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Im Reich der Ratten
Tipelditap-tipelditap-tipelditap-tipelditap. Erschrocken starrte Elias in die Dunkelheit. Die heruntergelassenen Jalousien sperrten das Mondlicht aus. Gelblich trüb drang schwaches Restlicht durch die Spalten. Sein selbstgebasteltes Modelflugzeug hing an der Decke. Täuschte er sich, oder hatte es sich bewegt? Tatsächlich, der F16A Fighting Falcon schwang an dem dünnen Bindfaden hin und her. Hatte er nur geträumt, oder huschte etwas durch den Raum? Er lauschte angestrengt, doch nur das Schnarchen seines Vaters drang aus dem Schlafzimmer seiner Eltern. Er fröstelte. Ein Windstoß drang durch das geöffnete Fenster und die alten schweren Holzjalousien klatschten gegen die frisch gestrichene Wand. Die kühle Herbstluft fegte weiter und erreichte den Fighting Falcon. Der Faden konnte das Gewicht des schwingenden Flugzeuges nicht mehr halten. Krachend zerschellte es auf dem neuen Korkboden. Hastig tastete Elias nach der Nachttischlampe. Der grelle Schein vertrieb die Schatten in die hintersten Winkel. Sofort ärgerte er sich über seine Ängstlichkeit. Zögernd blickte er in die Ecke, in der seine Spielzeugkiste stand. Vorsichtig tastete sich Elias mit den Zehenspitzen voran aus dem Bett. Etwas raschelte. Sofort zog er die Füße unter die Decke. Das Tischtuch, mit dem die alte Truhe abgedeckt war, wölbte sich aus. Die entstandene Beule huschte unter dem Tuch hin und her. Als die Beule den Rand erreichte, blieb sie abrupt stehen. Behutsam schnüffelte sich eine spitze Schnauze hervor. Ein Zischen erklang, dass sich wie ,,Chchchalllo” anhörte. Elias Hände verkrampften sich im Bettlacken. Als zwei Augen bösartig glitzernd unter dem Tuch erschienen und ein fetter schwarzer Leib sich hervor schob, schrie er los. Sofort verschwand die Nasenspitze wieder, das Schnarchen im Nebenzimmer hörte auf. Keine zehn Sekunden später rannte sein Vater durch die Tür und schlug auf den Lichtschalter. Noch halb verschlafen rammte er die kleine Kommode, die neben der Eingangstür stand.
,,Aah, verdammt. ...Aua, aua. Was ist los? Warum schreist du so? Auoh.” Mit schmerzverzerrtem Gesicht rieb er sich das aufgeschrammte Knie. Die Brille war auf der Nase verrutscht, die langen, mittlerweile angegrauten Haare waren wild verstrubbelt. Laut stöhnte er auf.
Elias presste seine Knie an den Körper und deutete mit dem Zeigefinger in die Ecke.
,,Ratte!” stieß er hervor.
,,Mistviecher, jetzt reicht es”, keuchte sein Vater und humpelte zu einem kaputten Tennisschläger, der am antiken Kleiderschrank lehnte. Elias hasste das protzige alte Erbstück von seiner Urgroßmutter. Langsam tastete sich sein Vater vor, doch bevor er den Tennisschläger erreichte, wieselte die Ratte zwischen seinen Füßen hindurch. Er hechtete herum, rutschte auf einigen Star Wars-Action-Figuren aus und landete auf dem Hosenboden. Die Ratte sprintete zur Tür. Dort bremste sie ab, verharrte einen kurzen Moment und sah sich um. Verwundert blickte Elias in die kleinen, intelligenten Knopfaugen. Die Ratte schien seinen Vater auszulachen, dann flüchtete sie in den Flur.
Die Stimmung am Frühstückstisch war getrübt. Martin, Elias Vater beklagte sich über Knieschmerzen. Maria, Elias Mutter schimpfte über Martin.
,,Kümmere dich endlich um diese Plage, anstatt zu jammern”, zischte Maria. ,,Das ist ja ekelhaft. Mauer den alten Gang in der Kanalisation zu. Die Waschmaschine steht zwar auf der Klappe, aber Ratten kommen ja bekanntlich durch jeden Spalt.”
Kleinlaut versuchte Martin abzulenken:,, Wusstest du eigentlich, dass hier im Ort Rattengift hergestellt wird? Es gibt ein kleines Unternehmen, das in einem eigenen Labor Tiergifte und Unkrautvernichtungsmittel herstellt. Wobei Ratten leider so schlau sind, dass sie vergiftetes Futter nicht mehr anrühren, falls eine von ihnen daran verendet ist. Ratten teilen diese Gefahr sogar ihren Artgenossen mit. Niemand weiß, wie die das machen.”
Maria schnaubte: ,,Ja, natürlich kenne ich diese Firma. Broschkes Ungeziefervernichtung. Die haben anscheinend sogar ein Tierversuchslabor in ihrem Gebäude.” Wütend klatschte sie ihren Teller auf den Tisch. ,,Tierversuchslabor ...”
,,Schatz ...”,versuchte Martin es nochmals. ,,Schatz, würde es solche Laboratorien nicht geben, hätten wir auch kein wirksames Rattengift.”
,,Papperlapapp, du sollst die Viecher nicht töten, sondern aus der Wohnung fern halten. Diese Gifte an Versuchstieren in einem Labor auszuprobieren ist ...ist ...ja genau - ist Mord. Heutzutage muss es andere Möglichkeiten geben. Fertig!” Elias liebte seine Eltern über alles, doch dem allmonatlichen Streit entging er lieber.
,,Mam, ich geh in die Waschküche und überleg mir, wie wir das Loch dicht bekommen. Vielleicht brauchen wir gar kein Gift.” Elias sprang auf und verschwand aus der Küche. Entkommen, dachte er und eilte die steile Treppe in den Keller hinunter. Auf der rechten Seite des Flurs lagen die Vorrats- und Abstellkammern, auf der linken Seite die Waschküche. Elias hielt sich ungern in diesem Raum auf. Es roch muffig und war selbst im Hochsommer frostig. Der ganze Raum war in schmutzigem Weiß gefliest, die gewaltige Waschmaschine stand im hintersten Winkel. Mit weit von sich gestreckten Armen kämpfte er sich durch die zum trocknen aufgehängte Wäsche. T-Shirts, Pullover und Putzlumpen klatschten ihm ins Gesicht. Dann erreichte er das Monstrum, stemmte sich mit seinem gesamten, für seine zwölf Jahre beachtlichen Körpergewicht gegen die Seitenwand, versuchte die Maschine zu verrutschen und tatsächlich - es gelang. Der Wasserzulaufschlauch spannte sich und ein Spalt entstand. Auf dem Boden befand sich eine verrostete Klappe. In der Klappe war ein Loch, durch das der Abwasserschlauch in die Tiefe fiel. Aha, hier kommt ihr also rein, überlegte Elias. Angeekelt zog er an der Klappe und ruckartig schnappte sie zurück. Wow, die Treppe zur Kanalisation. Trau ich mich da runter?”,grübelte er. Die Abenteuerlust war geweckt, eine Taschenlampe schnell gefunden und aus Elias wurde Elias, der Entdecker.
Schwerfällig tappte er die schmale, glitschige Eisentreppe hinunter. Doch die Wandlung zu Elias, dem Entdecker war wohl noch nicht ganz vollzogen. Elias, der Schussel, rutschte aus und segelte die letzten Stufen hinunter. Schwer angeschlagen blieb er im auf kaltem Steinboden liegen, atmete tief durch und hoffte das er sich nichts gebrochen hatte.
,,Rrhrr, willkommen im Reich der Ratten, zischelte es aus der Dunkelheit neben seinem Ohr.
Sein Herz pochte heftig und angestrengt versuchte er etwas zu erkennen. Panisch tastete er nach seiner Taschenlampe.
,,Bitte, bitte, funktioniere”, flüsterte er. Endlich ertastete er die Lampe und schob den Lichtschalter nach vorne, während er sich hastig aufrichtete. ,,Scheiße, scheiße”,schrie er aus Leibeskräften. Hunderte Ratten wuselten um seine Füße. Und schon erreichten sie ihn. Schlugen ihre Krallen in seinen schlabbrigen Joggingsanzug. Krabbelten an ihm hoch. Die Taschenlampe glitt ihm erneut aus den Händen. Durch die Finsternis drang das Getrappel tausender Füße.
Dann ertönte wieder die unheimliche Stimme, kälter als Eis:,,Schnappt ihn.” Die Ratten erreichten Mund und Nase, die scharfen Krallen zerkratzen sein Gesicht. Gierig schnappte er nach Luft, doch als er nasses Fell auf der Zunge spürte, presste er schleunigst die Lippen zusammen. Dann kippte er um.
Hunderte Nagezähne ritzten durch seine Kleidung die Haut. Die Ratten schleiften ihn durch die Kanalisation. Es stank nach Urin, Fäulnis und Verwesung. Sie werden mich töten, dachte er. Panik stieg in ihm auf. Diese wurde durch das Fiepen und Zähneknirschen der Ratten, das von den Wänden höhnisch widerhallte, noch verstärkt. Er versuchte zu strampeln, doch sie hatten ihn fest im Griff. Plötzlich ließen sie von ihm ab. Stille kehrte ein. Er kroch rückwärts und stieß mit dem Rücken gegen eine Wand. Ein aggressives Zischen ließ ihn zusammenfahren.
,,Da haben wir ja ein wunderbares Versuchsobjekt gefangen..” Unheimliches Getöse wallte auf. Die Ratten schienen Beifall zu kreischen. ,,Warte hier. Du findest mit deinen erbärmlichen Sinnen sowieso nie einen Ausweg aus der Kanalisation.” Die Ratten stoben auseinander. Elias war allein.
Auf allen vieren kroch Elias durch die Dunkelheit.
,,Stopp”, fiepte es vor ihm. Geschockt schlug Elias um sich.
,,Lass dass, ich will dir helfen,”stoppte ihn eine leise Stimme.
,,Wer bist du, wa ...was willst du von mir?”,wisperte Elias.
,,Ich heiße Friiidolin. Bisher bist du nur auf Wanderratten getroffen. Das sind keine besonderen Menschenfreunde, wie du bereits gemerkt hast. Leider sind sie überlebensfähiger als wir, dafür aber auch bedeutend hässlicher, mit ihren kleinen Ohren, dem kurzen Schwanz und dem widerlichen grau-braunen Fell. Unser edles schwarzes Fell hingegen wirkt ...”
,,Ich versteh überhaupt nichts mehr. Träum ich, oder was passiert mit mir?”, unterbrach Elias ,,Wer bist ...ach was, ...was bist du?”
,,Ich bin doch schon am erklären, beruhig dich. Wir beiden zusammen werden diese Wanderbrut mächtig verhauen.”
Elias keuchte:,,Was soll das? Wanderratten? Du bist doch auch eine ...” Ungläubig stockte Elias. ,,Eine sprechende Ratte.”
,,Halt jetzt mal die Klappe, ich bin dran”, fiepte Fridolin. ,,Ich erklär dir doch schon alles. Kennst du das Tierversuchslabor?”
,,Ja”,stotterte Elias. ,,Meine Eltern haben darüber gestritten.”
Fridolin zischte ungeduldig und Elias verstummte. ,,Dort werden Rattengifte an lebenden Tieren getestet. Ein Versuchsprojekt der Wissenschaftler diente zur Intelligenzüberprüfung von verschiedenen Rattengattungen. Wir wurden mit allen möglichen Chemikalien voll gepumpt und endlosen Tests unterzogen. Doch diese Idioten bemerkten nicht, was mit uns geschah. Wir wurden immer intelligenter und mussten zusehen, wie Ratten anderer Versuchsreihen quallvoll getötet wurden. Irgendwann konnten wir aus dem Horrorhaus entkommen, allerdings war ich die einzige Hausratte die fliehen konnte, die anderen sind ...alle ...tot.” Ein leises unterdrücktes Schluchzen drang aus der Hausratte. ,,Die Geflohenen entwickelten sich weiter, lernten die Menschensprache und träumten von Rache.” Sprachlos hörte Elias zu.
,,Die Wanderratten haben Rattengift aus dem Labor gestohlen und wollen es in das Frischwassersystem der Menschen einspeisen. Vorab wollen sie es allerdings noch an dir testen.” Verständnislos schüttelte Elias den Kopf.
,,Ich kann das nicht glauben. Sprechende Ratten. Rachepläne. Gift. Das gibt es nicht. Hör auf! Ich will das nicht mehr hören”, schluchzte Elias.
,,Oh doch, glaub es. Ich bin deine einzige Chance”, spottete Fridolin.
Elias heulte auf. ,,Warum sollte ich dir glauben und warum willst du mir überhaupt helfen?”
,,Hähä”, lachte Fridolin fröhlich. ,,Ich wähle das geringere Übel. Die Menschheit wird uns niemals ausrotten, tötet ihr zehn von uns, werden irgendwo anders bereits hundert Jungratten geboren. Die Wanderratten hingegen verdrängen uns aus unserem Lebensraum. Sie können meiner Gattung wirklich gefährlich werden. Sie sind pfiffig und böse. Dazu kommt die vom Menschen geschaffene Intelligenz. Ich allerdings, ...ich bin alleine.” Fridolin war immer leiser geworden. Irgendetwas sagte Elias, das er Fridolin vertrauen konnte. Vorsichtig streckte er seine Hand aus und berührte die Hausratte. Weiches, kaum verschmutztes Fell glitt durch seine Finger. Samtweich fühlte es sich an.
,,Ich hab wohl keine andere Wahl, als dir zu vertrauen. Ich komme alleine hier nie wieder raus. Was hast du vor?”
Fridolin piepste übermütig:,,Schlau wie ich nun mal bin, hab ich den perfekten Plan. Nimm mich auf die Hand und lauf los.”
Elias und Fridolin stolperten durch den endlos wirkenden, stockdusteren Kanal. Einige Male rutschte Elias in das grauenhaft stinkende Abwasser, doch Fridolin brachte ihn mit seinen Rattensinnen immer wieder auf den richtigen Weg. Nach einer Ewigkeit erreichten sie ihr Ziel. Fridolin stupste Elias mit der Nase in die Hand.
,,Hier führt eine Leiter direkt in den Keller des Labors. Hoch mit dir.” Das ungleiche Paar erreichte durch eine Klappe den Lagerraum von Broschkes Ungeziefervernichtung. Durch Fensterschächte fiel etwas Tageslicht in die kleine Kammer. Nach Stunden in der Dunkelheit reichte Elias dieses spärliche Licht, um tausende Pappkartons in Regalen aufgestapelt zu erkennen. Fridolin sprang aus Elias Hand und tippelte zu einem gewaltigen Stapel Kartons, auf der mit schwarzem Stift ,,Versuchsreihe 2B-1113- Ratten (Intelligenztest)” geschrieben stand.
,,Elias, komm her. Hierfür brauch ich dich,”meinte Fridolin. ,,Das eigentliche Ziel dieser Intelligenzversuche war eigentlich nicht uns intelligenter zu machen, sondern das Gegenteil.”
Elias horchte auf. ,,Mein Vater hat so etwas erwähnt. Ihr warnt eure Artgenossen vor vergiftetem Futter. Keiner weiß, wie ihr das macht. Die Wissenschaftler wollten eure Intelligenz ausschalten, damit ihr eure Artgenossen nicht mehr vor Giften warnen könnt.
,,Genau!”,meinte Fridolin. ,,Dieses sogenannte Zwei-Komponenten-Gift wurde hier entwickelt. Die erste Futterstufe sollte unsere zugegebenerweise ehemals erbärmliche Intelligenz komplett ausschalten. Die zweite Futterstufe war dann das tödliche Gift. Ohne unser Warnsystem werden wir alle drauf gehen.”
Elias nickte verstehend. ,,Aber was machen wir jetzt hier?”
Fridolin blickte traurig zu Elias auf. ,,Die Wissenschaftler haben tatsächlich ein Verdummungsserum entwickelt. In diesen Kisten ist es. Üblerweise wurde es an uns Hausratten ausprobiert und hat funktioniert. Ich war die einzige Hausratte, die das intelligenzfördernde Mittel erhalten hat.” Fridolin senkte betrübt den Kopf. Elias kniete nieder und strich Fridolin tröstend über das schwarze Fell. Fridolin entspannte sich und kicherte:,,Aber jetzt werden wir den Wanderratten ein Schnippchen schlagen. Das Verdummungsserum nehmen wir mit und schütten es in die Trinkstellen der Wanderratten. Somit verdummen sie wieder und werden für euch Menschen ungefährlich. Allerdings bleibt ihre Fähigkeit die Artgenossen zu warnen erhalten. Somit werden die Wanderratten nicht ausgerottet, aber sie nehmen auch nicht überhand.” Verwundert schüttelte Elias den Kopf:,, Aber was ist mit den ganzen Ratten die nicht künstlich intelligenter gemacht wurden? Wenn die dieses Zwei-Komponenten-Gift fressen, sind sie tot.” ,
,,Genau dafür brauche ich dich. Wir werden das Verdummungsserum und das Intelligenzserum mischen. Somit ist die Wirkung aufgehoben und die Wissenschaftler werden ihr Projekt aufgeben.”
Wenige Tage später lag Elias zufrieden in seinem Bett. Ihr Plan hatte funktioniert. Alle Trinkstellen der intelligenten Wanderratten waren mit dem Serum behandelt worden. Er war heil heim gekommen und seine Eltern hatten nicht einmal bemerkt, dass er so lange weg gewesen war. Seine Schrammen und Kratzer hatte er mit einem Sturz in der Waschküche erklärt. Plötzlich huschte ein Schatten durch den Raum. Kurz zuckte Elias zusammen, doch dann erkannte er die funkelnden Knopfaugen von Fridolin.
,,Warst du eigentlich in der Nacht vor unserem Abenteuer in meinem Zimmer?”
Fridolin kicherte:,,Ja, ich war schließlich auf der Suche nach einem Helfer.”
Elias grinste:,,Aber mein Vater hat dir einen Strich durch die Rechnung gemacht. Pass auf, dass er dich nicht doch noch erwischt, wenn du mich nachts besuchst.”
Fridolin richtete sich zu seiner ganzen prachtvollen Größe auf und meinte:
,, Dafür bin ich doch viel zu schlau, bevor der mich erwischt, sitzt er wieder auf dem Hosenboden.” Beide kringelten sich vor Lachen.