Mitglied
- Beitritt
- 01.09.2003
- Beiträge
- 14
Im Reich der Löwen
Im Reich der Löwen
Der Tag neigte sich dem Ende und die letzten Sonnenstrahlen des warmen nachmittags durchfluteten den Park. Hannes genoss die abendliche Stimmung, als er zum Häuschen der Wärter lief. Seit ein paar Wochen jobbte er neben seinem Studium als Nachtwärter im Zoo. Das brachte ihm etwas Geld und neben seinen nächtlichen Rundgängen konnte er bequem und ungestört lernen. Er interessierte sich weniger für Parties, viel mehr erfreute er sich an der Ruhe und Besonnenheit des Zoos. Hannes streichelte jeden Abend erfreut die Pferde oder beobachtete die Affen, die am Abend beienander saßen, miteinander kuschelten und leise Laute austauschten.
Schon als Kind war er so oft und gern hier gewesen. Damals wie heute hatten es ihm die Löwen am meisten angetan. Diese jedoch ignorierten ihn völlig. Er konnte keine Verbindung aufbauen, schaute sie nur immer wieder bewundernd an.
Roi war nicht nur der größte unter den Löwen, sondern auch der schönste und anmutigste. Sein Fell glänzte heller als das seiner Artgenossen, seine Bewegungen waren geschmeidiger und sein Brüllen furchterregender. Er war unumstritten der König im Käfig. Meist jedoch lag Roi abseits von den anderen und schien nachzusinnen, ließ niemanden an sich heran. Nur Lea durfte manchmal neben ihm Platz nehmen; dann vergrub Roi seine Schnauze im Fell ihres Nackens, gerade so, als ob sie einander trösteten.
Karl, der Wärter, kam gerade von seiner letzten Runde und schlurfte lustlos auf Hannes zu.
"Hallo", begrüßten sich beide und nach einer kurzen Übergabe verließ Karl schnell seinen Arbeitsplatz. Er arbeitete schon so viele Jahre im Zoo, jedoch zweifelte Hannes an dessen Hingabe und Liebe zum Beruf. Gerade im Umgang mit den Tieren war es doch wichtig, seine Aufgaben gewissenhaft und gern zu erledigen?
Nachdem Hannes eine halbe Stunde über seinen Büchern gesessen hatte, zog es ihn nach draußen. Es war noch immer etwas hell und er spürte die Wärme des vorangegangenen Tages sanft auf seiner Haut. Er lief eine kleine Runde durch den Park, überzeugte sich, dass alles in Ordnung war und landete schließlich vor dem Käfih der Löwen. Die Tiere erschienen ihm heute unruhig und auch Roi, der sonst weitestgehend unbeteiligt schien, lief zwischen ihnen hin und her. Dann legte er sich doch auf seinen Platz, ließ aber nicht einmal Lea an sich heran.
Hannes beobachtete ihn eine ganze Weile. Vielleicht hoffte er auf ein Zeichen des Löwen, aber als nichts passierte, wollte er sich zurück auf den Weg zum Wärterhäuschen machen.
"Willst du uns helfen?", hörte Hannes auf einmal eine sanfte, tiefe Stimme. Er schaute sich um, sah aber niemanden.
"Willst du und helfen?", war die Stimme wieder zu hören. Hannes traute seinem Gefühl nicht, das ihm sagte, dass die Stimme aus dem Löwenkäfig kam.
Sein Blick fiel auf Roi, der ihn nun direkt ansah. Er erhob sich und lief auf Hannes zu, dessen Blick festhaltend.
"Ich bin Roi, der König der Löwen und ich bitte dich, uns zu helfen. Wir müssen nach Hause, mein Volk ist in großer Gefahr. Bitte öffne das Gitter und lass uns fliehen."
Hannes stand starr und traute seinen Ohren nicht. Er konnte nichts sagen, stand bewegungslos vor Erstaunen kaum zwei Meter vor dem mächtigen Löwen, der wohl gerade zu ihm gesprochen hatte.
"Bitte, Hannes, öffne das Gitter und hilf uns, zu meinem Volk zu gelangen. Es braucht unsere Hilfe." Eindringlich drang die Stimme endlich zu Hannes vor. Ohne zu überlegen, ohne zu denken öffnete er das Gitter. Andächtig und lautlos verließen die Löwen den Käfig, Roi allen voran.
"Folge mir, Hannes!"
Hannes und die Löwen verließen den Zoo, liefen zum anderen Ende der Stadt und weiter nach Westen.
"Was passiert denn hier?", Hannes hatte seine Stimme wieder gefunden und sprach Roi neben sich an.
"Ursprünglich lebten wir im Einklang mit der Natur. Wir nahmen, was wir brauchten und stimmten unseren Ablauf den der Jahreszeiten an. Die Löwen gingen auf die Jagd, die Löwinnen bekamen unsere Kinder. Der Stärkste unter uns war der Anführer, aber diese Ordnung wurde gestört.
Die Löwen zogen Häuser unseren Höhlen vor, alles wurde technisiert und viele taten nur noch das, wozu sie sich berufen fühlten. Es gab von allem im Überfluss, aber das, was nicht benötigt wurde, landete auf Müllbergen hinter der Stadt. Das Wetter veränderte sich, eine Katastrophe jagte die nächste. Die jungen Löwen wurden sehr oft krank und auch die seelischen Beschwerden unserer Artgenossen vergrößerten sich. Der Druck der entstandenen Gesellschaft ist für viele zu groß, der Profit und die künstliche Erhalten unserer Art zerstören das natürliche Überleben.
Auch bekämpfen sich die Löwen in Kriegen jetzt gegenseitig, aber es geht nicht mehr um das Recht des Stärkeren, sondern um das schönste Haus, das größte Bankkonto und Besitzansprüche der maßlosen Firmen.
Wir gehören einer kleinen Gruppe an, die sich dem widersetzten, aber wir wurden vertrieben, von den Menschen gefangengenommen und lebten schließlich im Zoo, eingesperrt und abgeschieden von unserer Welt.
Die alten Überlieferungen unseres Volkes sagen den baldigen Untergang voraus. Nur ein Mensch kann uns helfen, die Katastrophe zu verhindern. Die Zeit drängt, Hannes, wir müssen nach Hause und unsere alte Ordnung wieder herstellen."
Hannes hatte dem Löwen gebannt zugehört, aber noch immer erschien ihm das alles ziemlich phantastisch und irreal. Er war ein Mensch, ganz klar, sollte etwa er....
Bevor er seinen Gedanken zu Ende denken konnte, stoppten die Löwen. Es war inzwischen dunkel geworden, dennoch erkannte Hannes einen Hügel, vor dem sie nun standen.
Roi gab Lea ein Zeichen und sie verschwand im Gebüsch. Die anderen folgten ihr.
"Komm mit uns, Hannes, und hilf uns, die alte Ordnung wieder herzustellen", bat Roi ihn nochmals.
"Gut, ich weiß zwar nicht, ob ich derjenige sein soll, der euch helfen wird, aber ich werde mein Bestes geben."
Hannes folgte Roi auf allen vieren durch das Gebüsch und lief mit ihm den Weg in die Löwenwelt hinab.
Um sie herum wurde es immer heller. Zunächst dachte Hannes, die Sonne würde aufgehen, bis er bemerkte, dass alles um ihn herum brannte. Überall war das Feuer, die Erde schien lichterloh zu brennen. Der Anblick war furchterregend. Aus den Häusern flohen Löwen und liefen wild durcheinander.
"Wir müssen zum Kern der Stadt, dort lebt Khan, der sich selbst zum Oberhaupt ernannt hat. Wenn wir ihn besiegt haben, gibt es Hoffnung auf Rettung unseres Volkes", reif Roi Hannes zu.
Die Häuser der Stadt wurden dichter. Überall liefen die Löwen wild kreischend durcheinander. Große Werbeplakate brannten, die hohen Müllberge über der Stadt drohten einzubrechen. Eine Gruppe von Tieren in Anzügen und Aktentaschen auf dem Rücken überrannte mehrere andere Löwen, die in langen Kleidern mit Kerzen zu irgendjemandem zu beten schienen. Aus einem buntbemalten Haus folgten viele kleine Tiere einer Löein.
Roi stoppte. Die beiden befanden sich nun vor einem riesigen Gebäude, dessen Dach eine ebenso große Kuppel aus Glas zierte. Die Lichter, die noch brannten durchfluteten vereinzelt das Gebäude.
"Wir sind da", sprach Roi zu Hannes. "Hier lebt Khan, lass uns ihn suchen."
Hannes folgte dem Löwen ins Gebäude. Er bemerkte, dass sich dessen Nackenhaare aufstellten und er wütend die Zähne fletschte. Zum ersten Mal spürte auch Hannes den Anflug seiner Gefühle. Doch im Gegensatz zu Rois Wut spürte er Angst. Seine Kehle war trocken, sein Magen krampfte sich zusammen.
Sie liefen eine lange Treppe nach oben und befanden sich in einem übergroßen Raum wieder. An den Wänden hingen Bilder, die einen Löwen in verschiedenen Situationen zeigten. Einmal im Kreis vieler Löwinnen, dann ganz in weiß mit einem Tennisschläger oder mit einem Pokal in den Pfoten auf dem Siegerpodest.
Am anderen Ende des Raumes stand ein großer Tisch. Im Stuhl saß ein Löwe, der durch die Schaeiben des Fensters auf die brennende Stadt blickte. Langsam drehte er sich zu Roi und Hannes.
Die beiden Löwen glichen sich aufs Haar, doch Khans Blick war böse. Abfällig sah er die beiden an.
"Da bist du ja, ich hatte dich erwartet", sprach er Roi in abschätzigem Tonfall an. "Hast du diesen Quatsch noch immer nicht vergessen? Willst du noch immer die Welt retten, indem du den Fortschritt aufhälst? Sogar das Menschlein hast du mitgebracht."
"Sieh doch, was du angerichtet hast", rief Roi zurück. "Wo hast du die Löwen nur hingeführt? Ich werde die alte Ordnung wieder herstellen, damit unser Volk überleben kann."
"Die Löwen haben sich damals gegen dich entschieden und sie werden es wieder tun, Bruder." Khan stand nun vor Roi und die beiden blickten sich feindselig in die Augen.
Plötzlich griff Khan Roi mit lautem Brüllen an, fletschte die Zähne und vergrub sie im Hals des Bruders.
Panik ergriff Hannes. Er wußte nicht, was er tun könnte. Er beobachtete die beiden kämpfenden Löwen und bemerkte, wie das Feuer auf Khans Palast übergegriffen hatte. Roi und Khan rollten sich zum Fenster und brachen durch die Scheibe. Verbissen kämpften sie weiter, bis Hannes ein Stück brennendes Holz zu fassen bekam. Er sah, dass Roi verwundet war und seine Kräfte nachließen. Khan stand über ihm, schaute ihm feindselig und spöttisch in die Augen--
dann sackte er bewusstlos zur Seite. Hannes hatte mit all seiner Kraft und seinem Mut zugeschlagen.
Der verletzte Roi wollte aufstehen, was ihm nicht gelang. Mit letzter Kraft schleppte Hannes sich und den Löwen aus dem brennenden Gebäude, durch die nun verlassenen Straßen und vom Feuer zerstörten Häuser zurück zum Ende der Stadt, wo sie von Lea bangend erwartet wurden. Als sich Hannes umdrehte, sah er das letzte Gebäude einstürzen. Die große Kuppel zersprang in tausend Stücke und begrub die Reste der Stadt unter sich.
Bis die Sonne aufgegangen war, hatte Hannes mit Lea gesprochen und die ganze Wahrheit erfahren. Khan und Roi waren Zwillingsbrüder aus dem Geschlecht der Könige. Während Roi auf Tradition bestand und sein Volk im Einklang mit der Natur führen wollte, bestand Khan auf Fortschritt und Technisierung. Roi jedoch sah die großen Gefahren und bedachte auch die Prophezeiung. Der Bruder aber realisierte schließlich seine Vorstellungen gegen Rois Willen und lockte die anderen Löwen mit falschen Versprechen auf seine Seite.
"Irgendwann geriet alles außer Kontrolle und wir mussten fliehen", endete Lea die Geschichte.
Roi war erwacht und erhob sich langsam. Er blickte auf die zerstörte Stadt. Hannes glaubte, ein Lächeln auf seinem Gesicht zu erkennen.
"Es liegt jetzt noch ein langer Weg vor uns, aber wir haben es geschafft. Danke Hannes! Unsere Welt hast du gerettet, jetzt ist deine dran."
Die Worte hallten in Hannes´ Kopf. Er wollte Roi antworten, aber es ging nicht. Sattdessen wurde er unsanft am Arm gerüttelt.
"Wach endlich auf! Hast du etwa die ganze Nacht verschlafen?"
Hannes rieb sich die Augen, wusste für den Moment nicht, wo er sich befand. Langsam realisierte er Karl neben sich, der aufgebracht auf ihn einredete.
Er musste über seinen Büchern aingeschlafen sein. Hannes packte seine Sachen und verließ eine Entschuldigung murmelnd das Wärterhäuschen und den schimpfenden Karl.
Die Morgensonne kitzelte in seiner Nase und die Erinnerungen an die vergangene Nacht kamen ihm blitzartig wieder in den Sinn. Schnell lief er zum Käfig der Löwen. War etwa alles nur ein Traum gewesen?
Schon von weitem sah er das offene Tor und am Käfig angekommen war er sicher, dass die Löwen verschwunden waren.