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Im Netz
- Irgendwann war genug! -
Jörg saß gerade vor dem Fernseher und sah sich eine dieser sinnlosen Doku-Soaps aus dem Privatfernsehen an, als seine Mutter ins Wohnzimmer kam.
- Was für ein guter Junge. -
Sie trug ein schwarzes Kleid mit einem rotem Muster, das wie Flecken aussah. Heute Abend wollte sie noch zu einer Cocktail-Party gehen: “Hast du deine Bewerbungen schon abgeschickt?" Jörg antwortete nicht.
"Jörg, willst du dir etwa deine Zukunft verbauen? Wie oft habe ich dir gesagt, dass du dich rechtzeitig darum bemühen sollst? Junger Mann, wenn das mit dir so weiter geht, sehe ich für deine Zukunft schwarz.”
“Ja, Mama.” Es kam langsam und höchst widerwillig über seine Lippen.
“Guter Junge. Dann tu es auch.”
- Ich will hier raus. -
Jörg antwortete immer so. Das schien sie zufrieden zu stellen. Gleichzeitig wusste er, dass es nicht so weitergehen konnte. Wann konnte er eigentlich mal behaupten, er hätte ein eigenes Leben gehabt? Sie kaufte seine Wäsche, kochte sein Essen und achtete stets darauf, dass er immer pünktlich in die Schule kam.
- Freiheit! -
Im Gegensatz zu manch anderem Schüler fand Jörg die Schule klasse. Obwohl er ein Außenseiter war. Endlich einmal den süßen Duft der Freiheit genießen, sich endlich einmal mit anderen Menschen unterhalten. Auch wenn das selten vorkam.
- Die Straßenlaterne sieht so schön aus. -
Jetzt hatte Jörg sein Abitur. Er tat das, was er sonst immer abends tat, wenn er alle Pflichten erledigt hatte: Sich langweilen. Manchmal starrte er stundenlang aus dem Fenster. Einmal, es war ein Freitag gewesen, sah er eine Gruppe Jugendlicher in seinem Alter unter einer Straßenlaterne, die er vom Fenster aus gut im Blick hatte. Jörg grinste. Wenn seine Mutter sehen könnte, was die in der Hand hielten: Pils! Als Fünfzehnjährige! Aber es war bereits dunkel. Gefährlich! Viel zu gefährlich!
- Alles weg. -
Nun waren auch die letzten Möglichkeiten weg. Fast alle hatten ihr Abi, machten dies, machten jenes. Wie er damals die Pausengespräche genoss. Auch, wenn über die Party am vorherigen Wochenende immer gesprochen wurde. Jörg hörte bei diesen Gesprächen gerne zu. Dann kam es ihm fast so vor, als sei er selber dabei gewesen. Wie viel da passierte. Wenn seine Mutter gehört hätte, was dort geschah, sie hätte genickt, ja, “zurecht” hätte sie gesagt, und “wusste ich es doch.”
- Was für ein guter Junge. -
Natürlich wäre er nicht einmal auf die Idee gekommen, selbst auf eine Party zu gehen. Wie denn auch. Schließlich war er ein guter Junge.
Gerade schon wollte sie in die Küche gehen, als sie sich noch einmal umdrehte: “Ach, und bring den Müll noch raus, ja?”
“Nein.”
“Was? Was hast du gerade gesagt?”
“Ich habe nein gesagt, Mama.” Ganz ruhig. Der Entschluss stand fest.
Eine Weile lang stand sie wie angewurzelt da. Dann fügte Jörg hinzu: “Ich werde ausziehen. Schon bald.”
Wieder nichts. Kein Wort. Jörg schaute sie an, sah eine Miene, die er nicht deuten konnte.
Dann sah er etwas im Garten. Erst aus den Augenwinkeln, bis er es genauer im Blick haben wollte.
Jörg Mund öffnete sich zu einem Schrei, den er lange halten konnte. Dabei verlor er Zeit.
- Oh mein Gott, es ist Sie! -
Das eklige Ding kam näher und näher. Meine Güte, zwei, ach was, drei Meter groß musste das Biest sein. Eine riesige schwarze Witwe (Jörg hatte in Biologie aufgepasst) im ihrem Garten! Jetzt zertraten die langen, dürren, aber kräftigen Beine die Glasfront des Wintergartens. Sie war hier drin. Sie war HIER DRIN. Bald würde sie die Schiebetür zum Wintergarten, die ebenfalls aus Glas war, zertreten.
Währendessen reagierte seine Mutter. Sie gluckste. Nein, sie kicherte. Nein, sie gackerte.
Endlich konnte sich Jörg aus dem Sessel reißen und rannte zur Haustür. Sie kratzte bereits an der Schiebetür.
Nein, sie lachte. Nein, sie brüllte vor Lachen. Nein, sie schrie vor Lachen.
Jörg riss die Haustür auf und stürzte die Eingangstreppen herunter. Er spürte einen schmerzhaften Stich im Knöchel. Doch er rappelte sich wieder auf. Musste sich wieder aufrappeln. Sie hatte längst die Schiebetür zerstört und sich hindurchgezwängt.
Jörg humpelte zum Bürgersteig. Er sah sich kurz um. Sah, wie sich erst vier Beine, dann der Körper, dann die restlichen vier Beine aus der Eingangstür zwängten. Jörg humpelte weiter.
Fast hatte er den Bürgersteig erreicht, als er plötzlich etwas klebriges an den Beinen spürte. Er stolperte und fiel auf den Bauch. Hörte, wie ihre Zangen klicken. Roch ihren Übelkeit erregenden Geruch.
Er war ihre Beute, und die musste man frisch halten.
Solange es ging.