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Im Park

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21.01.2003
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Im Park

Verkehrslärm brandete gegen die kleine Parkanlage, versickerte zwischen Bäumen, Sträuchern, Blumen. Vogelstimmen drangen aus Laubwerk hervor, das in der Abendsonne flammte. Wasser plätscherte im Brunnen, dessen Engel die Umgebung mit steinerner Miene zu ergründen versuchten. Eine Frau im Regenmantel kam von der Straße her, schaute sich suchend um und setzte sich seufzend auf eine Bank. Sie beugte sich vor und stemmte ihre dicken Beine fest auf den Boden, während sie ihre Plastiktasche dazwischen stellte. Dann zog sie ein Knäuel Zeitungspapier mit Brotkrumen hervor und öffnete es, warf die Krumen vor ihre Füße. Ein paar Tauben landeten auf dem Boden und stolzierten mit ruckartigen Kopfbewegungen heran. Ihr Gurren vermischte sich mit einem rhythmisch blechernen Klacken. Ein Mann radelte herbei und sprang von seinem Fahrrad.
"Guten Abend", sagte er und zog einen kleinen Rucksack von den Schultern.
Der Mann war jung, doch schien er vorzeitig gealtert. Sein Gesicht war blass wie die Wintersonne. Die wässrigen Augen unter der zerfurchten Stirn blickten kurz auf die Frau, dann setzte er sich neben sie. Sagte noch: "Die Welt ist nicht so, wie sie scheint", zog ein Buch hervor und fing an zu lesen. Die Frau ließ ein paar Krumen auf den Boden fallen und deutete auf das Buch.
"Ist das Englisch?"
Der Mann hielt das Buch in die Höhe. "Dies hier? Ja. Heißt 'The third Policeman', soviel wie 'Der dritte Polizist'. Er hielt einen Augenblick inne und fuhr dann fort: "'The third Policeman' hört sich besser an. Meinen Sie nicht auch?"
"Ich weiß nicht", erwiderte die Frau. Der Mann sah zum Himmel empor.
"Ist das Wetter auch jetzt noch schön. Später wird es sicher regnen. Dann sitze ich in meinem kleinen Büro und höre mir an, was die Menschen so zu sagen haben."
"Wie interessant." Die Frau richtete sich auf. Sie sah mit mildem aber fortgesetzen Interesse auf den Mann, und als sie fragte: "Sind Sie Pastor?", zögerte er nicht zu antworten. "Nein, aber mein Onkel. Ich studiere Psychologie. Mein Onkel hat mir für die Semesterferien einen Job bei der Telefonseelsorge angeboten. 'Du kannst dort lernen, indem du zuhörst', sagte er mir."
"Hm", meinte die Frau. "Erzählen Sie weiter." Ein paar Spatzen hatten sich zu den Tauben gesellt. Der junge Mann legte das Buch zur Seite.
"Ist schwierig, wenn man den Gesprächspartner nicht sieht. Keine Mimik, Gestik, Körpersprache. Nur die Stimme und den Tonfall. Damit soll man sich dann ein Bild vom Gesprächspartner machen."
Die Frau sagte nichts. Stählernes Singen der Straßenbahn durchdrang den Park. Dann deutete die Frau auf das Buch.
"Worum geht es da?"
"Das Buch ist schon älter. Flann O' Brien schrieb von einem Farmerssohn, der einen alten Mann mit der Schaufel erschlagen hat und über ein paar irische Polizisten."
"Aha", meinte die Frau und griff nach den Brotkrumen.
"Der Farmerssohn ist ein Fan von de Selby, einem Wissenschaftler, der die Natur der Zeit und der Ewigkeit mit Hilfe eines Spiegelsystems untersucht hat. Wenn Sie sich das mal überlegen", fuhr der junge Mann fort. "Steht ein Mensch vor dem Spiegel, erblickt er nicht eine Reproduktion seiner selbst. Er sieht sich in der Vergangenheit. De Selbys Erklärung ist einfach: Braucht das Licht Zeit, zum Spiegel zu gelangen, dann braucht es auch Zeit, zum Auge des Betrachters zurückzukehren. Dieser ist inzwischen ein Stück älter geworden."
"Daran habe ich überhaupt noch nicht gedacht," gab die Frau zu.
"De Selby hat, so steht es in dem Buch." Der junge Mann hielt es mit beiden Händen. "Und wer hätte gedacht, dass ein so dünnes, kleines Buch so große Weisheiten beinhaltete. De Selby hat mit einem Teleskop und unzähligen Spiegeln experimentiert. Er hat es geschafft, sich auf diese Weise bis auf zwölf Jahre zu verjüngen, dann musste er das Experiment wegen der Erdkrümmung und der Schwäche seines Teleskops abbrechen."
"Und was ist mit den Polizisten?" Auf dem Umschlag war ein dicker Polizist mit einem Fahrrad zu sehen.
"Nun", meinte der junge Mann. "Jeden Montag stiehlt Polizeisergeant Pluck das Fahrrad seines Kollegen und versteckt es auf dem Land. Er tut es, damit sein Kollege nicht zu viel Rad fährt und selbst zum Fahrrad wird. Die Polizisten glauben, dass in ihrem Bezirk die Atom-Theorie wirksam ist."
"Die Atom-Theorie?"
"Alles auf der Erde besteht aus Atomen. Menschen, Tiere, Gegenstände. Alles. Atome können wandern. Legt ein Schmied ein Stück Metall auf einen Amboss und bearbeitet es mit einem Hammer, dann wandern einige Atome des Metalls sowohl in den Amboss als auch in den Hammer und die des Ambosses und des Hammers in das Metallstück."
"Ist das wahr?"
"Und Sergeant Pluck ist fest davon überzeugt: Wenn jemand zu lange auf rauher und unebener Strecke mit dem Rad fährt, dann gehen einige Atome des Fahrrades in den Radfahrer über und die des Radfahrers in das Fahrrad."
"Was Sie nicht sagen!" Die Frau blickte den jungen Mann entgeistert an. "Mein Mann ist Briefträger. Wie äussert sich das denn?"
"Wenn ihr Mann sich zu Hause selten hinsetzt, sondern sich mit einem Ellenbogen an die Wand lehnt, oder wenn er beim langsamen Gehen zu Boden fällt, können Sie mit Sicherheit annehmen, dass sein Fahrrad mit vierzig Prozent oder mehr in ihn übergegangen ist."
"Himmel!", rief die Frau entsetzt. "Und ich dachte, er sei betrunken gewesen. Ich hatte ihm die Leviten gelesen. Wie kann ich das je wieder gut machen?"
"Es ist nie zu spät", murmelte der Mann, griff nach dem Buch und packte es in seinen Rucksack. "Wenn es ein Postfahrrad ist, dann sollte er es mit nach Haus nehmen. Reden Sie mit ihm. Ich meine, mit seinem Fahrrad. Schließlich sind Sie auch zum Teil mit diesem verheiratet. Nehmen Sie es doch zwei Mal die Woche mit ins Bett, und stellen Sie Ihren Mann dafür in den Schuppen."
Die Frau warf die letzten Krumen auf den Boden und strich das Stück Zeitung glatt.
"Um Gotteswillen!", rief der Mann. "Darf ich?", und er griff nach dem Papier. "Frau verbrannte sich in der Wohnung. Wie heißt sie? Edith? Eine Edith hab ich die letzten beiden Wochen am Telefon gehabt."
"Das ist ja entsetzlich." Die Frau hob ihre Tasche vom Boden hoch und legte sie neben sich auf die Bank. "Warum hat sie das nur getan?"
"Was habe ich nicht alles versucht, um herauszubekommen, was mit ihr war."
"Hm. Erzählen Sie." Die Frau lehnte sich zurück.
"Edith rief vor mich vierzehn Tagen in der Seelsorge an und erzählte mir von Heinz, ihrem Mann."
"Ihrem Mann?"
"Er würde jeden Abend, wenn er nach Haus käme, ihr gemeinsames Foto-Album hervorholen, ein Foto herausnehmen und verbrennen. 'Und immer ist es ein Foto, wo ich drauf bin', hatte sie hinzugefügt."
Der Mann sah zu Boden. "Ich habe sie nach dem Grund gefragt. Sie wollte ihn mir nicht sagen, rief jeden Abend an. Er habe schon wieder ein Foto angezündet. Ich bat sie, ihren Mann ans Telefon zu holen. Er habe abgelehnt, sagte sie mir dann." Der Mann scharrte mit den Füßen auf dem Boden.
"Wie ging es weiter?"
"Rollenspiel. Ich versuchte es mit: 'Sie Edith sind Ihr Mann und ich bin Sie'.
'Heinz', sagte ich zu ihr. 'Warum machst du das? Lass uns doch darüber reden.'
'Edith, das weißt du besser als ich', hat sie dann geantwortet. 'Du bist mit der brennenden Zigarette eingeschlafen und hast Klara auf dem Gewissen.'
Am nächsten Abend fragte ich Edith nach Klara. Sie kenne keine Klara, meinte sie und erzählte mir, ihr Mann habe das letzte Foto verbrannt. Sie habe Angst.
Vorgestern rief Edith wieder an und weinte. Ihr Mann habe einen Kanister Benzin mit in die Wohnung gebracht, was sie denn jetzt machen solle. Ich sagte ihr, sie solle die Polizei anrufen und fragte sie, ob sie noch die Negative der verbrannten Fotos habe. Und ich fragte weiter, warum sie nicht zum Bahnhof gelaufen sei, um die Bilder entwickeln zu lassen. Sie hätte doch das Album wieder auffüllen können."
Mit fahrigen Bewegungen wischte sich der Mann die Haare aus der Stirn.
"Ich dachte, damit würde sie wieder ein paar Tage gewinnen. Danach habe ich nichts mehr von ihr gehört". Er nahm das Stück Zeitung wieder in die Hand. "Und jetzt dies." Er hielt sich das Blatt vor die Augen.
"Hier steht. Vor einem halben Jahr seien ihr Mann und ihre Tochter bei einem Brand ums Leben gekommen." Er stand auf und schnallte sich den Rucksack um.
"Und ich habe ihr geglaubt. Ich frage mich, ob ich mit dem Studium die richtige Wahl getroffen habe."
"Wie heißen Sie, junger Mann?" fragte die Frau.
"Kwiatkowski", antwortete der Mann und schwang sich auf sein Rad. "Was für ein Name für einen Psychologen. Wenn ich Jung, Adler, Freud, Skinner, Wundt hieße. Einen Namen mit maximal zwei Silben hätte, aber Kwiatkowski."
"Fahren Sie nicht zuviel mit dem Fahrrad", rief die Frau hinter ihm her. Dann verschwand der Mann hinter einer Hecke.
"Verrückter Kerl", murmelte die Frau und erhob sich ächzend und griff nach ihrer Tasche, um ihren Weg fortzusetzen. Mit besorgtem Blick sah sie zum Himmel empor. Wolken waren aufgezogen. Es sah nach Regen aus, und die Frau dachte an das Fahrrad ihres Mannes, das auf der Post im kalten Schuppen stand.


 

Hallo Claudio!

Hat mir gut gefallen deine Geschichte! Sie hat irgendwie von allem etwas. Sie bringt zum Nachdenken, aber auch zum Schmunzeln. Interessant finde ich auch die Rollenverteilung, nachdem dein Protagonist gesagt hat:
'Du kannst dort lernen, indem du zuhörst', sagte er mir."
"Hm", meinte die Frau. "Erzählen Sie weiter."

Hier tauschen sie so schön die Rollen, denn zunächst ist es nun die Frau, die zuhört.
Insgesamt haben mir die Bilder, die Beschreibungen die du verwendest, gut gefallen!

Wenn du Lust hast, könntest du ja mal "Kontrolle" von mir lesen, habe bisher nämlich noch kein Statement dazu bekommen und wäre doch mal interessiert, wie die KG bei anderen rüberkommt.

Liebe Grüße,
Sonja

 

Hallo Claudio,

auch mir hat Deine Geschichte sehr gefallen! Sie ist stellenweise sogar witzig. Eine richtig schöne, kleine Plauschgeschichte! :)

Viel mehr fällt mir gerade leider nicht ein. Ich hab einfach nichts dran auszusetzen... Furchtbar! ;)

Grüßle,
stephy

 

Trixi, Stephy,

Danke. Habe die Story noch geringfuegig geaendert. Ich habe versucht, dem Radler noch etwas mehr Charakter zu geben, habe den Satz mit der Regression und Katharsis rausgenommen, weil er mir zu oberlehrerhaft schien und am Schluss noch drei Saetze hinzugefuegt.

Gruss,
Claudio

 

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