters, dem ein kleines Gut gehörte. Nun, er war nur der vierte Sohn und es war klar, dass er in ein Kloster sollte, aber noch hatte er die gewissen Privilegien seines Standes. Auf Falkenjagd war er gewesen mit einem Freund, im Februar, es lag kein Schnee mehr, doch die Luft war noch eisig scharf im Gesicht. Enten hatten sie jagen wollen, aber sie waren erfolglos gewesen und hatten nach einigen Stunden den Rückweg angetreten. Sie waren nicht wirklich in schlechter Stimmung, aber doch etwas enttäuscht. Und dann sahen sie vor sich auf dem Weg, noch ein gutes Stück entfernt, eine schmale, kleine Gestalt, die etwas in der Hand trug und dies leuchtete zu ihnen herüber. Was da leuchtete waren Federn, rötlich-braun schillernd und unverkennbar der blaue Kopf: Der Junge trug einen Fasan. Und der künftige Eremit war zu dieser Zeit noch ganz der Adelssohn. Er gab seinem Pferd die Sporen. Der Junge wandte sich um, erschrak sichtlich und versuchte in den Wald zu fliehen, doch der junge Herr hatte ihn erwischt, bevor er im Unterholz verschwinden konnte.
“Was hast du da?”, fragte er herausfordernd.
Der Junge blickte starr zu Boden. “Ich … ich habe...” seine Stimme war kaum hörbar.
“Sprich lauter!”
“Ich habe diesen Fasan im Wald gefangen, mit einer Schlinge”.
“Und was wolltest du damit tun?”
“Ich … vergebt mir, Herr. Ich wollte ihn nach Hause bringen, damit wir zu essen haben”.
“Du weißt aber wohl, dass der Wald dem Herrn dieses Dorfes gehört und dass nur er und seine Familie das Recht haben, darin zu jagen”.
Nun blickte der Junge auf. Seine Augen schienen riesig in seinem mageren Gesicht. Er war etwa zwölf Jahre alt.
“Bitte … verzeiht, Herr”, stammelte er schluchzend. “Das Korn ist alle. Der Vater ist in der Schenke, die Mutter ist krank. Meine jungen Geschwister hungern”.
Er schluchzte auf und senkte den Kopf.
In diesem Moment hatte der junge Herr in sich gerungen. Sicherlich fühlte er Mitleid. Doch da war sein Begleiter, der nur die Augen verdrehte und grinste.
“Sein Pech lässt uns noch zum Jagdglück kommen”.
“Bitte, junger Herr...”, stammelte der Knabe.
Der Junge Herr zögerte, doch nur kurz. Dann straffte er sein Kinn. Vierter Sohn hin oder her, er vertrat hier seinen Vater.
“Recht ist Recht”, sagte er streng. “Du gibst uns den Fasan. Dann sehen wir von weiterer Strafe ab”.
Er bückte sich vom Pferd hinab, um den toten Vogel zu greifen. Er war prächtig, groß. Er würde ein gutes Mahl abgeben. Er nestelte seinen Geldbeutel vom Gürtel und suchte eine kleine Münze heraus, einen Kupferpfennig. Dafür gab es wohl nur etwas Mehl aber … er hatte seine Schuldigkeit getan, nicht wahr? Sogar Milde gezeigt. Er warf dem Jungen die Münze hin, der sich bückte, um sie aufzuheben. Langsam, ohne Freude, in einer Bewegung, die müde wirkte, weit über sein Alter hinaus.
“Habt Dank für die Güte Edler Herr”, murmelte er.
Und der junge Herr ritt davon und aß an dem Abend von dem prächtigen Fasan, der noch dekoriert war mit seinen Federn, herrliche Federn, für die ein armer Junge gutes Geld bekommen hätte. Das Fleisch des Vogels schmeckte ihm trocken und zäh. Und weil das, was an diesem Tag geschehen war, zwar dem Recht nach richtig gewesen war, aber nicht dem Gefühl nach, hatte der junge Herr in Zukunft vermieden, daran zu denken. Und als er Zisterziensermönch wurde, hatte er die Geschichte tatsächlich vollkommen vergessen. Er hatte nicht daran gedacht, nicht dafür gebüßt. Er hatte sie niemals gebeichtet.
“Oh Gott vergibmirvergibmirvergibmirbittebitte...JESUS!”
Der Eremit hielt die Hände im schütteren Haar vergraben, er hob das tränenüberströmte Gesicht zum Loch im Dach und suchte Licht, nur ein klein wenig Licht, ein Sonnenstrahl der Wärme und Vergebung … doch der Himmel war grauschwarz wie Schiefer und die Wolken schienen so tief, als müssten sie das Dach der Hütte streifen und der Regen strömte weiter hinein und die Nacht war nahe. Der Eremit fühlte, dass dies die letzte Nacht sein sollte. Er versuchte, zur Muttergottes zu beten, eine Mutter, das war es, wonach er sich jetzt sehnte, eine Mutter, die ihn hielt und beschützte und ihm sagte, dass alles wieder gut werden würde. Doch nur schwerlich bekam er ihr Bild vor Augen, und als er es fand, schien es ewig weit von ihm entfernt und es war kalt, ohne Leben und Liebe. “Gegrüßet seist du Maria voll der Gnaden …" flüsterte er und er betonte vor allem die letzten Zeilen des kleinen Gebets: “Heilige Maria Mutter Gottes, bitte für uns Sünder, jetzt und in der Stunde unseres Todes, Amen. Am Ende murmelte er nur noch diese letzten Worte, wieder und wieder, doch irgendwann wurden sie stumpf, es war kein Sinn mehr darin, keine Hoffnung. Schließlich fehlte ihm die Energie, er verstummte, saß nur noch lethargisch und wartete.
Welch eine Stille, dachte er, als er an die Wand gelehnt saß und der klägliche Rest des Tages verrann. Welch ein Schweigen. War dies das Schweigen der Ewigkeit? Nur das leise Rauschen und Tröpfeln des Regens, das er aus lauter Gewohnheit kaum noch wahrnahm. Er dachte wenig in dieser Zeit, und wenn er dachte, schienen seine Gedanken seltsam gefühllos und distanziert, als seien sie nicht seine eigenen. Er konnte nicht mehr beten. Als das Geräusch schließlich kam, erschrak er kaum noch. Er griff nach der Lampe, entzündete sie. Diesmal musste er es sehen. Das … das Ding. Die kleine, flackernde Flamme spendete mehr Licht, als er den ganzen Tag gehabt hatte. Er richtete sie auf die gegenüberliegende Wand, und dann sah er den Schatten. Der Schatten eines Tieres. Instinktiv fuhr er herum, um zu sehen, was ihn warf – und doch war ihm schon klar, dass das Unsinn war, weil das Wesen sich zwischen ihm und der Lampe hätte befinden müssen. Nichts war hinter ihm. Das Ding vor ihm aber war unbestreitbar da. Es änderte seine Gestalt, es schien zu flimmern, einmal hatte es Hörner, einmal ein langes Maul mit großen Zähnen.
“Zeig dich, im Namen des Herren...”. Er flüsterte die Worte, kaum bekam er die Zähne auseinander.
Da hörte das Flimmern auf und das Tier schrumpfte zur Gestalt eines Vogels. Einem, der nicht groß, nicht eindrucksvoll war. Nein, kein Huhn. Ein Fasan. Sein Schatten war so scharf auf der Wand wie eine Tuschezeichnung. Und dann kam er auf den Eremiten zu. Er schritt einfach aus der Wand, blieb aber flach und körperlos. Wie ein schwarzes Loch in der Substanz der Welt. Der Eremit wimmerte, hoch und schrill, dass es für ihn selbst kaum menschlich mehr klang und versuchte, aufzustehen und als dies nicht gelang, wenigstens rückwärts zu kriechen, doch sein Körper gehorchte ihm nicht, auch seine Stimme versagte. Der Schatten machte kein Geräusch, doch der Puls des Einsiedlers hämmerte in seinen Ohren wie Paukenschläge.
Der Vogel kam näher, breitete die Flügel aus und wuchs. Der Eremit fing wieder lautlos an zu weinen. Er krallte die Finger um sein kleines Kreuz, doch er fühlte keinen Trost, keine Gegenwart. Keine Hilfe. Der Schatten schien ihm zu verhöhnen, schwarz, endlos, wie der Raum zwischen den Sternen, leer. Der Schatten flüsterte ihm zu, dass selbst seine Beichte und Buße sinnlos gewesen wären, dass der Gott, in dessen Gegenwart er sich so oft gewähnt hatte, nichts als ein Trugbild war, das Fantasiegebilde eines Kindes. Keine Strafe. Aber auch keine Vergebung. Nichts.
“Oh bitte bitte neinneinnenein...”, wisperte der Eremit mit letzter Kraft. Er realisierte, dass ihn selbst die ewigen Qualen der Hölle noch lieber gewesen als dieses Nichts, das sich vor ihm erstreckte, leer, kalt, dunkel und vollkommen, vollkommen einsam, von Gott und selbst dem Teufel verlassen. Er sog noch einmal scharf, leise zischend die Luft ein. Und atmete nicht wieder aus.
Am nächsten Morgen regnete es immer noch, doch es war zu einem sanften Nieseln geworden. Ein junges Mädchen eilte, gefolgt von einer älteren Frau, den Hang hinauf zur Hütte des Eremiten.
“Mutter”, sagte sie, “Wir hätten früher kommen sollen. Schon gestern oder vorgestern. Was hat er denn gegessen? Und er war schon nichts als Haut und Knochen. Ich hab’s dir gesagt, wir hätten gehen sollen, und wenn wir nass geworden wären und vielleicht gestürzt am Hang, der Herr hätte es uns doch vergolten”. Sie zog ihren Wollmantel enger um sich als sie sprach.
“Du hast wohl Recht”, erwiderte die Mutter, “aber du hast doch auch Angst gehabt. Er wohnt doch am Ende der Welt”.
Sie erreichten die Hütte und das Mädchen zog die Tür auf. Es fiel ihr schwer, sie musste kräftig rütteln und als sie sie aufbekam, sah sie, dass ein schmutziges, ganz aufgeweichtes Untergewand sie blockiert hatte.
“Vater?”, fragte sie leise.
Dann sah sie ihn und stieß einen spitzen Schrei aus. Er saß aufrecht auf dem Bett, die Hände um das Kreuz geklammert, die Finger mager und spitz wie Tierkrallen. Sein Gesicht war eine Maske des Entsetzens. Er war tot.
“Oh Mutter, Mutter”, stöhnte das Mädchen, als es sich etwas gefangen hatte. “Wir hätten eher kommen sollen!”
Die Mutter, gefasster, trat vor und versuchte, die aufgerissenen Augen zu schließen, doch sie blieben nicht zu.
“Er … er muss erfroren sein”, sagte sie schließlich. “Sieh nur, wie blau seine Lippen sind”. Man hörte ihren Worten an, dass sie sie selbst nicht glaubte. Sie senkte den Kopf und bekreuzigte sich. “Der Himmel möge uns verzeihen”.