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Im realistischen Mittelalter
Als Jonathan Voltaire das letzte Mal Kontrolle über seine Extremitäten hatte, war ein großer Sack voller Kleingeld in seinen Besitz übergangen. Sofern er seiner Erinnerung Glauben schenken durfte, was er nicht gern tat, da sie mitunter ganz schön hinterhältige Tendenzen an den Tag legte, war er danach in die Taverne von Raagh gegangen, um zusammen mit seiner Errungenschaft ausgiebig zu feiern. Mittelteil, Mittelteil, Mittelteil, jetzt lag er hier herum. Wo befand sich dieses Hier? Er hatte nicht die geringste Ahnung. Es schien sich um eine alte, völlig heruntergekommene Hütte zu handeln, denn Wind zog durch den Fensterrahmen und Wasser tropfte auf seine Stirn, wobei es sich wohl um die äußeren Einflüsse handelte, die den jungen Mann aus dem Schlaf gerissen hatten. Die Matratze, auf der er lag, müffelte fürchterlich nach Dingen, die sich Jonathan in seinem jetzigen Zustand nicht auszumalen vermochte und irgendwas unter dem Bett roch sogar noch schlimmer. Auf dem Holztisch, der am undichten Fenster stand, befand sich eine Schale, über die er sich im Moment keine Gedanken machen wollte, denn er war sich über eine Kleinigkeit völlig im Klaren: Was auch immer sich darin befand, stank sicherlich ebenfalls zum Himmel. Sein Logikapparat klingelte und dachte das Offensichtliche: Hierbei handelte es sich nicht um die Absteige in Raagh, denn dort stank es auf eine eigene Art und Weise. Der Nachwuchsdieb war an einem anderen Ort gelandet und nur Klögnar wusste wo. Na herrlich.
Jonathan sah davon ab, unüberlegte Bewegungen zu machen, die verraten könnten, dass er aufgewacht war, denn er hatte eine düstere Vorahnung, was diese Hütte betraf: So fingen Abenteuer an! Man wachte irgendwo auf und schon grinste sich ein alter Mann in die eigene Welt, der es kaum erwarten konnte, ausschweifende Geschichten zu erzählen und junge Burschen in die weite, weite Welt hinaus zu schicken, egal was sich für Viecher in den umliegenden Wäldern herumtrieben.
Nein, danke. Das fehlt mir jetzt noch, dachte er und mimte den Bewusstlosen.
In einer dunklen Ecke knarzte ein Stuhl und Jonathan glaubte, das Glimmen einer Zigarette wahrzunehmen.
Ich hab's doch gewusst, dachte er. Nicht mit mir. Mach deinen Scheiß alleine. Solange ich still liegen bleibe, sollte er nicht bemerken, dass ich wach bin. Irgendwann muss der Kerl auch mal raus und dann bin ich weg.
Der Ungesehene erhob sich und trat ans Bett, woraufhin Jonathan die Augen schloss, wodurch er den Fremden nicht sehen konnte. Der Mann brummte tief und Tabakgeruch stieg in die Nase seines unfreiwilligen Gastes. Er rüttelte ein paar Mal an seinem Besucher und dann klang es so, als würde jemand mit der Hand über Stoff fahren. Im Anschluss klimperten einige Münzen.
Die Ratte wollte doch tatsächlich sein Wechselgeld klauen! Bei so etwas wurde der Hund in der Pfanne verrückt! »Nimm die Pfoten von meinem Geld, du Spinner!«, rief Jonathan und setzte sich auf.
Der Mann fuhr zusammen und ließ Jonathans Hose fallen, die über der Bettkante gehangen hatte. Er räusperte sich und baute sich auf, um würdevoll auszusehen.
»Dreck!«, fluchte Jonathan und warf sich wieder aufs Kissen. Die Idee, dass der alte Mann das mit Absicht gemacht hatte, trieb sich ganz in der Nähe des Gedanken herum, der darüber nachdachte, dass der Kerl ständig irgendwelche Leute aufgabelte, um ihnen das Kleingeld aus der Tasche zu klauen.
»Endlich bist du wach!«, sagte der alte Mann und zündete eilig ein paar Kerzen an, da es in dem Raum stockduster war, wenn man von dem Schluck Licht absah, der sich durchs Fenster schummeln konnte. »Ich bin Sir Adelar vom Richtberg, Ritter seiner Majestät im Ruhestand, und ich habe dich im Wald gefunden, als du einige sehr fragwürdige Sachen getan hast!«
»Ritter seiner Majestät? Kumpel, hier hat es seit über 400 Jahren keine Könige mehr gegeben. Wir werden von der Regulation, nun, reguliert.«
»Regulation? Was in aller Welt ist eine Regulation? Sag, Junge, bist du von Sinnen?«
Jonathan starrte ausdruckslos an die Decke. Die Sache lag auf der Hand: Ihm war es im Suff erneut gelungen, eine Zeitmaschine zu bauen, mit der man rückwärts durch die Zeit reisen konnte, aber er hatte wieder keine oder nur unzureichende Pläne gezeichnet und saß jetzt in einer anderen Zeitlinie fest. Er hasste es, wenn das passierte.
»Nicht schon wieder«, murmelte er und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. »Habe ich mich in der Nähe einer seltsamen Apparatur aufgehalten, als du mich gefunden hast?«
»Nun, wie ich bereits sagte, ich habe dich gefunden, als du einige sehr fragwürdige Dinge getan hast, auf die ich nicht näher eingehen möchte, da ich mir danach die Zunge mit Seife waschen müsste.«
»Ach so.« Jonathan schwieg kurz. »Gibt es Leute, bei denen ich mich entschuldigen muss?«
»Oh ja.« Der Ritter nickte fest.
»Verstehe.« Der unfreiwillig Zeitreisende setzte sich auf und fuhr sich durch das durcheinander gewirbelte Haar, das sich wie Stroh anfühlte. Es musste schon eine Weile her sein, dass es mit Wasser in Berührung gekommen war. »Ich habe ein Formblatt in meinem Rucksack, das du mir eben ausfüllen müsstest. Namen der Geschädigten, die Art des Vorfalls, du weißt schon, das Übliche.«
»Formblatt? Rucksack? Junge, du redest wirr. Vielleicht hast du zu lange gelegen.« Sir Adelar patschte Jonathan eine Hand auf die Stirn.
»Nimm deine Hände weg!«, rief Jonathan und schob die Hand des Ritters von sich weg. »Ich habe kein Fieber. Wo sind meine Sachen?«
»Du hattest nur das bei dir, was du am Leibe getragen hast«, antwortete Adelar.
»Oh.« Jonathan ließ die Schultern sinken. »Dann habe ich den Rest wohl verloren.« Kaum hatte er diesen Satz zu Ende gesprochen, bereute er ihn und kniff die Augen zu, als ob ihm gerade ein starker Kopfschmerz hinter den Augen stach. Das war eine Steilvorlage.
»Verloren?«, sagte der Ritter und blickte an einen unbestimmten Ort an der Decke. »Ich habe auch mal etwas verloren. Es war vor dreizehn Jahren, als ich noch im Dienst meines Lehnsherren stand. Einige meiner Männer und ich waren unterwegs, um ...«
Jonathan versuchte, den Redeschwall des Ritters zu ignorieren. Er sammelte seine Sachen auf, zog sich an und brachte halbwegs Ordnung in das stetig wachsende Chaos auf seinem Kopf. Gelegentlich nickte er und sagte »Aha. Aha. Ist ja ein Ding. Mach Sachen. Aha. Aha.«
»Bla bla bla bla, eine tiefe Höhle, bla bla bla, geht da nicht rein, rief ich, bla bla bla, doch es war zu spät.« Der Ritter senkte den Kopf und biss die Zähne zusammen. »Sie wurden alle ge-bla bla bla't.«
»Tragisch und so weiter, aber ich muss jetzt los. Ich will wieder zurück in den Irrsinn meiner Zeit. Da geht es zwar ähnlich zu, aber die Leute sind besser angezogen.«
»Es war die Idee des Barons.« Adelars Hände krampften. »Er wusste, was uns in dieser Höhle erwartet, aber er hat uns ziehen lassen. Ihm gefiel es nicht, dass meine Männer und ich in Opposition zu ihm standen, also hat er uns alle mit einem Schlag ruhig stellen wollen. Allerdings hat er seine Rechnung ohne Adelar vom Richtberg gemacht und jetzt, Junge, schlagen wir zurück. Klögnar hat dich nicht ohne Grund zu mir ... Junge?«
Der Ritter wunderte sich über den frischen Luftzug, der durch seine Hütte zog. Er blickte über seine Schulter und sah, dass die Tür offen stand. Der alte Mann nahm die Beine in die Hand und eilte Jonathan nach.
»Wie ich sehe, bist du ein Mann der Tat. Das gefällt mir«, sagte Adelar, als er zu Jonathan aufschloss. »Ich muss allerdings sagen, dass wir uns nicht auf das Dorf zubewegen, sondern davon entfernen.«
»Gut«, sagte Jonathan. »Wir müssen Distanz zwischen uns und diesen Zirkus bekommen.«
»Die Leute verlassen sich auf dich, Junge! Ich habe ihnen schon gesagt, dass du der Auserwählte bist, der sie aus ihrer misslichen Lage befreien wird.«
»Du hast ihnen WAS gesagt? Weißt du eigentlich, was die jetzt für eine Erwartungshaltung haben?«
»Ach, sie wollen doch nur, dass du einen fiesen Baron stürzt und sie in ein neues, goldenes Zeitalter führst. Ist das denn wirklich zu viel verlangt?«
»Ja.« Jonathan hielt an und sah Adelar direkt in sein gesundes Auge. Hinter der leeren Augenhöhle steckte mit Sicherheit eine sehr interessante Geschichte, aber Jonathan musste weder sein Glück noch seine Nerven überstrapazieren. Er wusste wie diese Dinge abliefen und über kurz oder lang würde sich schon eine geeignete Gelegenheit ergeben, in der der Ritter ihm lang und ausführlich davon erzählen konnte. »Ja, das ist schon ein bisschen viel verlangt.«
»Aber du bist der Auserwählte!«
»Wer hat mich denn ausgewählt? Du?«
»Nein. Die Prophezeiung!«
»Die Prophezeiung. Natürlich.«
»Ja. Die Prophezeiung sagt, dass da drüben einer durch die Baumkronen runterkommt und dann wird alles besser.«
»Das finde ich recht vage«, sagte Jonathan und verscheuchte einen Raben, um dessen Hals ein Zettel hing, bevor Adelar auf das Tier aufmerksam werden konnte. Das Viech hatte sicher nur beunruhigende Neuentwicklungen in Was-auch-immer bei sich und die wollte er so weit wie nur irgendwie möglich von sich fernhalten.
»Nun ja, du bist zwei Kilometer westlich von da drüben aufgetaucht, das ist besser als nichts.«
»Yech«, machte Jonathan und schüttelte mit seinem Kopf. Es half alles nichts: Das Abenteuer hatte wieder mal ohne ihn angefangen, weil Jonathans »Nein! Keinen Bock!«-Ruf im Jubel der anderen Teilnehmer untergegangen war. Selbst wenn er den Ritter irgendwie abhängen könnte, würden sich die Wege im Wald so verformen, dass sie allesamt in das verflixte Dorf führten. Die Zahnräder hatten bereits angefangen zu mahlen und Jonathan konnte nichts weiter tun, als Holzblöcke in die Apparatur zu schieben, um das Unvermeidliche ein wenig hinauszuzögern. Ein Abenteuer glich einer Lawine: Sobald es einmal ins Rollen gekommen war, ließ es sich nicht mehr aufhalten. »Gehen wir eben in dein doofes Dorf ...«
Abenteuer im realistischen Mittelalter waren die von der schlimmsten Sorte: Alles war irgendwie grau, jedem ging es schlecht und es gab nur selten ein einfaches Gut und Böse, denn die Leute fanden so was zu eintönig. Sie zogen es vor, dass jeder eindeutige Bösewicht Gründe haben musste, die sein Verhalten erklärten, denn das war hip! Das war cool!
Auch in dieser Version des realistischen Mittelalters war alles voller Leute, die so hip wie ungewaschen waren und sich den ganzen Tag an Weidenzäunen herumtrieben, um Fremde finster an- oder ihnen hinterherzuschauen und Maiden anzügliche Dinge nachzurufen, weil man ja in einer verruchteren Zeit lebte, was jeder zu wissen schien. Es mag ein unbedeutender Nebenfakt sein, doch durch dieses Verhalten kam es zu massiven Ernteausfällen, da die Leute einfach viel zu leicht abzulenken waren.
»Guten Tag, Bauer!«, sagte Adelar und nickte einem Mann zu, der sich das Gesicht mit Ruß eingeschmiert hatte und ständig die Zähne zeigte, um der Welt zu beweisen, dass vernachlässigte Zahnhygiene einen ganz eigenen Charme haben konnte.
»Bauer«, sagte der Mann verächtlich und spuckte ins Gras. »Ist scheißlange her, dass mich einer so genannt hat. Das letzte Mal hat das ein Typ in Rüstung gesagt, als er mit seinen Mannen auf meinen Hof gekommen ist, um meine Frau zu vergewaltigen und das Vieh zu töten. Dann hat er alles niedergebrannt.«
Jonathan blickte zum grauen, wolkenverhangenen Himmel. Ein Dunst aus Verwesungsgeruch lag in der Luft, was auch sonst, und überall türmten sich Exkremente auf, schließlich bedeutete Realismus Elend, Dreck und sonst nichts.
»Der König hält nicht viel von intakten Bauernhöfen«, sagte Adelar. »Hier ziehen ständig Leute durchs Land, um zu brandschatzen.«
»Aber wozu?!«, fragte Jonathan.
»Irgendwoher müssen die Helden ja kommen, Junge. Dachtest du, dass ein Held ohne Grund loszieht? Nein! Die brauchen ein Trauma! Was traumatisiert mehr als ein niederbrennender Hof? Guten Tag, werte Maid!«
»Maid«, sagte eine Frau verächtlich und spuckte ins Gras. »Ist scheißlange her, dass mich einer so genannt hat. Das letzte Mal hat das ein Typ in Rüstung gesagt, als er mit seinen Mannen auf meinen Hof gekommen ist, um meinen Mann zu vergewaltigen und das Vieh zu töten. Dann hat er alles niedergebrannt.«
»Ich erkenne ein gewisses Muster«, sagte Jonathan.
»Wirklich? Ich höre nur tragische und bedauerliche Hintergrundgeschichten, die mir offenbaren, warum es diesen Leuten so schlecht geht.«
»Ja, meinetwegen, wann sind wir denn endlich in deinem Dorf? Ich habe das Gejammer satt. Ist es hinter dem Bretterhaufen da vorne?«
Adelar räusperte sich.
»Ooooh«, machte Jonathan und kämpfte sich über die matschige Straße. Sie passierten einen Viehhändler, der mit seinem Wagen im Dreck stecken geblieben war.
»Guten Tag, werter Viehhändler«, sagte Adelar. »Was machen die Kühe?«
»Kuh«, sagte eine Kuh verächtlich und spuckte ins Gras.
Gerade als Jonathan davon ausgegangen war, dass es nicht noch ekelhafter werden konnte, tauchten Adelar und er in den Bretterhaufen ein, der sich als »Das Dorf« ausgab und nicht mal den nötigen Anstand besaß, einen Namen zu haben. Die Bürger fanden es unsinnig, etwas zu benennen, das ohnehin ständig niedergebrannt wurde. Überall wurde gehustet, Schweine trieben sich auf der Matschstraße herum und alle trugen Jutesäcke als Kleidung, die über und über mit Dreck beschmiert waren, als ob es notwendig gewesen wäre, noch ärmer auszusehen. In den Gassen lagen Tote herum, irgendwer rief, dass die Götter schon längst den Bus woandershin genommen hatten und natürlich lief eine weinende Frau durch die Gegend, die zwei schreiende Kinder auf den Armen trug.
»Wir sollten uns mit Eintopf stärken, bevor wir uns dem Baron stellen. Möchtest du eine Schale mit Wasser, das in der Nähe einer Karotte warm gemacht wurde?«, fragte Adelar.
Jonathan schüttelte mit dem Kopf und sah sich um. So sah Elend nicht aus. Elend war deutlich subtiler. So sahen nur Leidende aus, die hauptberuflich litten. Das Gejammer und Geschreie war so aufdringlich, dass er es unwirklich wirkte. Niemand konnte am Morgen aufstehen, sich strecken und direkt losbrüllen wie beschissen alles war. Natürlich, es gab hier ein paar Menschen, die durch die Straße liefen, um irgendwie beschäftigt auszusehen, aber plausibel wirkte das nicht. Ganz zu schweigen von der eigentümlichen Form des Handels: Niemand würde sich mit einer toten Ratte auf den Boden setzen und hoffen, dass die jemand kauft. Jonathan war selbst oft genug in dieser Situation gewesen und hatte sich immer dafür entschieden, die Ratte selbst zu essen, da es der Hunger reintrieb. Er fühlte sich, als wäre er auf einer Jahrmarktsveranstaltung, auf der die Leute einander damit übertrumpfen wollten, wer am meisten zu leiden hatte.
»Den Leuten hier ging es mal so viel besser«, sagte Adelar, der sich eine Schale Wasser gekauft hatte, »doch dann begannen die Steuererhöhungen.«
Jonathan legte den Kopf in den Nacken und rollte mit den Augen.
»Dieser Mann da drüben hat einmal eine gute Position als Schreiber gehabt. Diese Frau da ist eine talentierte Weberin! Sie haben eigene Geschäfte gehabt, bis, ach, der Baron aufgetaucht ist und geradezu lächerliche Geldbeträge von ihnen gefordert hat. Sie mussten ihre Läden schließen und sind in den sozialen Brennpunkt geraten!«
»Ist das nicht völlig sinnlos? Der Kerl würde mehr verdienen, wenn er gut laufende Geschäfte besteuert. Jetzt haben die gar nichts mehr und was holt er sich jetzt von ihnen?«
»Jetzt kommt er alle paar Tage vorbei, fragt nach seinem Geld und verkloppt die armen Leute, die ihm nichts geben können. Die Verbrechensrate ist durch die Decke gegangen, da jeder jedem Geld stiehlt!«
Wie aufs Stichwort versuchte ein Mann einer Frau ein kleines Beutelchen vom Gürtel zu schneiden.
»Oh nein! Oh nein! Mein Geld!«, rief sie, woraufhin ein Typ auf einem Pferd wie bestellt aus irgendeiner Ecke gekrochen kam.
»Ich bin der Steuereintreiber. Wo ist das Geld?«
»Ich habs gehabt, aber wurde bestohlen!«
»AUSREDEN!«, rief der Mann. »Männekens! Klatscht die auf!«
Von irgendwoher kamen zwei Herrschaften in auffälligen Rüstungen, die direkt anfingen, wie die Besengten auf die Frau einzuschlagen, während der Mann dem Steuereintreiber das Säckchen gab, das er der Frau entwendet hatte.
»Hier ist sich jeder selbst der Nächste«, sagte Adelar. »Verdammter Baron!«
»Was hast du gerade gesagt?«, rief der Steuereintreiber, der auf der anderen Straßenseite stand und den man bei dem Gebrüll der Leute kaum verstand. »Männekens! Wir haben hier drüben einen Aufständischen!«
Die Gefolgsleute des Steuereintreibers ließen von ihrem Opfer ab und starrten Adelar in Grund und Boden.
»Das ist der Moment, Junge«, sagte Adelar und ballte seine Hände zu Fäusten. »Machen wir diese Mistkerle fertig und setzen ein Zeichen. Wir lassen uns nicht alles gefallen! Du musst sie genau so sehr hassen wie ich.«
»Nein, nicht wirklich. Die machen auch nur ihre Arbeit.«
»So ist es!«, rief der Steuereintreiber. »Als kleiner Junge wollte ich schon immer ein Ritter werden, aber meine Eltern hatten nicht genug Geld, um mir die Ausbildung bei einem Rittervater zu bezahlen, also musste ich zwielichte Wege gehen, um ...«
»Ach du liebes Lieschen«, rief Jonathan und warf den Kopf zurück.
»Bla bla bla und so kam es, dass ich bla bla bla, Ritterschlag durch den Baron bla bla bla und jetzt bin ich sein treuer Untergebener!«
»Und ich erst!«, rief Handlanger #1. »Meine Eltern waren schon immer Diener des Königs, bis zum Tag, als ...«
»Wenn wir schon dabei sind«, mischte sich Handlanger #2 ein, »ich wurde schon früh vor die Wahl gestellt, ob ich ...«
»Das erinnert mich an den Tag, an dem ich mein Auge verloren habe!«, sagte Adelar und plapperte drauf los.
Handlager #1, #2, der Steuereintreiber und Adelar quatschten durcheinander, bis die gesamte Straße nur noch aus umherschwirrenden Hintergrundgeschichten bestand. Sie fächerten mit ihren Fingern in der Luft herum und beachteten die Welt um sich nicht weiter.
Du meine Fresse, dachte Jonathan und sah sich um. Irgendwo muss dieser Baron doch stecken. Ich will hier raus. Das hält ja kein normaler Mensch aus.
»Vorwärts, Junge! In den Kampf!«, rief Adelar, der sich irgendwo hinter ihm aufhielt. Jonathan wusste nicht genau wo, denn er war vorausgegangen, um den Baron zu suchen. Hinter ihm rasselten Schwerter. Männer schrien.
»Wenn mich nicht alles täuscht, finde ich den Baron hier«, sagte Jonathan und sah ein Steinhaus an, das inmitten des Bretterhaufens irgendwie deplatziert wirkte. An der Treppe, die zur Tür hinaufführte, lagen zwei abgetrennte Hände, die stark verwest waren.
»Die linke und die rechte Hand des Barons!«, rief Adelar, der neben Jonathan auftauchte und nach Luft schnappte. Sein Wappenrock war in Blut getränkt. »Vorsicht!«
»... Was?«
»Ähm, der Mann nimmt alles sehr genau«, sagte Adelar. »Du kannst ihn ja selbst nach der Hintergrundgeschichte fragen.«
»Hat da jemand Hintergrundgeschichte gesagt?«, fragte ein Mann im Inneren des Hauses. Die Tür flog auf und ein sehr kleiner Mann trat heraus, der seinen spitzen Oberlippenbart um die Finger einer mechanischen Hand kräuselte. »Ich habe seit Stunden hinter dieser Tür gestanden, weil ich einfach wusste, dass heute jemand vorbeikommt.« Kurzes Schweigen. Der Mann stolzierte die Treppen hinab. »Momentan gibts einfach nicht viel zu tun, wisst ihr?«
»Das ist der Baron?«, fragte Jonathan neutral und zeigte auf den Zwergwüchsigen.
»Ja. Das ist der Baron«, bestätigte Adelar.
Jonathan sah zu Adelar auf und dann zum Baron runter. Er zeigte erst auf den Ritter, dann auf das vermeintliche Oberhaupt, zog die Schultern hoch und breitete die Arme aus.
»Vorsicht, Baron! Diese Männekens verfügen über unheimliche Macht!«, rief der Steuerberater und humpelte herbei. »Besonders dieser Junge! Er hat meine Männekens verprügelt, ohne die Hände gegen sie zu erheben!«
Der Baron zog scharf Luft ein. »Jonathan Voltaire! Endlich begegnen wir uns!«
»Was. Woher kennst du meinen Namen?«
»Die Prophezeiung.«
»Ach, jetzt hört aber auf! Das ist doch bescheuert!«
»Schon als ich noch ein kleiner Junge war, hat mein Vater mich vor der schrecklichen Macht der Voltaires gewarnt«, sagte der Baron und blickte in die Ferne.
»Ist das euer Ernst?«, rief Jonathan, doch alle Anwesenden starrten irgendwohin und erzählten die zweiten Kapitel ihrer Geschichten.
»Eines Tages würde einer hier auftauchen und meine Machtposition gefährden. Dieser Tag ist nun gekommen. So einfach gebe ich mich nicht geschlagen, Jonathan Voltaire! Ich bringe dich um die Ecke, bevor du auf dumme Ideen kommst!«
Mechanische Hände griffen nach dem jungen Mann.
Der Baron und Jonathan kamen um die Ecke des Steinhauses, woraufhin das Oberhaupt den Jungen unsanft nach vorne stieß.
»Du bleibst jetzt hier. Keine Usurpation! Hast du das verstanden?«
Jonathan blickte geradeaus und konnte sich aus der Situation überhaupt keinen Reim machen. »Ja, äh,
meinetwegen. Darf ich gehen?«
»Jederzeit. Nur nicht usurpieren. Okay?«
»Klingt fair.«
Der Baron nickte Jonathan zu. Jonathan nickte zurück. Sie sahen sich noch einen Augenblick an, bevor sich sein, nun, Widersacher im Rückwärtsschritt zurückzog. »Nicht usurpieren«, sagte er leise. »Jetzt nicht usurpieren. Fein da bleiben. Keine Aufstände jetzt. Dann kannst du gehen.«
Jonathan wartete, bis er die Tür zufallen hörte.
»Gehen«, sagte der Junge und hob die Mundwinkel. »Ich kann gehen. Endlich!«
Er wollte den ersten Schritt tun, als sich eine Hand auf seine Schulter legte.
»Junge!«, rief Adelar. »Geht es dir gut? Ich weiß, dass dich diese Niederlage hart getroffen hat, aber du darfst jetzt nicht aufgeben! Nicht nach allem, was wir durchgemacht haben.«
»Eigentlich geht es mir ganz gut.«
»Das ist die richtige Einstellung. Du musst dich nur sammeln. Heute Nacht schlagen wir erneut zu - und dann härter als zuvor. Ich habe mit den Bürgern gesprochen. Sie stehen gesammelt hinter dir!«
»Warte, welche Bürger?«
»Alle! Alle sind inspiriert von deinem Mut und deiner Aufopferung. Sie sind voller Demut, weil du sie kaum kennst und dein Leben für sie riskiert hast!«
»Okay?«
»Ich habe sie alle versammelt. Sie warten auf eine beschwingte Rede ihres Anführers, bevor sie heute Nacht für dich und die Freiheit sterben.«
»Warte, warte, warte, warte, wann hast du das gemacht?«
»Als du dich dem Baron gestellt hast, wann denn sonst?«
Jonathan sah Adelar lange an, während seine Gedanken eine passende Frage zusammenstellten. »Wie lange habe ich mich dem Baron denn gestellt?«
»Diese Details spielen doch überhaupt keine Rolle. Komm, Jonathan. Ins Untergrundversteck!«
»Untergrundversteck?«
»Deine Männer waren fleißig, während du gekämpft hast!«
»Aber ...«
Der Abstieg in das Untergrundversteck war für das eigentliche Geschehen völlig unerheblich und bedeutungslos. Jonathan Voltaire stand auf einem riesigen Podest und sah in tausend hoffnungsvolle Gesichter, die im Schein ihrer Fackeln strahlten.
»Nein«, rief Jonathan Voltaire. »Das machen wir nicht. Ich möchte jetzt wissen, wie ich hier runter gekommen bin und wann ihr das alles gebaut habt. Das könnt ihr doch unmöglich gemacht haben, als ich kurz nicht hingesehen habe!«
»Hurra!«, riefen die Leute und rissen die Arme hoch.
Jonathan blinzelte und bekam für wenige Augenblicke keinen Ton heraus. Dann dämmerte ihn, was vor sich ging. Er neigte sich nach vorne und sagte: »Ich hasse jeden einzelnen von euch für den Dreck, durch den ihr mich zieht.«
Einige Leute brachen in Tränen aus. »So inspirierend!«, sagte ein alter Mann.
»Das ist mein Sohn!«, rief eine Frau und hielt ein Kind hoch. »Wenn wir diesen Abend überstehen, soll er deinen Namen tragen ... Lord Jonathan!«
»Lord Jonathan!«, stimmten andere mit ein.
»Lord Jonathan!«, rief der Steuerberater und hob sein Schwert.
Jonathan hämmerte eine Faust aufs Podest und zeigte auf den Kerl. »Was machst du denn hier?!«
»Ich bin desertiert.«
»Wann?«
»Gerade eben.«
»Uuugh.« Jonathan raufte sich die Haare.
»Als ich gesehen habe, was der Baron wirklich für einer ist, habe ich mich entschlossen ...«
»Nicht schon wieder ...« Der Zeitreisende stützte seinen Kopf auf einer Hand ab und ließ das Unaufhaltsame über sich ergehen.
»Meine Familie und ich haben zu lange geschwiegen ...«
»Wie viele Leute muss ich noch sterben sehen, dachte ich, als ich ...«
»Damit war der Bogen überspannt! Ich nahm mein ...«
Mehr und mehr Stimmen vermischten sich zu einer gewaltigen Expositionswelle, die an der Bühne brandete und Jonathan ins Gesicht schwappte, bis sich der Junge fragte, ob er wirklich eine Rede halten oder einfach nur vorne stehen und schweigen sollte, während ihm alle anderen ihre tragischen Hintergrundgeschichten auftischten. Diese Leute schienen wirklich versessen darauf, irgendjemanden ihr ganzes Leben auf die Nase zu binden.
»Wisst ihr was?«, schrie Jonathan. Er verstand sich selbst kaum, weil alle durcheinander quasselten. »Das ist mir alles zu blöd! Ich mache jetzt los! Macht doch, was ihr wollt!«
»Was hat er gesagt?«, fragte eine besonders aufmerksame Frau.
»Dass es losgeht«, sagte Adelar düster und umklammerte den Griff seines Schwertes.
»Nein. Nichts geht los. Ich suche jetzt meine Zeitmaschine und gehe nach Hause. Seht ihr? Ich lege die Hand auf den Knauf dieser Tür und bin ...«
Jonathan stand an vorderster Front, als seine Armee von Bauern vor dem Haus des Barons Aufstellung bezog.
»... weg.«
»Baron! Jonathan Voltaire ist zurückgekehrt, um dir das Handwerk zu legen!«, rief Adelar und schob Jonathan aus der Formation.
»Jonathan Voltaire!«, rief der Baron aus dem Fenster und fuchtelte mit den Fäusten.
»Hey, hey, hey, ich kann einfach gehen, ja? Macht das unter euch aus. Ich drehe mich weg und gehe da lang!«
»Dein Taktieren wird dir nichts mehr bringen, Jonathan Voltaire! Meinst du, dass nur du Tricks und Kniffe kennst? Während wir hier sprechen, wirst du von einer Armee des Königs umstellt, die zwei Tagesmärsche hinter sich hat, um ...«
»Ist mir egal. Überrennt die ganze Saubande, wenn es sein muss. Das realistische Mittelalter geht mir auf den Sack. Ich gehe meine Zeitmaschine suchen und bin weg hier.«
Gesagt, getan, ein Mann, ein Wort. Jonathan schob sich durch die Menge, um die ganze Nummer hinter sich zu lassen. Als er aus der letzten Reihe brach, blickte er in das grinsende Gesicht des Barons, der hoch auf dem Rücken eines Pferdes saß und ihm ein Schwert vor die Nase hielt. Hinter ihm stand eine Horde Ritter in schweren Rüstungen, die allesamt Federn auf den Helmen und irgendein Wappen auf der Brust hatten.
»Wie hast du das gemacht?«, fragte Jonathan, obwohl er die Antwort bereits kannte.
Der Baron lachte triumphal.
Es gab einfach keine.
Das realistische Mittelalter war eine sehr verwirrende Zeit. Ständig passierten Sachen, wenn man kurz nicht hinsah. Machtverhältnisse verschoben sich, wenn man einmal zu oft blinzelte. Die Leute waren Miesepeter und die Antagonisten immer einen Schritt voraus, bis man am liebsten schreien wollte, weil so vieles keinen Sinn ergab.
»Wir haben deinen Mentor, Jonathan Voltaire!«, rief der Baron und zeigte auf Adelar, der aus unerfindlichen Gründen auf einem portablen Galgen stand.
»Behaltet ihn ruhig. Der klaut den Leuten ständig das Geld!«
»Räche mich, Jonathan Voltaire!«, rief Adelar, bevor der Henker am Hebel zog. Der Ritter sackte durch die Öffnung und wurde unsanft vom Seil gebremst.
»Und da ist er tot! Völlig überraschend! Das zieht dir die Socken aus, nicht wahr?« Der Baron lachte. »Was machst du jetzt, Jona ... wo steckt er denn?«
»Er ist gegangen, als wir seinen Mentor hingerichtet haben, Herr!«, sagte der Henker.
»Lasst ihn ziehen. Er flüchtet vor sich selbst und der Gewissheit, von nun an ohne Meister leben zu müssen. Wir haben eine Schlacht zu schlagen!«
Jonathan hatte nicht die geringste Ahnung, was die Welt gegen ihn hatte. Ständig fand er sich in allerlei absurden Situationen wieder, die sich von selbst regelten und trotzdem darauf beharrten, dass er anwesend war. Der Schlachtenlärm hinter ihm interessierte ihn gar nicht. Das Ergebnis war ihm piepegal. Sollte der Baron doch über diesen Haufen schlechtgelaunter Hornochsen herrschen, das war nicht sein Bier. Bier ... ja, danach stand ihm gerade der Sinn. Vermutlich war ein solches Erlebnis auch der Hauptgrund, warum er sich das letzte Mal um den Verstand gesoffen hatte. Anders konnte man dieses Theater nicht ertragen! Vielleicht lag aber auch genau da das Problem? Wenn er trank, konnte er Unsinn machen und dieser Unsinn führte zu noch größerem Unsinn.
Mir reichts, dachte er. Wenn ich meine Zeitmaschine finde, bin ich hier weg und dann ist Schluss mit der Sauferei. Vielleicht wird es dann besser.
»Die Wyvern!«, schrie irgendwer.
»Fürchtet euch nicht! Euer Rabe hat mich erreicht. Ich bin gekommen, um euch zu befreien!«, rief eine junge Frau, die auf dem Rücken einer riesigen Echse saß.
»Vorsicht! Das Feuer!«
Es gab einen lauten Knall. Die Leute schrien durcheinander und viele wurden von der Wucht einer Explosion durch die Gegend geschleudert.
»Jonathan Voltaire hat die Wyvern zur Verstärkung geholt!«, schrie der Baron, der trotz der Entfernung erstaunlich gut zu verstehen war. »Verflucht sei sein Name!«
»Wir hätten ihn nicht ziehen lassen sollen, Baron!«, rief der Steuereintreiber, der allem Anschein nach erneut die Seiten gewechselt hatte.
»Oh, Jonathan Voltaire!«, rief die Wyvern. »Ich habe ihn zwar nur kurz gesehen, als ich über ihn drüber geflogen bin, aber ich sehne mich nach seiner Nähe, denn schon als kleines Mädchen habe ich immer davon geträumt, einen aufstrebenden Lord an meiner Seite zu haben, der die Sachen sieht wie sie sind! Also zog ich aus, um ...«
Genug war genug. Jonathan hielt sich die Ohren zu und ging im Laufschritt in den Wald, um seine Zeitmaschine zu suchen. Er hatte die Nase voll von spontanen Teleportationen an andere Orte. Er war bedient von den Leuten, die Dinge wussten, die sie gar nicht wissen konnten. Ihm kam das ganze Papperlapapp wie eine riesige und schlecht geschriebene Aufführung vor, die schleunigst fertig werden musste, weil die Darsteller keine Zeit mehr dafür aufbringen konnten. Beinahe so, als hätte man die Handlung in einem Zwischen-Tür-und-Angel-Gespräch ausgemacht und dann das aufgeführt, was halt so hängen geblieben war.
Es war nicht gut! Unterhaltsam, ja, aber nicht gut. Ein liebloses, auf irgendeinen Punkt gebrachtes Durcheinander.
Umso erleichterter war er, als er das Gerät sah, das vermutlich seine Zeitmaschine darstellen sollte, denn Jonathan verwendete dabei immer einen Regenschirm, der sich aufspannte, wenn die Reise losging. Jetzt gab es nur noch ein kleines Problem: Die Maschine konnte rückwärts in die Zeit reisen, aber vorwärts?
»Die Lösung für mein Problem war einfach fantastisch und ich bin froh, dass ich dabei gewesen bin, denn sonst wüsste ich ja nichts davon«, sagte Jonathan und prostete sich selbst mit seinem Saft zu. Alkohol war für die nächste Zeit vom Tisch.