Im Schatten
Schritte. Ja, es waren eindeutig Schritte, die Allis hörte. Sie atmet auf, nur ein kurzes durchatmen, bis sie erkannte wer oder besser was auf sie zu kam. Es war schon nach Mitternacht, was hatte sie sich bloß dabei gedacht, allein unterwegs zu sein. Allis kannte die Gefahr, jeder Mensch kannte sie. Nur Verrückte und Selbstmordgefährdete gingen um diese Zeit noch aus dem Haus. Sie war sich nicht sicher in welche Kategorie sie passte, vielleicht ein wenig von beidem. Es war kalt und dunkel, und wie immer windig. Nebel zog auf, alles in allem ein schlechter Zeitpunkt um draußen in der Dunkelheit auf einen Unbekannten zu warten.
Allis' Bruder war vor drei Monaten von einem Tag auf den anderen verschwunden, keine Nachricht, kein Anruf seitdem. Eric hatte sich sein Leben lang in Schwierigkeiten gebracht und war jedes Mal heil wieder heraus gekommen. Allis konnte das nicht einfach so hinnehmen. Die Polizei wollte oder konnte nicht helfen, also musste sie sich selbst helfen, und Eric. Seitdem war sie auf der Suche und tauchte immer tiefer in die Schatten hinab.
Heute morgen hatte sie einen Zettel im Briefkasten, nur eine kleine Notiz Ich weiß, wo dein Bruder ist. Triff dich mit mir, heute, kurz nach Mitternacht vor dem alten Kino. Komm allein. Komm allein. Das hätte Allis stutzig machen sollen. Aber sie war dort. An dem vereinbarten Treffpunkt, allein.
Der Mann, der auf sie zu kam war groß und mit einer athletischen Figur. Seine kinnlangen blonden Haare fielen ihm in sein markantes Gesicht. Die Art, wie er sich bewegte war elegant und fließend. Aber er war kein Mensch. Allis blickte sich um, es war niemand anderes auf der Straße. Nur Allis und dieser Unbekannte. Ihr Herz schlug schnell, je näher er kam, desto feuchter wurden ihre Hände. Sie strich sich mit der Hand eine Strähne ihrer langen schwarzen Haare aus dem Gesicht. Er war nur noch drei Schritte entfernt und sie holte tief Luft, ihre Muskeln spannten sich automatisch an. „Gut, du bist gekommen. Ich war mir nicht sicher. Ich bin Lucas.“ Allis stutze, wusste nicht was sie sagen sollte. „Du bist ein Vampir!“ Das war nicht sehr kreativ, aber mehr viel ihr nicht ein.
Fünf Jahre zuvor wurde die Menschheit von der Nachricht überwältigt, dass es Vampire, Hexen und Dämonen gibt. Seitdem werden Regierungen, Behörden und Militär von eben jenen geführt, die Menschen waren machtlos. Sie wurden nun beherrscht. Für Vampire waren sie Nahrung, für Dämonen und ihre Hexendiener waren sie Sklaven.
Lucas lachte leise. „Ja, in der Tat. Das ist schwer zu leugnen. Ich weiß es fällt Menschen schwer Vampiren zu trauen, ihr habt alle zu viel Angst. Zu Recht, meistens zumindest. Aber dieses Mal kannst du mir vertrauen. Wir haben einen gemeinsamen Feind, könnte man sagen“. Allis blickte ihn verwirrt an „Einen gemeinsamen Feind? Ich suche nur meinen Bruder!“ „Und ich weiß, wer ihn festhält.“ Das war alles, was er sagte. „Also gut, erzähl mir was du weißt.“ Lucas sah sie an, ein durchdringender Blick, der bei Allis Gänsehaut verursachte. „Nun, derjenige, der ihn gefangen hält ist ein Dämon, sein Name ist Balzoth. Er versucht mit seinen Hexen die Stadt zu übernehmen. Meinen Meistern gefällt das nicht, wer will schon seine Macht verlieren. Noch lebt dein Bruder, aber wie lange er die Folter und Qual noch ertragen kann ist fraglich. Wenn du ihn retten willst, brauchst du meine Hilfe. Und wir müssten sehr schnell handeln.“ Ein Dämon. Allis war klar, dass sie allein keine Chance haben würde. Aber einem Vampir vertrauen? Ihr war schwindelig, ihre Hände zitterten. „Also gut, ich vertraue dir, vorerst zumindest. Aber warum willst du ihn retten? Wie hilft euch das?“ Wieder lächelte Lucas sie an „Nun, sagen wir einfach momentan ist dein Bruder eine wichtige Kraftquelle für Balzoth. Er hat ungewöhnlich lange überlebt, aber auch er wird irgendwann brechen und sterben.“ Allis wurde übel, der Gedanke an die Qualen, die ihr Bruder erleiden musste, war furchterregend. Sie hatte keine Wahl, sie musste Eric retten, oder es zumindest versuchen. „In Ordnung. Wo ist er und wie gehen wir vor?“ „Sie verstecken sich drüben im alten Kino. Balzoth selbst ist heute nicht anwesend, er hat nur zwei seiner Hexen dort gelassen.FOlg mir und mach einfach was ich dir sage“ Allis blickte auf die andere Straßenseite. Das unscheinbare alte Gebäude war schon seit einiger Zeit verlassen, das Kino existierte seit beinahe vier Jahren nicht mehr. Als sie sich umsah, stellte sie fest, dass Lucas schon einige Schritte auf das Gebäude zu gegangen war. Schnell ging sie ihm hinterher, die Knie leicht zittrig, ihr Herz schlug schnell. Sie hatte Angst.
Sie betraten das Gebäude und automatisch atmete Allis tief ein. Es war dunkel und staubig. Es roch leicht modrig. Das unangenehme Kribbeln in Allis' Bauch wurde dadurch nur noch verstärkt. Lucas bedeutete ihr leise zu sein, dann ging er zielstrebig die Treppe hinunter. Sie standen in einem großen Raum. An den Wänden waren rote scheinende Lampen angebracht. Es war kalt und zu dem modrigen Geruch kam noch eine Nuance Schwefel dazu. Hier wurde schwarze Hexerei betrieben. Lucas drehte sich zu ihr um, sein Gesicht lag halb im Schatten, aber er wirkte sehr konzentriert. Er zog die Augenbrauen zusammen. „Dein Bruder ist in dem Raum geradeaus, die Hexen sind in dem Raum rechts. Dort gehe ich hin und lenke sie ab. Du holst deinen Bruder und verschwindest. Egal was du hörst, schau dich nicht um, lauf einfach.“ Er sagte das in einem ruhigen Ton, doch Allis überliefen Schauder. Egal was sie hörte? Was würde er tun um diese Hexen abzulenken? Allis wollte es nicht wissen, sonst würde sie wahrscheinlich nie wieder ein Auge zu bekommen. Ihre Muskeln kribbelten, ihr Herz raste. Sie konnte nicht sprechen, traute ihrer Stimme nicht, also nickte sie nur. Ohne weiteres Zögern rannte Lucas zur Tür rechts, sie hörte zwei laute, schrille Schreie. Es klang als ob ihr das Trommelfell platzen wollte, doch sie unterdrückte den Drang sich in die Ecke zu kauern und die Ohren zuzuhalten. Stattdessen lief sie los. Die Tür flog beinahe auf als sie darauf zu stürmte, für Allis gab es nur noch einen Gedanken: Eric. Sie stand in dem Raum, es war dunkel und kalt. Sie konnte erst nichts sehen, doch dann bewegte sich etwas im Schatten. Sie hörte ein leises Atmen. Sie lief los, und stolperte beinahe über Erics Körper. Er lag auf dem Boden, bleich, abgemagert und offensichtlich schrecklich erschöpft. „Eric, Eric, ich bin's, Allis. Ich helfe dir beim Aufstehen, wir müssen hier weg, schnell.“ Wieder das laute Kreischen, nur diesmal mischte sich noch ein dunkles Grollen dazu. Allis bekam Panik. Eric blickte sie an. „Allis? Was machst du hier? Ist das ein Traum?“ „Nein, es ist kein Traum. Ich erkläre dir später alles, jetzt müssen wir hier weg!“ Allis zog ihren Bruder ein wenig hoch und stütze ihn, als er langsam aufstand. Er war schwach, sie würde ihn wahrscheinlich fast tragen müssen. Wieder ertönte das schreckliche Kreischen, nur diesmal noch schriller und kurz darauf hörten sie einen lauten Knall. Nein, Allis wollte wirklich nicht wissen, was Lucas dort gerade tat. Sie rannte los, so schnell sie konnte, während sie Eric stützte. Es waren nur wenige Sekunden, doch es kam ihr vor wie Stunden, bis sie draußen waren. Sie hielt nicht an, schaute sich auch nicht um. Sie liefen noch fast zwanzig Minuten weiter, um möglichst viel Abstand zwischen sich und dem offensichtlichen Kampf zwischen Lucas und den Hexen zu bringen. Auf der Straße stehend holte Allis tief Luft. Sie sah Eric an, konnte es kaum glauben. Drei Monate hatte sie ihn gesucht und nun stand er wieder neben ihr. Glück durchströmte sie. Er war sicher, sie hatte es geschafft.