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Im Regen
Im Regen
Es war später Abend. Regen fiel vom grauschwarzen Himmel herab und durchnässte die Stadt mit Traurigkeit. Windböen trieben den Regen wie einen wehenden Mantel durch die Gassen, Laternen zeichneten verwaschene Gestalten an die matt reflektierenden Häuserwände.
Ich ging langsam durch die Straßen. Der Regen hatte längst schon meine Kleidung durchweicht, der Mantel hing an mir herab wie ein schwarzes Leichentuch. Ich hatte die Haare im Gesicht hängen, bei jedem Schritt hörte ich, wie das Wasser in meinen Schuhen gurgelte und zischte.
Trotz des Regens hatte ich es nicht eilig, da ich kein Ziel hatte, bei diesem Spaziergang. Ich zog mich einfach nur an und ging. Ich lief durch die Straßen, leer von den Menschen, voll von trüben Gedanken und schweren Gemütern. Ich war alleine, nur sehr selten kam ich an verschwommenen Fenstern vorbei, welche hoch oben im feuchten Nachthimmel fahl leuchteten.
Irgendwann kam ich an einem Kino vorbei, welches schon seit Jahren wegen Umbau geschlossen hatte, und blieb stehen. Ich ging an die längst blind gewordenen Scheiben der Vitrine und versuchte zu entziffern, was einst der Kinohit sein sollte und es bis heute nicht ist.
Als ich durch eine graue Wand aus Haaren, Regen, Nebel und Scheibe versuchte, die kleinen vergilbten Buchstaben zu lesen, spürte ich die Nähe eines Menschen. Es drang eine gewisse Wärme zu mir vor, welche man wohl nur in seltenen Augenblicken empfindet, wenn man gerade alleine ist. Ich drehte mich um und sah in zwei große Augen.
Hättest du mal eine Zigarette für mich, fragte eine vor Kälte zitternde Stimme. Ich reichte ihr aus der schon ziemlich mitgenommenen Schachtel die Vorletzte und zündete mir selbst die Letzte an. Sie blieb genau da stehen, wo ich sie zum ersten Mal bemerkt hatte und zog zitternd an ihrer Zigarette.
Hier hast du das Geld dafür, sagte sie plötzlich und riß mich damit aus irgendeinem kalten Gedanken heraus. Sie wollte mir das Geld für die Zigarette geben.
Nachdem ich ein paar mal verneint hatte, gab sie es schließlich auf und setzte sich auf die nassen Stufen vom Kinoeingang. Trotz des starken Regens hatte ich das Gefühl gehabt, sie hätte vor kurzem geweint. Sie blieb sitzen und rauchte meine Zigarette, welche ich ihr vorhin geschenkt hatte.
Nach einer Weile setzte ich mich zu ihr. Sie schwieg, zog nervös an ihrer Zigarette und zitterte am ganzen Körper. Ich schaute sie an. Sie war nicht sehr alt, vielleicht 16, vielleicht noch jünger, wer weiß. Ich fand sie nicht hübsch, aber sie hatte trotz des Regens oder gerade deswegen etwas anziehendes.
Was ist, fragte ich sie nach einer Weile. Sie antwortete lange Zeit nicht. Mir geht's nicht so gut, im Moment, sagte sie nachdem ich sie eine Weile angeschaut hatte. Sie starrte immer noch zitternd in den Regen. Dampfschwaden zogen hoch.
Wenn du es mir erzählen willst, dann... Ich schwieg. Eine ganze Weile saßen wir nur da und starrten vor uns hin in den Regen. Sie zitterte immer noch, ab und zu hörte ich ihre Zähne klappern.
Warum bist du hier im Regen, stammelte sie nach einer endlos langen Zeit. Ich weiß es nicht, einfach so, antwortete ich, womit ich die Wahrheit sagte. Es entstand wieder eine Pause. Der Regen trommelte monoton und mit einem unerkennbaren Rhythmus auf die Dächer der Stadt. Mir kam es auf einmal sehr viel kälter und dunkler vor, als vor ein paar Augenblicken. Ich sah sie im matten Lichtschein der Straßenlaterne an. Sie sah für einen Moment lang aus wie eine Leiche. Doch war der Anblick so faszinierend, daß ich sie einfach weiter anschaute, ohne irgendeinen Ausdruck in mein Schauen geben zu können. Da fing sie an zu erzählen, mit leiser Stimme, ruhig und überlegt. Ich war zwei Jahre lang mit meinem Freund zusammen. Wir hatten zusammen eine Wohnung, ich bin damals von meinen Eltern abgehauen. Wir hatten einen großen Hund, einen sehr großen. Und eines Tages ist unser Hund auf die Straße gelaufen und mein Freund wollte ihn holen und beide wurden von einem Wagen überfahren und waren tot.
Ich starrte in den Regen. Eine Windböe trieb eine Regenwand direkt in mein Gesicht.
Und jetzt bin ich seit einem halben Jahr alleine und schlafe bei meiner Freundin. Zu meinen Eltern gehe ich nicht. Ich wollte mich schon ein paar mal umbringen, aber es geht nicht. Ich weiß nicht wo er ist. Er hätte etwas sagen können. Ich wäre mitgegangen.
Ich stand auf und ging weg. An der nächsten Ecke holte ich eine Schachtel Zigaretten und ging zurück. Sie saß immer noch da und starrte geradeaus.
Ich zündete ihr noch eine an und reichte ihr die Schachtel rüber. Sie legte sie sich in den Schoß.
Dann schaute sie mich an. Kannst du mir sagen, wo er hin ist, fragte sie mich. Ich sah in zwei große Augen. Regen fiel mir ins Gesicht.
Du wirst ihn finden, fing ich an, ohne eigentlich genau zu wissen, was ich sage. Ich spürte weder den Regen noch die inzwischen beißende Kälte.
Er weiß, daß du ihn vermißt, deswegen läßt er dich auch nicht alleine. Er wird irgendwann zu dir kommen, einfach so. Und wenn du ihm in die Augen sehen wirst, dann wirst du ihn sehen. Dann weißt du, daß es ihm gut geht und er bei dir ist. Auch wenn du ihn danach nie mehr sehen wirst. Du wirst es wissen. Ich merkte, daß sich meine Lippen wieder schlossen. Dann schaute ich sie an, ohne einen Ausdruck in meinem Sehen zeigen zu können.
Zwei große Augen schauten mich an. Inzwischen waren wir aufgestanden, der Regen lief uns über die Gesichter. Dann sah sie in mich hinein. Sie fand etwas, was ich nicht kannte und nie mehr finden werde, denn es war für sie bestimmt. Ich sah ein Funkeln von tiefer Freude in ihren Augen, der einen Sekundenbruchteil später verschwunden war. Ich schaute wieder in zwei große Augen.
Danke, sagte sie so leise, daß es im Regen nur wie leichter Hauch zu hören war. Ich nahm sie in den Arm und hielt sie fest. Irgendwann später, als wir uns wieder losließen, blickte sie noch einmal kurz hoch.
Danke für die Zigaretten. Ein blasses Lächeln huschte über ihr Gesicht, als sie kurz mit der nassen Schachtel wedelte. Pass auf dich auf, meinte ich, worauf sie mich abermals kurz anlächelte, etwas länger. Ich bemerkte, wie sie wieder anfing zu frieren. Ich wollte noch etwas sagen, vergaß es aber. Wie heißt du eigentlich, fragte ich sie. Sie schaute mich mit ihren großen Augen an. Und wer bist du eigentlich, antwortete sie mir. Ein Lächeln flog mir über das nasse Gesicht und streifte ihres ebenfalls. Wortlos drehte sie sich um und verschwand im Regen, so wie sie gekommen war.
Irgendwann ging ich nach Hause.