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Im März ein Jahr
Sie sah glücklich aus auf dem Foto, die kleine Paula. Ganz allein in Valparaíso. Ich weiß nicht, warum ich mir ihren Account ausgerechnet vor ein paar Tagen ansah. Aber ich weiß, dass ich die Geschichte aufschreiben muss, um sie nicht zu verlieren.
Ich will genau sein, bei Otto beginnen: Otto war oder ist der Korrekte. Der, mit dem man gut chillen kann. Er hat einen großen Bruder, der ihn für einen Hänger hält, was irgendwie auch stimmt und Otto traurig macht. Ich hatte von Paula erfahren, dass er in nichts wirklich gut war. Zumindest vermied er jegliche Situationen, die seine Fähigkeiten unter Beweis gestellt hätten. Er hatte mal einen Zeichenkurs besucht, ein paar Bilder gemalt, sie alle im Schubfach seines Schreibtischs versteckt. Paula entdeckte sie zufällig. Nicht mal ihr hätte er sie gezeigt, obwohl sie seine beste Freundin war. Er stand auf sie. Das machte ihn verrückt. Schließlich war er Otto der Korrekte und nicht Otto, der was von seiner besten Freundin will. Vielleicht stellte er sich vor, wie ihre Lippen schmeckten oder er ertappte sich dabei, wie genau er ihre zierlichen Bewegungen studierte. Es musste ihm einfach wie allen ergehen, die vor Paulas Schönheit erschauerten.
Eines Tages, als die beiden sich trafen, um der Sprengung eines Hochhauses beizuwohnen, packte er aus. Er wollte reinen Tisch machen. Paula erzählte mir, wie sie gelacht hatte. Es knallte und das war wirklich laut, trotz Ohropax, und nachdem das Gebäude sich zur Seite gewälzt und zu einer Staubwolke zerfallen war, legte Paula ihre Hand auf Ottos Glied. Leider steh ich nicht mehr auf Typen.
Otto glaubte, es sei das Ende ihrer Freundschaft. Doch Paula schien das Geständnis nicht weiter zu kümmern. Sie erzählte Otto von mir. Dass alle mich für eine nette Person hielten, dass ich engagiert sei und man mit mir herumalbern könne. Sie wusste nicht, dass nichts an mir nett war, dass es nichts gab, was ich ohne Hintergedanken tat. Die meiste Zeit fragte ich mich, ob nicht in Wirklichkeit alles, was ich hervorbrachte, große, blutleere Lügen waren. Meine Konkurrentinnen auf der Arbeit hielten mich für eine hirntote Marionette. Eine aufgesetzte Schlampe, die viel jünger war, als sie sich gab. Manchmal fand ich sogar, dass sie recht hatten. Nur dass es mich nie störte. Ich wusste, ich würde sie alle überleben. Ich konnte beständig sein wie der Geruch von Kotze im Auto.
Es störte mich nicht, dass Paula Otto zum Zwanzigsten Nacktbilder von sich schenkte. Was dachte sie sich eigentlich dabei? Der arme Kerl. Scheinbar nahm Otto alles mit Humor. Wer weiß, was wirklich in seinem Kopf vorging.
Paula traf sich wieder mehr mit ihren Mädels. Einmal fragte sie mich, ob ich wüsste, warum all diese Leute was mit ihr zu tun haben wollten. Sie hatte das Gefühl, dass es egal war, wer sie war, wenn sie mit ihnen war. Eine Statistin. Gemeinsam spielten sie eine gelangweilte Clique in einem Film, der niemanden von ihnen sonderlich interessierte. Paula war es satt dazuzugehören. Jetzt wollte sie reinen Tisch machen. Ihrer alten besten Freundin ihren Verrat gestehen. Lebensumstände waren keine dauerhafte Angelegenheit. Man konnte mit dem Finger schnippen und alles ändern.
Ich schleppte Paula gern zu Punk-Konzerten. Vielleicht sehnte ich mich danach von meinem Jungspießertum loszukommen. Wir aßen in Volxküchen und einmal begleitete Paula mich zu einem Agitationstreffen meiner Arbeitsgruppe. Ich holte meine alten Klamotten aus der Schrankschublade. Die Jeansjacke mit den Fransenärmeln, die Hose mit dem Pippi-Lotta-Aufnäher. Ich roch daran. Die Sachen müffelten nach altem Holz. Durch Paula verstand ich überhaupt erst wieder, warum ich in der Partei war und zu all den Treffen ging. Ihr unverdorbener Geist nahm jede Parole beim Wort. Ich konnte förmlich spüren, wie sich ein tiefer, anarchistischer Groll in ihr breit machte. Sie verkaufte ihr Edel-Notebook und ließ sich das Schrottding von Otto schenken, sie versetzte den Schmuck der Oma und schickte den Erlös nach Chile zu einer Hilfsorganisation. Sie sprach von Deutschland wie der Stiefmutter bei Hänsel und Gretel. Eigentlich hätte ich das gut finden müssen, aber es machte mir auch Sorgen. Ich hatte mich daran gewöhnt mit Paula Quatsch zu treiben, bescheuerte Dinge zu behaupten, an die ich längst nicht mehr glaubte; daran, an Paulas regelmäßiger Verzweiflung teilzuhaben, die irgendwie süß war und mich an etwas Verlorenes erinnerte.
Mit der Zeit zog Paula immer öfter über ihre Freundinnen her. Sie hatte keine Lust mehr, die gelangweilte zu spielen. Sie verabredete sich mit Bea, um ihren Verrat zu gestehen; vielleicht war sie ein schlechter Mensch gewesen, würde Bea sie verachten, sie hätte es verdient. Es gab also nichts zu verlieren, außer einem Teil ihres Selbst, den sie ohnehin nicht mochte. Wie durch ein Wunder verzieh Bea ihr alles. Paula erzählte mir wie sie sogar darüber lachten. Es war der Sex mit Adam B., dem heißesten Typen der Schule und festen Freund Beas. Paula hatte das erste Mal an ihrem Interesse an Männern gezweifelt. Sie wirkte so erleichtert, als sie mir von dem Treffen erzählte, und ich freute mich für sie.
Der Rest ist einfach erzählt. Otto tat, was er am besten konnte, auch wenn das, seinem eigenen Urteil nach nichts war. Er hing mit seinen Kumpeln ab, kochte, kiffte, schaute Serien, hing draußen mit seinen Kumpeln ab, in Bars, liebte Spätibier, aß Döner, ging auf Konzerte in kleineren Locations, komate in seinem Bett aus. Gelegentlich schlief er mit seiner neuen besten Freundin, die nicht Paula war, denn die traf er nur noch selten.
Paula konnte nicht verstehen, warum Otto sich von ihr abwandte. Er hatte ihr wirklich etwas bedeutet. Im Gegensatz zu ihren Freundinnen, die ihre Pläne mit Langweile zur Kenntnis nahmen. Mit Paulas mickrigen Ersparnissen buchte sie sich einen Flug nach Valparaíso. Sie schickte mir nur eine Kurzmitteilung; dass sie sein würde wie Bankräuber und Betrüger, die sich nach Südamerika absetzten. Scheinbar tat es ihr leid.