Im Schatten der Drachen
Es war ein später Sommernachmittag und an der Boston Elementary School ereigneten sich zu dieser Zeit zwei höchst ungewöhnliche Dinge:
Zum einen befanden sich immer noch Schüler auf dem Gelände (der Unterricht wurde gegen Mittag beendet, nachdem die Temperatur in den Klassenräumen auf über 35° Grad gestiegen war und zwei dutzend Schüler aufgrund von Kreislaufproblemen nach Hause geschickt werden mussten)
und zum anderen lag eine ungewöhnliche Spannung in der Luft.
Ein unaufmerksamer Beobachter hätte sie vielleicht den hohen Temperaturen und dem bevorstehenden Sommergewitter zugeschrieben, das sich am Wochenende über der Stadt entladen soll, aber wer genau hinsah, konnte vor den Eingängen der Schule drei Schüler erkennen, die mit ihren angespannten Gesichtern und aufmerksamen Blicken das Gelände beobachteten.
Sie saßen dort auf Bänken, hockten hinter Hecken und gaben alles, um möglichst nicht aufzufallen, während sie darauf warteten, dass die Ratte, die sie in ihrem Käfig eingekesselt hatten, herauskommen würde. Sie alle stimmten darin überein, dass es höchste Zeit wurde, ihr eine gehörige Tracht Prügel zu verpassen.
Max blickte auf seine Armbanduhr. 16:15 Uhr. So langsam müssten sie weg sein, dachte er und kroch aus seiner Deckung im Gerätelager der Turnhalle hervor. Er klopfte den Staub von seiner Jeans ab, legte sich die Büchertasche lose um die Schulter und ging die Längsseite der Turnhalle entlang, an deren Ende es einen kleinen Seitenausgang gab.
Er war der festen Überzeugung gewesen, Francis, Ben und Michael damit aus dem Weg gehen zu können, aber als er die Tür mit einem Quietschen öffnete und das Sonnenlicht in dünnen Fäden in die Turnhalle fiel, blieb er wie angewurzelt stehen. Etwas stimmte nicht.
Sie sind doch sonst nicht so nachlässig, dachte er und sein Herzschlag beschleunigte sich. Er hatte das Gefühl, als käme das Schlagen nicht mehr aus seiner Brust, sondern mitten aus seinem Hals, wo es ihm systematisch die Luft abschnürte. Er fragte sich, ob es möglich wäre, dass jemand anderes
(Francis)
dieses Schlagen hören konnte, und bei dem Gedanken daran erschauderte er. Max kniete sich neben die Tür, die jetzt einen Spalt breit geöffnet war, und blickte um die Ecke. Nichts. Erleichtert richtete er sich auf und wollte gerade die Tür mit einem Ruck aufstoßen, als er plötzlich Schritte hörte. Es war ein knirschendes Geräusch von Gummisohlen auf trockenem Laub. Rtsch. Rtsch.
Sein Herz dröhnte ihm jetzt geradezu in den Ohren. Bitte, lieber Gott, bitte nicht, dachte er und spähte wieder durch den Türspalt. Etwa acht Meter von der Tür entfernt stand Ben und hatte ihm den Rücken zugedreht. Er ging unruhig von einer Seite zur anderen, blieb kurz stehen und ging dann weiter. Seine Schuhe schlurften über das trockene Laub. Rtsch. Rtsch.
Der Anblick rief eine dumpfe, aber überaus präsente Wut in ihm hervor, die er bislang nur selten gespürt hatte. Francis, Ben und Michael gehörten zu den schlechtesten Schülern der siebten Klassen, mussten regelmäßig in den Pausen nachsitzen
(was gut für ihn war, denn so konnte ihn niemand durch die Gänge schubsen, mit Abfällen bewerfen oder um das Geld zum Mittagessen erleichtern),
aber obwohl Frau Kelling unter jede ihrer Arbeiten einen Trauersmiley malen musste, waren sie
(oder zumindest Francis)
schlau genug gewesen, sich aufzuteilen und eine Wache vor dem Ausgang der Sporthalle aufzustellen. Max war erst vor zwei Monaten an die Boston Elementary School gewechselt, hatte es aber innerhalb kürzester Zeit geschafft, Francis‘ ganze Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
»Was auch immer sie mit dir vorhaben, lass es einfach zu. Wichtig ist, dass sie zufrieden sind, damit am nächsten Tag jemand anderes an die Reihe kommt«, hatte ihm sein Mitschüler George beim Mittagessen erzählt. »Und egal, was du tust: Halt die Klappe, wenn ein Lehrer dich nach ihnen fragt. Hörst du? Halt einfach deine gottverdammte Klappe.« Bedauerlicherweise kam diese Warnung für Max drei Tage zu spät.
Er warf wieder einen Blick durch den Türspalt und presste sich die Handflächen ruckartig auf den Mund, um nicht vor Ekel laut aufzuschreien. Bens Gesicht war jetzt zu ihm gewandt und er konnte sehen, wie er mit der linken Hand grünlichen Schleim aus seiner Nase herauszog und daran leckte, als wäre es ein Eis am Stiel. Wenn du mir schon das Geld für‘s Mittagessen abnimmst, dann hol dir in der Cafeteria wenigstens etwas Anständiges zu essen, dachte er und plötzlich drang ein Lachen durch seine Handflächen.
Instinktiv wich er einige Schritte zurück. Aber Max musste nicht abwarten, um zu wissen, ob Ben ihn gehört hatte. Das Knirschen der Gummisohlen wurde lauter und eine helle Jungenstimme ertönte: »Ist da jemand? Hey, ich weiß, dass hier jemand ist!«
Er presste sich die Handflächen jetzt so stark auf den Mund, dass es schmerzte und wartete mit angehaltenem Atem darauf, ob von der anderen Seite eine Hand hervorschießen und sich um die schwere Metalltür legen würde, die Finger zu Klauen geformt. »Francis, bist du das? Das ist nicht witzig, Mann!«
Bens Stimme befand sich jetzt direkt hinter der Tür. Max spürte, wie Schweiß über seinen Nacken in den Hemdkragen lief und er fühlte sich unwohl dabei.
Es quietschte. Die Tür öffnete sich jetzt vollständig und grelles Sonnenlicht strömte in die schwach beleuchtete Turnhalle. Ben starrte ihn mit einem hässlichen Grinsen an, das sich über beide Ohren erstreckte. »Oh, du hier?«, fragte er mit gespielter Verwunderung. »Scheint so, als hätte Francis wieder mal Recht gehabt.« Seine Lippen war leicht geöffnet und Max konnte deutlich die gelben und halb verfaulten Zähne sehen, die dahinter zum Vorschein kamen.
»Dich werd ich lehren, uns beim Rektor zu verpetzen.« Und noch bevor Max irgendetwas tun konnte, schoss Ben, der trotz seiner fetten Wampe ungeheuer wendig war
(die anderen Kinder nannten ihn einen Bulldozer, aber natürlich nur, wenn sie unter sich waren),
mit ausgestreckten Armen nach vorne und röhrte dabei laut auf wie ein Raubtier. »Dich werd ich lehren …« Aber den Rest hörte Max nicht mehr.
Er hatte den Blick starr nach vorne gerichtet, die Lippen zu einem schmalen Schlitz zusammengepresst und rannte, als wäre der Teufel hinter ihm her.
Trotz der Schmerzen in seinem Brustkorb, hatte er nach einigen Metern einen beachtlichen Vorsprung errungen, geriet aber auf dem glatten Turnhallenboden mehrmals ins Stolpern, und so erreichte er mehr fallend als laufend die Tür zu den Umkleideräumen.
Max war sich sicher, dass er Ben hier abschütteln konnte. Der Sportlehrer Mr. Hansen ließ den Schlüssel für die Nachmittagskurse immer im Schloss stecken. Er musste also nur die Tür hinter sich zuschlagen, den Schlüssel im Schloss drehen und auf das leise Klick warten, das ihm das warme Gefühl geben würde, in Sicherheit zu sein. Er würde darauf warten, dass Ben mit seinen achtzig Kilo gegen die schwere Eichentür krachen und laut aufschreien würde.
Nur noch ein Schritt, dann würde er in -
Der Schlüssel steckte nicht im Schloss. Hitzefrei, ging es ihm durch den Kopf und Max spürte, wie er am ganzen Körper zu schwitzen begann. Unsicher schaute er sich um. Die Umkleideräume der Boston Elementary School hatten zwei weitere Türen: Eine führte in einen angrenzenden Duschraum, der von den Schülern aber nur selten benutzt wurde, weil es eine Gemeinschaftsdusche war, und die andere führte auf den Gang hinaus, an dessen Ende sich der Klassentrakt der Schule anschloss. Max stieß die Tür zum Gang auf und kam quietschend in dem von Neonröhren beleuchteten Korridor zum Stehen.
Der Gang war menschenleer. Ein Ruck durchfuhr seinen Körper und er hatte das unangenehme Gefühl zu fallen, so wie es manchmal in seinen Träumen der Fall war, aus denen er schweißgebadet aufschreckte.
»Scheiße«, murmelte er, während hinter ihm Bens Fluchen langsam lauter wurde. »Was jetzt«?
Aber bevor ihm jemand eine Antwort auf diese Frage geben konnte, sah er wie Francis und Michael am linken Ende des Korridors um die Ecke bogen. Francis hatte ihn sofort gesehen. »Hey, kleiner Scheißer, komm sofort her!« Seine Stimme hallte in dem engen Gang mehrfach wieder und Max hatte das Gefühl, als befände sie sich direkt neben seinem Ohr.
»Damit du dich dann mit deinem fetten Arsch auf mein Gesicht setzen kannst?«, konterte Max schlagfertig. »Nein, danke.«
Francis machte einige hektische Schritte nach vorne und rief mehr aus Verwirrung als aus Zorn: »Dich werd ich lehren, uns beim Rektor zu verpfeifen.«
(wie konnte es dieser kleine Knirps es nur wagen, das Wort gegen mich zu erheben? Dieser Junge braucht eine Bestrafung, oh ja, und wie wir ihn bestrafen werden)
Plötzlich schoss Francis mit der Sprungkraft eines bengalischen Tigers nach vorne und obwohl er und Michael noch mehr als fünfzehn Meter von ihm entfernt waren, konnte Max jetzt deutlich den Hass in seinen zu Schlitzen geformten Augen sehen.
»Dich werd ich lehren, uns beim Rektor zu verpfeifen!«, schrie er erneut und seine Stimme hallte durch den ganzen Korridor, wurde von den Wänden zurückgeworfen und ließ seine Muskeln erfrieren. Arme und Beide hatten sich zu hilflosen Klumpen versteift, sein Atem ging schnell und pfeifend, während er hilflos mit ansehen musste, wie Francis immer näher kam.
15 Meter … 10 Meter … 5 Meter …
Plötzlich dröhnte dicht hinter ihm eine helle Jungenstimme: »Das war‘s mit dem Versteckspiel.«
Max fuhr herum und seine geweiteten Augen starrten erneut in Bens breites Grinsen, das sich unregelmäßig über das aufgequollene und von Pickeln und Mitessern zersetzte Gesicht zog. Ihn hatte er vollkommen vergessen.
Und die plötzliche Erkenntnis, dass er wie eine Ratte in der Falle sitzen würde, wenn er sich nicht bald bewegte, ließ einen weiteren, noch viel stärkeren Ruck wie einen Stromschlag durch seinen Körper schießen und er spürte, dass die Wärme in seinen Körper zurückströmte, dass sie ihn auftaute und er endlich die Kraft hatte zu rennen.
Bis zur Flügeltür am Ende des Ganges waren es noch etwa dreißig Meter. Er rannte und keuchte, während er sich mit der linken Hand die schmerzenden Hüften hielt und inständig hoffte, dass Ben ausrutschen und die anderen mit seinem massigen Körpergewicht zu Boden befördern würde. Er wagte es nicht, sich umzudrehen, während die Schreie und Flüche der Verfolger immer näher kamen. Wie weit noch? Fünf Meter vielleicht? Vier? Jeden Augenblick rechnete er damit, dass ein kalter Luftzug seine Nackenhaare aufstellen und sich dann eine eisige Hand von hinten um seine Kehle schließen würde.
Der Klassentrakt kam näher. Seine Hüften schmerzten jetzt noch stärker und er hoffte inständig, dass sich der Hausmeister Mr. Devill noch irgendwo in den Gängen aufhielt. Wenn er seine ganze Kraft in seine Stimme legte, könnte Mr. Devill ihn vielleicht schreien hören und seinem furchteinflößenden Körperbau hätten die Jungs nur wenig entgegenzusetzen. Der bloße Gedanke an ihn rief in Max das Gefühl von einer Felldecke im kalten Winter hervor; das Gefühl von Sicherheit. Und vielleicht hätte er diese Sicherheit tatsächlich erreichen können, wenn ihn nicht plötzlich eine kräftige Hand an den Haaren gepackt und schmerzhaft zurückgerissen hätte.
Der Weg zum Ende des Ganges zog sich in die Länge wie ein Kaugummi und schien jetzt unerreichbar.
»Wen haben wir denn hier?« Max Kopf wurde herumgedreht und er starrte Francis direkt in seine hasserfüllten Augen. »Schön, dich wiederzusehen, Schwätzer.« Er grinse ihn an, aber aus seinem Gesicht sprach weder Belustigung noch Freude. Es war die blanke Wut.
»L-Lasst m-mich ge-gehen«, stotterte Max. »S-Sonst werdet i-ihr es b-bereuen.«
Der Schlag kam so unerwartet, dass Max einige Schritte zurückgetaumelt wäre, wenn Francis ihn nicht an seinen Haaren festgehalten und noch näher zu sich herangezogen hätte. Seine Wange glühte und er biss sich auf die Zunge, um die Tränen zurückzuhalten.
»Nein, du wirst bereuen, dass du deine verdammte Klappe nicht halten konntest«, flüsterte er ihm leise zu und wies Ben und Michael mit einer Handbewegung an, zu ihm zu kommen. »Vielleicht lassen wir dich gehen, wenn du versprichst, dich ab jetzt besser zu benehmen, wenn du verstehst, was ich meine.« Ben und Michael kicherten leise, während Francis Augen starr auf Max gerichtet waren. »Nun?«
»O-Okay, i-ich versp-spreche es. D-Darf ich jetzt gehen?«
Francis Grinsen wurde breiter. »Habt ihr gehört? Er hat es versprochen. Dann sollten wir jetzt dafür sorgen, dass er dieses Versprechen nie mehr vergessen wird.«
Aber noch bevor Max wusste, was eigentlich geschah, hatten ihn Ben und Michael an den Beinen gepackt und zu dritt trugen sie ihn jetzt den Korridor entlang, zurück zu den Umkleideräumen der Sporthalle. Er hatte eine Ahnung, was gleich passieren würde, aber überhaupt kein Interesse, das tatsächlich herauszufinden. Er zappelte wie ein Fisch am Haken, schaffte es aber nicht mal ansatzweise, sich loszureißen. Die drei waren einfach zu stark. Sie warfen ihn regelrecht durch die Tür, er stolperte und ruderte wild mit den Armen, um das Gleichgewicht wiederzufinden.
»Wie gefällt dir das?« Max wollte sich gerade umdrehen (es war keine gute Idee, seinen Verfolgern den Rücken zuzudrehen), als Francis ihm von hinten einen kräftigen Tritt versetzte. Er schrie laut auf und fiel der Länge nach hin. Sein Kinn schlug unsanft auf dem harten Steinboden auf und er spürte, wie warmes Blut darunter hervorsickerte.
Francis‘ Gelächter dröhnte in seinen Ohren. Der Hall war zwar nicht so laut und etwas gedämpfter als im Korridor, aber trotzdem lief Max ein Schauer über seinen Rücken. Erschrocken stellte er fest, dass die klaren Linien seiner Hände vor seinen Augen ineinanderliefen, sich vermischten, zerfielen, aber trotzdem war Max sich wage bewusst, dass er hier weg musste, dass er keine Zeit hatte, auf dem Boden liegen zu bleiben, weil sie dann weiß-Gott-was mit ihm gemacht hätten.
Nach einigen Sekunden rappelte er sich taumelnd auf und schaute hektisch um sich.
Ben und Michael hatten sich vor den Türen zur Sporthalle und dem Korridor mit vor der Brust verschränkten Armen positioniert und schauten mit einem Ausdruck der Freude auf ihn herab. Und nur für einen kurzen Augenblick glaubte Max, in Michaels Augen neben der Freude auch eine Spur panischer Angst gefunden zu haben. Dann verschwand der Ausdruck in seinem Gesicht wieder.
Francis ging zwei Schritte auf ihn zu und Max wich instinktiv zurück, spürte die stumpfen Wandkacheln, die sich in seinen Rücken bohrten, der von Francis‘ Tritt immer noch gewaltig schmerzte und schaute verängstigt zur Seite.
»Und jetzt werde ich dir etwas zeigen«, flüsterte Francis, fuhr Max mit seiner rechten Hand langsam und zärtlich ums Kinn und presste dann mit aller Kraft seine Fingernägel in das weiche Fleisch. »Aber ich möchte, dass du hinsiehst, verstanden? Ich möchte, dass du es siehst.« Max drehte seinen Kopf und seine zitternden Augen trafen augenblicklich Francis‘ scharfen Blick. Seine Pupillen waren weit geöffnet
(Großmutter, warum hast du so große Augen?)
und sein Mund öffnete und schloss sich in schnellen Stößen.
(Großmutter, warum hast du so große Zähne?)
Max hielt dem Blick stand. »Gut«, sagte er und lächelte. »Ja, so ist‘s gut. Sehr gut.« Er ließ von ihm ab, durchquerte mit langsamen Schritten den Raum
(sieh genau hin, sieh jeden dieser Schritte ganz genau, ganz langsam, und fühle, nein, sieh die Schmerzen, die auf dich warten)
und öffnete die Tür zum Duschraum. Er vollführte eine einladende Handbewegung, die Max zeigte, dass er dort
(wie konnte es dieser kleiner Knirps es nur wagen, das Wort gegen mich zu erheben? Dieser Junge braucht eine Bestrafung, oh ja, und wie wir ihn bestrafen werden)
sehr willkommen war. »Ben, Michael, helft mir mal.«
Sie packten ihn wieder zu dritt und obwohl Max glaubte, in Michaels Gesicht erneut ein kurzes Zögern gesehen zu haben, folgte er Francis‘ Anweisungen bedingungslos. Sie zerrten ihn durch den Raum, aber er versuchte jetzt nicht mehr, sich aus ihrem Griff zu befreien, stattdessen bereitete er sich darauf vor, den einsetzenden Sturz so gut er konnte abzuschwächen. Max wusste, dass er zu Boden gehen würde und wenn er dann nicht schnell genug auf die Beine kam, wäre es um seine Zukunft nicht besonders rosig bestellt.
»Jungs, runter mit ihm, jetzt!« Francis‘ Befehl wurde sofort ausgeführt und mit einem lauten Rummms! landete Max auf den harten Steinfliesen. Zwar hatte er sich über die Schulter zur Seite abgerollt, sodass er nicht mehr auf dem Bauch lag, als die drei sich über ihn beugten, aber das half nur wenig.
Wie eine Robbe rutschte er jetzt auf dem Rücken vor ihnen weg, stützte sich immer wieder mit Händen und Füßen auf dem Boden auf, verlor den Halt, stützte sich auf, robbte weiter und sah dabei unfassbar unbeholfen aus.
Ihm war vage bewusst, dass er die Tränen nicht mehr zurückhalten konnte und spürte, wie sie in seinem schmutzigen Gesicht helle Streifen hinterließen.
»Oh seht mal, der weint ja wie ein Baby«, rief Ben und wieherte vor Lachen. Die anderen stimmten in sein Lachen ein und schon bald war der ganze Raum von einem dumpfen Schall erfüllt, der Max an den Rand der Verzweiflung brachte.
»B-Bitte«, schluchzte er. »B-Bitte n-nicht.«
Er hatte gerade die Mitte des Raumes erreicht (sein Hemd, das er sich am Vortag gekauft hatte, war an mehreren Stellen zerrissen und ihm kam der vollkommen unpassende Gedanke, was wohl seine Mutter dazu sagen würde),
als er sich plötzlich daran erinnerte, warum er diesen Raum so sehr hasste. Die Duschköpfe, schoss es ihm durch den Kopf. Die Drachen.
Und von seiner Position sahen die Reihen aus Duschköpfen, die auf beiden Seiten des Raumes zwei Meter über dem Boden angebracht waren, tatsächlich wie Drachenköpfe aus, die mit ihren aschgrauen Augen auf ihn herabstarrten. Nur kam aus ihren Mäulern kein Feuer, sondern Wasser.
So etwa müssen sich die Menschen in den Konzentrations-lagern gefühlt haben, dachte er und wünschte sich sofort, dass sein Vater ihm die Geschichten darüber nicht erzählt hätte.
Francis, Ben und Michael kamen jetzt in einer Reihe auf ihn zu, während die Drachenköpfe über ihnen hämisch lachten, und Francis beugte sich zu ihm herab. »Es wird Zeit, dem Baby seine Babytränen abzuwaschen, was meint ihr, Jungs?«
Die Antwort war ein eifriges Nicken.
(Halt, da war es wieder! Dieses kurze Zögern. Michael, wenn du das nicht willst, dann tu etwas, dann hilf mir, bitte Michael, dann HILF mir)
Michaels gläserne Augen erschienen durch die Hornbrille unnatürlich groß und er wandte den Blick rasch ab, als Francis aufsprang und zu einer der Duschen herüberging. Er drehte den Wasserhahn auf, schob den Schieberegler für die Temperatur ganz nach links und hielt testweise seine Hand unter den Wasserstrahl. Blitzschnell zog er sie zurück.
»Alles klar«, sagte er und Max konnte sehen, wie sich seine Gesichtszüge verhärteten, als würde er vor einer schweren Matheaufgabe sitzen. Frau Kelling wird dir dafür sicher einen Trauersmiley geben, dachte er zusammenhanglos. »Jetzt bringt ihn her.«
Ben und Michael packten ihn unter den Achseln und hoben ihn mit solch einer Wucht hoch, dass seine Rippen schmerzten. Der Geruch von Schweiß, der sich mit billigem Aftershave vermischt hatte, stieg ihm in die Nase. Er musste würgen.
»Ja, gut so, Baby, mach ein Bäuerchen. Tu es für Daddy«, witzelte Francis und alle bis auf Michael lachten laut auf.
Max bemerkte, dass er seinen immer noch Blick abgewandt hatte und bei weitem nicht so stark zudrückte wie Ben, der seinen Arm offensichtlich für einen rohes Steak hielt, das er bearbeiten wollte.
(Vielleicht lässt er mich los, wenn ich zu seiner Seite hin ausbreche. Wenn ein Arm frei ist, bekomme ich sicher auch meinen anderen frei und dann müsste ich nur bis zur Tür kommen, um die Ecke in die Sporthalle abbiegen und aus dem Seitenausgang nach draußen gelangen)
Der Gedanke an die Welt dort draußen ließ ihm einen wohligen Schauer über den Rücken laufen.
Es war Francis, der bemerkte, dass etwas nicht stimmte.
»Michael, ist alles in Ordnung mit dir? Du siehst so blass aus.« Keine Reaktion. »Michael?«
(Hat sich sein Griff gerade gelockert? Ist das möglich?)
»Tut mir Leid, Jungs. Ich kann das einfach nicht.« Er ließ den Arm sinken und trat unsicher einige Schritte zurück. Francis starrte ihn mit einem fassungslosen Blick an, und Michael hatte das Gefühl, als wollte er ihn damit erdolchen. Für einen kurzen Moment, der sich unnatürlich lang anfühlte, war nur das Rauschen des Wassers zu hören, das auf dem harten Boden prasselte wie Hagelkörner auf Fensterscheiben. Dann baute sich Francis vor ihm auf, die Lippen zu Schlitzen geformt. Seine Stimme bebte. »Bist du eigentlich auch für irgendetwas zu gebrauchen? Verschwinde. Sofort!«
Erleichtert drehte Michael sich um und wollte gerade den Raum verlassen, als Francis plötzlich rief: »Das wird ein Nachspiel haben, du Verräter, hörst du? Das wird ein gottverdammtes Nachspiel haben!« Seine Stimme hallte in den leeren Gängen wieder und Michael hörte sie noch, als er den Korridor verließ und in Richtung der Klassenräume davonrannte.
Jetzt oder nie, dachte Max und warf sich mit seinem ganzen Körpergewicht in Bens Richtung, der irritiert ins Taumeln geriet. Sein Griff hatte sich etwas gelockert und Max versuchte jetzt, in die andere Richtung auszubrechen. Aber er hatte Bens Reaktionsgeschwindigkeit bei weitem unterschätzt. Noch bevor er sich ganz befreit hatte, hatte Ben ihn an beiden Armen gepackt und sie schmerzhaft nach hinten verdreht. Max stöhnte und schrie laut auf. »Schrei so viel zu willst, hier hört dich keiner«, flüsterte Ben ihm ins Ohr und in seinem Atem schwang ein unterschwelliger Gestank mit, der Max erneut zum Würgen brachte. »Bringen wir die Sache hinter uns, Ben«, sagte Francis und grinste.
Ben zerrte ihn jetzt regelrecht zur Dusche hinüber. Francis packte ihn ihm Nacken und drückte seinen Kopf unsanft in den kalten Wasserstrahl.
Max versuchte zu schreien, aber als er den Mund öffnete, schoss Wasser hinein und er spürte, wie der rostige Geschmack seinen Mund zusammenzog. Seine Haare hingen ihm in klumpigen Strähnen ins Gesicht und er versuchte zu blinzeln, versuchte durch den trüben Vorhang irgendetwas zu erkennen, aber sobald er seine Augen öffnete, zogen sie sich durch den Wasserdruck blitzartig wieder zusammen. Ihm war unglaublich heiß. Trotz der Kälte des Wassers schwitzte er am ganzen Körper; die Angst, hier und jetzt zu ertrinken, war überwältigend und ließ ihn erstarren.
»Na, wie gefällt dir das?« Francis Stimme schien unfassbar weit entfernt zu sein und drang nur ganz schwach an seine Ohren, als würde sich zwischen ihnen eine dicke Mauer befinden. »Wie gefällt dir DAS!«
Dann spürte Max, wie der Schmerz in seinem Nacken nach ließ und ihn Francis‘ Hand zurückzog.
Er schüttelte den Kopf, stieß keuchend den Atem aus und bemerkte schwach, wie das Wasser in dünnen Rinnsalen von ihm abtropfte. Seine Haare klebten jetzt wie eine zweite Haut auf seinem Gesicht. Er musste laut husten, um überhaupt etwas Luft zu bekommen und sein Atem ging schnell und pfeifend.
»B-Bitte«, keuchte er. »B-Bitte hört a-auf.« Aber Francis‘ Grinsen wurde nur noch breiter und er dachte
(wie konnte es dieser kleiner Knirps es nur wagen, das Wort gegen mich zu erheben? Dieser Junge braucht eine Bestrafung, oh ja, und wie wir ihn bestrafen werden),
dass es nicht schlimm genug gewesen sein konnte, wenn seine Stimme noch funktionierte.
Mittlerweile machte es Max nichts mehr aus, dass er weinte; er fühlte sich dadurch sogar auf eine merkwürdige Weise beruhigt, weil er wusste, dass er noch am Leben war. »Sieh sich mal einer diese Heulsuse an«, sagte Francis. »Ich wette, der nässt sich nachts genauso ein wie jetzt.«
Ben grölte vor Lachen und auch Francis brauchte einige Sekunden, bis er sich wieder gefasst hatte.
Die Prozedur wiederholte sich. Aber genau in dem Moment, als er Max das dritte Mal unter den kalten Wasserstrahl drücken wollte, hellte sich sein Verstand ein wenig auf und er dachte daran, wie Francis und seine Bande ihn seit seinem Schulwechsel in die Enge gedrängt und immer wieder niedergemacht hatten, er dachte an die Tage, die er mit blauen Flecken im Gesicht und hochgezogenen Schultern durch die Gänge geschlichen war, immer darauf bedacht, niemanden von ihnen auch nur anzusehen und besonders dachte er an die vielen Nachmittage, die er hungrig in der Schule verbringen musste, weil sie ihm sein Essensgeld abgenommen hatten und er fühlte, wie mit diesen Gedanken die Leere in seinen Körper zurückströmte, das Gefühl zu fallen und immer weiter zu fallen, aber niemanden zu haben, der einen auffängt. Er weinte jetzt noch stärker, und die Tränen fühlten sich auf seiner nassen Wange unfassbar heiß an und sie gaben ihm die Kraft, die er jetzt so sehnlich brauchte.
Mit einer Eleganz, auf die selbst eine Balletttänzerin neidisch gewesen wäre, riss er plötzlich sein rechtes Bein nach hinten, und obwohl er nur erahnen konnte, wo sich Francis‘ Körper befand, traf sein Tritt ihn an genau der richtigen Stelle: Mitten in die Hoden.
Francis schrie laut auf und ließ ihn los. Zu seiner Verwunderung hatte sich Bens Griff ebenfalls gelockert und mit der letzten verbliebenen Kraft stemmte Max seine Ellenbogen nach hinten, wo sie direkt auf Bens Brustkorb trafen. Es knackte. Jetzt gab es kein Halten mehr. Er machte einen großen Satz nach vorne und und rannte zur Tür hinüber – nicht ohne vorher noch einen flüchtigen Blick auf Francis zu werfen, der sich auf dem Boden liegend seine schmerzenden Eier hielt. »H...« , begann er und seine Stimme versagte. »H-Hinterher!«
(jetzt war er es, der stotterte)
Aber Max hatte bereits den Duschraum verlassen, war um die Ecke in die Sporthalle abgebogen und rannte mit letzter Kraft die Längsseite der Halle entlang, spürte das Gefühl der Erleichterung in ihm emporsteigen und warme Wellen über seinen Rücken jagen. Er hatte es geschafft und er fühlte sich großartig. Und noch besser fühlte er sich bei dem Wissen, dass er vom Gang her Stimmen gehört hatte, als er in die Sporthalle abgebogen war. Zwar konnte er in der Eile nicht alle eindeutig zuordnen, war sich aber sicher, den Hausmeister Mr.Devill und Michael erkannt zu haben, dessen Stimme tränenerstickt war.
Ja, heul doch du Baby, zeig Francis deine dicken großen Babytränen, dachte Max und das Gefühl der Euphorie in ihm stieg weiter an und als er den Seitenausgang der Turnhalle erreicht hatte und in die späte Nachmittagssonne hinauslief, schrie er mit ganzer Kraft: »Ja, du Baby, zeig ihm deine dicken fetten Babytränen!«
Die schwachen Sonnenstrahlen legten sich schützend über seinen nassen Körper, sein zerrissenes Hemd, die zerrissene Hose und schienen die Kratzer und Schürfwunden auf seiner Haut weniger schlimm erscheinen zu lassen. Er setzte sich auf einen der großen Steine, die den Weg bis zur Straße eingrenzten, schloss die Augen und ließ das Sonnenlicht darüber streichen, ließ es einwirken und er fragte sich, wann sich jemals ein Tag so wunderschön, so unfassbar gut angefühlt hatte. Er wusste nicht, wie lange er dort gesessen hatte, als Mr. Devill aus der Sporthalle nach draußen trat und einen Arm um seine Schulter legte. Aber Max wusste, dass er nicht mehr weinen würde. Zumindest nicht heute. Das beschwingliche Gefühl, die ganze Welt umarmen zu können, stieg in ihm empor, brach hervor wie Lava aus einem Vulkan, und er spürte, dass die Welt seinen Griff erwiderte und ihm leise zuflüsterte: Gut gemacht.