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Im Rauschen des Meeres
ANKUNFT
Zum ersten Mal seit Monaten konnten wir wieder Besucher auf unserem Archipel empfangen. Die Behörden hatten um Mitternacht erklärt, dass keine der Wahrscheinlichkeitswert für einen Sturm wieder bei null lag. Dem Wohltäter sei Dank!
Das erste Schiff mit Diplomaten erreichte den Hafen am Mittag. Männer und Frauen in hell- und dunkelgrauen Anzügen ergossen sich aus dem Inneren des Schiffes und strömten wortlos zur großen Halle. Ich nahm den Sicherheitsdiplomaten 21 planmäßig in Empfang. Seine Tasche war schwerer als beim letzten Besuch. In der ungewohnten Menschendichte der Halle schwitzte ich. Der Weg zum Zimmer des Diplomaten war lang.
„Die Unterbrechungen haben unserer Seite gutgetan“, sagte er, als wir seine Suite betraten. „Ich bin der festen Überzeugung, dass wir schon übermorgen wieder abreisen.“ Ich fragte, wie er sich so sicher sein könne, er antwortete, das dürfe er unter keinen Umständen verraten. Er biss sich auf die Lippe, und ich versicherte ihm, dass ich niemandem davon erzählen würde.
Er bat mich darum, für die Vorbereitungszeit allein gelassen zu werden, eilte mir dann aber im Flur hinterher und holte mich zurück auf sein Zimmer. Er hatte den grauen Anzug ausgezogen, und ich sah die ungebügelten Ärmel seines Hemdes. „Entschuldigung, aber Sie müssen bis zur Eröffnung der Verhandlungen hier bleiben. Ich hätte nichts erzählen dürfen. Ich muss verhindern, dass Sie die Gegenseite warnen. Es wird Ihnen Umstände machen.“ Es machte mir keine. Ich widersprach nur der Form halber. Es war der gleiche Raum wie heute früh. Es gab für mich nichts Neues darin. Das Meer stand immer noch still.
ERÖFFNUNG
Der schrille Lautsprecher riss mich aus einem Tagtraum. Der Diplomat drückte mir einen Stapel mit Notizzetteln in die Hand. „Begleiten Sie mich bitte bis in den Verhandlungssaal“, sagte er, ohne mich anzuschauen. Der Weg war nicht kürzer als sonst. Er kam mir auch nicht länger vor. Nur die Fenster waren geschlossen.
Der Diplomat begrüßte die anderen Sicherheitsdiplomaten, die alle auf der Fensterseite des Raumes saßen. Die Sicherheitsdiplomaten 17 und 18 begrüßten ihn euphorisch. Ich reichte ihm die Notizzettel und wollte den Saal verlassen. „Bleiben Sie“, sagte er. Auf meinen Einwand, dies sei nicht gestattet, reichte er mir eine Erklärung des Verhandlungsführers: „Der Bedienstete 219 hat sich durch hervorragendsten Dienst ausgezeichnet und wird durch die Seite der Sicherheit als maßgebliche Hilfe während der Verhandlungen benötigt. Dies ist nach Paragraph 18 der Verhandlungsordnung den Verhandelnden gestattet.“ Eine Kontrolle des zuständigen Ministeriums vom Vortag war ebenfalls beigelegt.
Meinem erstaunten Blick wich der Diplomat aus. Ich hatte keine Zeit mehr nachzufragen, als im selben Moment die Türen des Saales geschlossen wurden, eine Fanfare ertönte, alle Diplomaten sich erhoben, und der Ratspräsident in einer gläsernen Kapsel von der Decke gelassen wurde. Seine Lippen bewegten sich hinter der Scheibe. Seine Stimme dröhnte durch die Lautsprecher, überschlug sich dadurch mehrmals im Raum und machte es so unmöglich, an etwas anderes zu denken.
VERHANDLUNG
Der Ratspräsident sprach über eine Stunde. Ich hatte die ganze Zeit gestanden, und obwohl ich das gewohnt war, war ich sehr müde. Gegenüber standen die Freiheitsdiplomaten, ruhig und aufrecht in ihren marineblauen und schwarzen Anzügen, mit offenen Gesichtern, jünger, lebendiger. Mehr Frauen, das fiel mir auf.
Mit dem Ende der Rede traten die beiden Verhandlungsführer vor. Eine große Frau im Rentenalter mit aschblonden Haaren, ihr Rücken gerade wie ein Pfeil. Für die Freiheit. Ein rasierter Mann ohne ein einziges Haar auf dem Kopf. Für die Sicherheit. Beide machten auf mich einen ungeheuren Eindruck. Sie riefen der Reihe nach Diplomaten auf. Ich erinnere mich an das Strahlen in ihren Augen. Bei manchen fanatisch unbeugsam, bei anderen demütig bittend. Auch erinnere ich mich an die Art, wie sie sprachen – aber nicht an ihre Worte. Nur an die Bewegungen der Münder, an die Finger, die Richtungen schnitten, an das rhythmische Heben der Hände. Diese Sprache ihrer Bewegungen war eindeutig. Jeder einzelne von ihnen war sehr engagiert.
Ich erinnerte mich an das Zimmer des Diplomaten, an den Anblick des Meeres. Jetzt war es hier im Verhandlungssaal. Wellen aus Augen. Wellen aus Fingern. Wellen aus Münderöffnungen. Eine kollektive Bewegung. Irgendwann wurde mir übel. Ich eilte vor die Tür. Draußen stolperte ich auf dem flachen Appellplatz. Mein Kopf drehte sich, und ich konnte keinen klaren Gedanken fassen, konnte mich an kein Wort aus den Verhandlungen erinnern. Ich war immer noch müde und schloss die Augen.
ABENDESSEN
Ich kam erst wieder zu mir, als mich jemand an der Schulter packte. „Beim Wohltäter, geht es Ihnen gut?“ Der Mann war groß, trug einen hellgrauen Zweireiher, hatte braune, ruhige Augen, in denen nichts eilte. Ich beantwortete die Frage und versicherte, dass alles in Ordnung sei und es mir gut gehe. Ich atmete tief durch, der Diplomat half mir auf. Ich antwortete auf seine Fragen und erklärte ihm, was sich zugetragen hatte. Er nickte häufig, stellte dann weitere Fragen, vermied es aber, über sich oder die Verhandlungen zu sprechen. Ich vermied es daher, ihn danach zu fragen. Dann kam der 21. Diplomat zu uns. Auch er erkundigte sich nach meinem Wohlbefinden, danach lud er mich und den anderen – es war der 29. Diplomat – zum Abendessen ein. Uns begleiteten noch die beiden Diplomaten, die ihn vor der Verhandlung so freundlich begrüßt hatten.
Zuerst sprachen sie auf die gleiche unverständliche Art und Weise miteinander, mit der auch während der Verhandlung gesprochen wurde. Dann sagte Diplomat 17 oder 18: „Wir müssen andere Mittel in Erwägung ziehen, wir haben doch jetzt alle Möglichkeiten...“ und warf einen Blick in meine Richtung. „Wie hat er sich verhalten, 21?“ – „Glauben Sie, ich hätte ihn tatsächlich mit in den Saal gebeten, wenn er sich nicht tadellos verhalten hätte?!“ – „Es sollte ausgesprochen werden. Genau wie der weitere Teil dieser Unterhaltung...“ – „Welche anderen Mittel?“ fragte Diplomat 29. „Der Verhandlungsführer hat die Strategie klargemacht. Uns, meine Herren...“ – seine Brust hob sich, die Augen funkelten – „...ist eine besondere Aufgabe zugefallen: die Verführung der Freiheitsdiplomatinnen.“ Die anderen Diplomaten begannen daraufhin schallend zu lachen, und auch ich musste mit ihnen lachen. Jetzt sprachen sie alle mit zitternden Händen und bebenden Stimmen. Sie überboten sich gegenseitig in Beschreibungen und schämten sich keine Sekunde. Diplomat 29, der Jüngste, schlug vor, jemand solle sich doch um die alte Verhandlungsführerin kümmern. Wieder Gelächter. Noch lauter. Am Ende zogen sie Lose.
Danach, ohne dass es einer Absprache bedurfte, nahm mich der 21. Diplomat zur Seite. „Mein Freund, wir sind jetzt auf Ihre Unterstützung angewiesen. Sie müssen uns Einsicht in die Zimmerverteilung geben.“ Ich brachte jeden mir erdenklichen Einwand. Ich führte sogar solche Einwände an, die mir selbst nicht logisch erschienen. Der Diplomat hatte auf alle eine Antwort. Ich weiß keine seiner Antworten mehr. Ich weiß nur noch, dass ich Schritt für Schritt nachgab. Wie ein Mann, der ein zu schweres Gewicht halten muss, dessen Muskeln zu zittern beginnen, der die Zähne zusammenbeißt – und das Gewicht dann loslässt. Mit einem Knall.
NACHT
Zuerst begleitete ich die Sicherheitsdiplomaten 17 und 18 in den vierten Stock des Schlafbereiches der Halle. In Zimmer 42 waren zwei Sicherheitsdiplomatinnen untergebracht – Schwestern. Ich klopfte energisch. Die Einheitsuhr zeigte schon nach Mitternacht. Die großen Augen der Diplomatin blickten mir entgegen. Ich entschuldigte mich für die Störung und für die gleich folgende Unannehmlichkeit. Ich versicherte, dass ich die beiden Männer sofort wieder zurückführen würde, wenn die Diplomatinnen es wünschten. Dann traten 17 und 18 aus dem Schatten hinter mir. Sie erklärten, mit der eigenen Führung unzufrieden zu sein, dass sie vom Verhandlungsführer getäuscht und hintergangen worden waren, und dass sie noch heute Nacht bereit wären, über die Freigabe von wertvollen Informationen zu sprechen. „Warum haben Sie uns ausgewählt?“ fragte die eine. Noch bevor einer der beiden Sicherheitsdiplomaten antworten konnte, ergriff ich das Wort. Ich erklärte, dass niemand sie ausgewählt hatte, sondern dass dieses Zimmer das erste war, das ich auf dem Belegungsplan erblickt hatte. Ich fügte hinzu, dass sie sich freuen sollten, dass diese beiden Diplomaten mit einem solchen Angebot vor ihnen standen. Außerdem erfand ich, die beiden hätten schon auf dem Weg kalte Füße bekommen und seien auch jetzt noch kurz davor umzudrehen. Ich sagte, es gehe weit über meine Befugnisse hinaus, sie hierher zu bringen, aber ich hätte die Verhandlungen mitbekommen und wüsste daher, wie es um die Taktik der Sicherheitsdiplomatie stünde, und gab vor, dass kein Sicherheitsdiplomat für die morgige Nacht ein Zimmer gebucht hätte. Ich verließ das Zimmer, ohne ein weiteres Wort zu sagen. Ich wartete noch einige Zeit davor, ging aber, als ich allein blieb, in die Halle zurück. Mein Bericht erfreute die beiden zurückgebliebenen Diplomaten sehr.
Wenig später begleitete ich Diplomat 21 zu Zimmer 47. Er erklärte mir auf dem Weg dorthin, dass er vorgeben wolle, geheime Sympathien für bestimmte Aspekte der Freiheitsideologie zu hegen und über einen Austausch Vertrauen aufzubauen. Er bat mich, ihn wie die anderen vorzustellen. Die Taktik ging auf. Ich hörte, wie die Freiheitsdiplomatin seine Ärmel lobte. Ein Käfer kroch an der Wand entlang. Ich wusste nicht, warum, aber ich trat den Käfer nicht. Dann ging ich zurück.
In der Halle saß nur noch der Jüngste – der 29. Diplomat. Als ich mich ihm näherte, stand er auf. „Ich weiß, dass mir die Diplomatin 21 zugelost wurde“, sagte er. „Aber ich hätte eine andere Bitte.“ Ich war in der Nacht sehr unruhig und weiß nicht, ob ich geschlafen habe. Nur Gedanken über das Meer konnte ich zulassen.
UNTERBRECHUNG
Die Verhandlungen am nächsten Morgen begannen planmäßig. Allerdings war auf Seiten der Freiheitsdiplomaten eine Unruhe spürbar. Ich dachte zuerst, das unruhige Meer sei dafür verantwortlich, aber man erklärte mir, dass die Verhandlungsführerin fehlte. Ich wollte mir nichts dabei denken und musste mich dazu sehr anstrengen. Als sich die Zwischenrufe vermehrten, unterbrach der Ratspräsident die Verhandlungen.
Sofort kamen die Diplomaten des gestrigen Abends zusammen. Die gleichen Gesichter, nur bleicher. Sie hatten auch mich wieder in ihren Kreis genommen, obwohl ich lieber zum Meer hinausgeblickt hätte. Der jüngste Diplomat sprach wirr und unklar – noch nie hatte ich einen Diplomaten so reden hören. Ich schaffte es allerdings, mich ganz auf die Reaktionen der anderen zu konzentrieren und konnte die Worte ignorieren. Die anderen Diplomaten senkten die Köpfe, verdrehten den Oberkörper und wichen zurück. Die Mundwinkel des 21. Diplomaten verzogen sich, genau wie seine Nase.
Dann traten Sicherheitsbeamte in den Saal. Jeder musste seinen Platz einnehmen, und die Tür wurde verschlossen. Nacheinander wurden die einzelnen Diplomaten herausgebeten. Manchmal dauerte es sehr lange, bis der nächste Diplomat aufgerufen wurde. Die Diplomaten 17 und 18 wurden zu zweit aufgerufen, beim 21. und 29. dauerte es sehr lange.
Ich blickte in der ganzen Zeit auf das stürmische Meer. Es war stürmisch. Ich fragte mich, ob das Meer wirklich gestern noch ruhig gewesen war. Ich meinte, mich zu erinnern, dass es so war. Vielleicht hatte ich es nur für ruhig gehalten. Gibt es überhaupt ein ruhiges Meer? Vielleicht war in Wahrheit das Meer auch gestern schon in Aufruhr.
Im Saal sind nur noch Sicherheitsbeamte verblieben. Gleich werde ich aufgerufen.