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- 01.09.2005
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Im Kerker des Drachen
Der Strom fiel aus, als Maren allein war. Es war, als hätte das Haus auf diesen Augenblick gewartet. Im Fernsehen hatte sie eine Dokumentation über Eulen geschaut und plötzlich war nun alles finster.
Gerade wollte Maren lauthals fluchen, da zog sich etwas in ihrem Inneren zusammen. Statt der Wut spürte sie nun die Angst, deretwegen sie mit 39 Jahren noch immer das Licht im Schlafzimmer brennen ließ. Nicht die Nachttischlampe, sondern das Licht. Das große.
Es war eine Macke, die Maren lange daran hatte zweifeln lassen, dass sie jemals einen Partner finden würde. Doch dann hatte sie Britta kennengelernt. Britta mochte Nick Cave und Fesselspiele. Wenn sie sich küssten, blitzte es in Marens Kopf. Es blitzte die Dunkelheit einfach weg.
Britta hatte breite Schultern, aber Britta war nicht hier. Die Firma hatte sie fünfhundert Kilometer weit weg zu einem Seminar geschickt, damit sie eine neue Programmiersprache lernte. Wahrscheinlich aß sie gerade ein spätes Abendessen in einem dieser schicken Münchener Restaurants, die sie immer im Fernsehen zeigten. Maren war nicht hungrig. Im stockdunklen Wohnzimmer versicherte sie sich flüsternd, dass es Schlimmeres gab als einen Stromausfall.
Der Klang ihrer eigenen Stimme führte den Inhalt des Gesagten ad absurdum. Was, um alles in der Welt, sollte es Schlimmeres geben als in einer Nacht ohne Mondschein im Haus ihrer Eltern zu sitzen? Zwischen ihr und dem nächsten Nachbarn lagen fast anderthalb Kilometer Feldweg. In diesem Haus war Mutter mit ihren Schnäpsen und ihrem Sekt dahin vegetiert, bis sie vor einigen Monaten verschwunden war. Der Postbote hatte es gemeldet. Veraltete Ausgaben des lokalen Anzeigenblattes hatten den Briefkasten verstopft. Wahrscheinlich lag sie in diesem Augenblick in den Armen eines männlichen Mitsäufers, der noch betrunkener war als sie selbst. Vielleicht trieb sie auch ertrunken die Weser hinab, die Hand verkrampft und so weiß wie ein Fischbauch um eine Flasche Sekt geschlossen. Wo immer sie war, tot oder lebendig, für Maren war es, als würde ihre Mutter dieses Haus niemals verlassen.
In diesem Haus lag auch der Keller, der Maren die Angst vor der Dunkelheit gelehrt hatte. Darin hing der Sicherungskasten an einer Wand, von der der Putz abblätterte. War sie also die dümmste Kuh unter der Sonne, dass sie sich von Britta dazu hatte überreden lassen, nach Mutters Verschwinden hierher zu ziehen? Die allerdümmste, keine Frage.
Britta pfiff auf die Dunkelheit. Deshalb liebte Maren sie. Britta war stark und machte Ju-Jutsu. Über den kompletten rechten Arm hatte sie ein dichtes Rosengestrüpp tätowiert, genau wie Maren es immer hatte haben wollen. Britta hatte es sich einfach stechen lassen. Es war ihr scheißegal gewesen, was das für die Zeit nach der Uni bedeutete, für ihre Jobaussichten. Sie fürchtete sich vor nichts. Auch nicht vor diesem Haus.
„Denk an die Miete, die wir dann sparen“, hatte sie zu Maren gesagt. „Nur für ein Jahr, dann bin ich Teamleiterin, dann müssen wir auf solche Kleckerbeträge nicht mehr achten.“
„Es ist ein Haus, Britta“, hatte Maren gesagt. „Da gibt’s immer was zu reparieren, und das kostet Geld.“
Ungeduldig hatte Britta den Kopf geschüttelt.
„Scheiß doch drauf. Wenn wir wissen, dass wir in einem Jahr wieder rausgehen, machen wir natürlich nur das absolut Nötigste.“
Wir hätten wenigstes alles einmal ausräumen und verbrennen sollen, dachte Maren jetzt. Bis auf den alten Fernseher, den sie durch Brittas riesigen Flachbildschirm ersetzt hatten, stand alles noch an dem Platz, an dem es auch schon gestanden hatte, als Marens Mutter lallend ihrem weggelaufenen Ehemann hinterher gebrüllt hatte.
Sie hatten wieder einmal gestritten wegen Mutters Trinkerei. Marens Vater war mit tränennassem Gesicht in ihr Zimmer gekommen, hatte sie auf die Stirn geküsst und ihr gesagt, dass er sie lieb habe. Am nächsten Tag fuhr er zur Arbeit und kam nicht zurück.
Maren hasste ihren Vater für seine Feigheit. Er hatte sie mit Mutter allein gelassen, als sie erst fünf Jahre alt gewesen war. Mutter trank und schimpfte, schimpfte und trank. Der Sekt und die Schnäpse verwandelten sie in etwas, das in schlechten Träumen hinter verschlossenen Türen die Krallen wetzte.
„Guck dich an“, hatte sie einmal zu Maren gesagt. „Du hast genau das dumme Gesicht deines Vaters. Dir werden irgendwann Spinnweben zwischen den Beinen wachsen, so hässlich bist du. Da will doch keiner drüber, über so ein hässliches Stück. Du kannst nur hier ...“ Mit der linken Hand hatte sie sich zwischen die Beine gegriffen, mit der rechten einen Schluck genommen. Den Sekt hatte sie aus Marens Lieblingsglas getrunken. Ein lachender Comic-Papagei war darauf gewesen. Vater hatte es ihr einmal von der Arbeit mitgebracht.
„Und du kannst nur saufen und gemein sein“, hatte Maren erwidert. Ihre Mutter hatte mit der Hand zugeschlagen, in der sie auch das Glas gehalten hatte. Es zerbrach dabei und schnitt sie tief. Sie beide. Das Blut platschte in dicken roten Tropfen auf den Küchenfußboden.
„Mama, du hast dir weh getan“, hatte Maren gesagt. Ihr eigenes Blut war ihr in den Mund gelaufen, aus der Wunde, die zu der Narbe wurde, die sich seit jenem Tag von ihrem Jochbein bis zur Oberlippe zog. Ihre Selbstlosigkeit war von der Hoffnung getrieben gewesen, sie würde eine weitergehende Bestrafung von sich abbringen, wenn sie Besorgnis zeigte. Der Plan ging nicht auf. Mutter war zu betrunken, als dass ein bisschen Blut sie beeindruckt hätte. Damals sperrte sie Maren das erste Mal in den alten Werkzeugraum im Keller. Sie packte sie am Kragen ihres T-Shirts und schubste sie die Kellertreppe vor sich her in die Tiefe.
„Mama, was machst du?“, schrie Maren. „Bitte, hör auf!“ Der Schnitt in ihrem Gesicht brannte. Sie hörte die Tür hinter sich zuknallen und stand da in absoluter Dunkelheit. Metallisch quietschend schnappte der Riegel vor.
Ihr Gefängnis war fensterlos. An den Wänden standen morsche Holzregale, die sich durchbogen unter der Last aus Hämmern voller Rostflecken und Gläsern voller Nägel und Schrauben. Oben hörte sie Mutter fluchen und kreischen, was sie getan habe, was sie nur getan habe, um das alles zu verdienen, diesen Mann, diese Tochter, diese abgrundtief schlechten Menschen. Es war furchtbar, aber es wurde noch schlimmer, als es aufhörte. Das hieß, dass Mutter eingeschlafen war und Maren die Nacht in der kalten Finsternis des Werkzeugraumes verbringen musste.
Sie hatte Flüstern und Kratzen gehört und war sicher gewesen, jeden Moment eine kalte Hand zu spüren, die sich auf ihre Schulter legte. Wenn Mutter sie vergaß, pinkelte Maren sich jedes Mal ein. Irgendwann schrie sie. Sie hätte lieber Prügel in Kauf genommen, als weiter zusammengekauert in der Schwärze zu sitzen, wo sie sich nicht traute, ihre Arme und Beine einen Zentimeter weiter auszustrecken, aus Angst, sie könnte an etwas stoßen, das atmete.
Mutter kam nie vor dem nächsten Morgen, wenn sie verkatert und mit verweinten Augen die Tür zum Werkzeugraum aufschloss und sich dafür entschuldigte, wie furchtbar sie sich aufgeführt hatte. Die Arme schlang sie dann fest um ihre Tochter. Ihr Atem roch nach Erbrochenem. Als Wiedergutmachung bekam Maren immer ein kleines Geschenk, ein Heft mit Pferdecomics oder eine Tafel Schokolade.
Für Marens weiteres Leben hatte Mutter ihr ein ganz anderes Geschenk gemacht. Achluophobie bedeutete, dass sie nicht gern ins Kino ging, weil sie den Angstschrei in der Dunkelheit zwischen Werbung und Film kaum zurückhalten konnte. Es bedeutete, dass sie nachts im taghell erleuchteten Zimmer schlief und sich mit Anfang zwanzig eine 3500-Lumen-Taschenlampe zulegte, die sie in ihrer Handtasche bei sich trug.
Diese Taschenlampe lag jetzt neben Maren auf dem Sofa. Sie nahm sie, stand auf und schrie. Dann kicherte sie unsicher. Sie hatte sich vor ihrem eigenen Abbild im großen Wohnzimmerspiegel erschreckt, vor dem sie einst gestanden und sich gefragt hatte, wie hässlich sie wirklich war. „Fick dich selbst“, schimpfte sie, wie Britta es es ihr beigebracht hatte. Das sollte sie sagen, wenn sie von ihrer Mutter träumte und mit Schweiß auf der Stirn erwachte. Mein Leben ist mein Leben, und du geh' und fick dich selbst.
Die Taschenlampe leuchtete ihr den Weg über den Flur und dann die Kellertreppe hinab. Jeder barfüßige Tritt auf jede Stufe verschoss einen brennenden Angstpfeil, der sich in ihr Hirn bohrte. Nach all den Jahren klebte am schmutzig weißen Putz der Wand noch immer Mutters Blut von der Nacht der allerersten Einkerkerung. Sie hatte sich abstützen müssen, wegen ihres torkelnden Gangs. Die Flecken waren inzwischen braun und blass und kaum noch zu erkennen, aber sie waren da.
Was sie gerade tat, hätte Maren einst in die geschlossene Abteilung gebracht. Der Berufsverband der Psychotherapeuten hätte es wahrscheinlich gern gehört, wenn sie behauptete, die Sitzungen hätten ihr darüber hinweggeholfen. Aber sie hatten nichts dergleichen getan.
Es war Britta zu verdanken, dass sie jetzt die Tür am Ende der Treppe öffnen und den Keller betreten konnte. Zwar hörte sie ihr Herz klopfen und ihren Verstand fiebrig vor Furcht zittern, bereit für jeden Schrecken, den der grelle Lichtkegel plötzlich aus der Dunkelheit schälte. Aber diese Angst lähmte sie nicht länger. „Fick dich selbst“, empfahl Maren der Dunkelheit.
Der Werkzeugraum hatte sie Angst gelehrt, Britta dagegen Mut. „Ohne Angst gibt es den gar nicht“, hatte ihre Freundin zu ihr gesagt. „Wenn ich einen Wettkampf habe, und die andere Frau ist viel stärker als ich und hat vielleicht einen höheren Gürtel, dann habe ich auch Angst. Aber ich kämpfe trotzdem und wenn ich verliere, scheiß doch drauf. Wenn ich gewinne …“ Sie hatte gelächelt und Maren eine Hand zwischen die Beine gelegt. „Wenn ich gewinne, ist es wie ein Orgasmus.“
Sie stand vor dem Stromkasten und versuchte, nicht nach links zu schauen. Von dort gaffte sie die alte Holztür zum Werkzeugraum böse an. Lang nicht gesehen, schien sie zu sagen. Komm doch rein.
„Solange du den trägst, bin ich bei dir“, hatte Britta gesagt, hatte sich einen silbernen Ring vom Finger gezogen und ihn Maren angesteckt. Damit hatte sie sich dazu überreden lassen, allein in diesem Haus zu bleiben. Um Britta stolz zu machen. Sie war die allerdümmste Kuh unter der Sonne, ganz klar.
Maren legte den Sicherungsschalter um: Klack. Sie hörte den Strom summen und atmete zitternd aus. In der Dunkelheit lächelte sie stolz. Vielleicht war dies der richtige Augenblick für einen Orgasmus. Immerhin hatte sie gewonnen. Sie sollte oben masturbieren.
Das Geräusch klang, als schlüge jemand von der anderen Seite gegen die Tür zum Werkzeugraum. Maren schrie auf und richtete die Taschenlampe auf die Pforte, hinter der sie ihre Kindheit verloren hatte. Ihre Hand zitterte, und mit ihr der Lichtkegel.
All die Jahre. Der Vater feige, die Mutter ein Monster. Maren spürte Zorn, der sich mit der Angst darum stritt, wer von beiden ihr die Kehle zuschnüren durfte. Sie tippte sich an die Stirn. Dahinter hatte es das Geräusch gegeben, und nur da.
Mit Britta war sie in ein seit Jahrzehnten leerstehendes Haus mitten in Bielefeld eingebrochen und hatte es für eine Nacht bezogen. Sie hatten einander zum Höhepunkt geleckt in den Resten eines Badezimmers, in dem eine Mutter ihren Säugling in der Wanne ertränkt haben soll. Dann hatten sie in dem Badezimmer geschlafen. In der Dunkelheit. Eigentlich war Maren sicher, in der Nacht kein Auge zugemacht zu haben, aber sie musste die leise Frauenstimme geträumt haben, die gesagt hatte: Verschwinde endlich! Es ist mein Kind!
Die Radikalkur hatte Britta das genannt. „Wie kalter Entzug“, hatte sie gesagt. „Es wird leichter, wenn jemand bei dir ist, der dich liebt.“
„Fick dich doch“, sagte Maren zu der Tür des Werkzeugraums. Sie spürte die Kraft, die Brittas Liebe ihr gab. Als würde ihr Bizeps anschwellen, bis sie eine Beule im Oberarm hatte wie ihre Freundin. „Mein Leben ist mein Leben, Mutter“, sagte Maren. „Ich habe keine Angst mehr.“ Sie atmete dreimal tief ein und machte die Taschenlampe aus.
„Ich habe keine Angst mehr!“, rief sie in die Dunkelheit. Zur Antwort wieder das Klopfen von der anderen Seite. Eigentlich war es mehr ein Poltern, wie von einer Faust. Poltern und Stöhnen.
Das ist nur in deinem Kopf, dachte Maren. Die Dunkelheit bedeutet nichts.
„Maren?“
Sie schrie auf. Die Taschenlampe glitt ihr aus den Fingern.
„Maren? Bist du das?“
„Nein! Du bist nicht da!“
Hastig bückte sie sich nach der Taschenlampe.
„Maren, bitte, es tut mir leid!“
„Du machst mir keine Angst“, stammelte Maren.
„Maren, bitte, lass mich raus!“
Wieder ein Fausthieb gegen die Tür. Maren schüttelte den Kopf.
„Du bist da nicht“, sagte sie. „Ich bin 39 Jahre alt und habe Angst im Dunkeln wie ein Kleinkind, also was willst du noch? Mich in den Wahnsinn treiben? Oder soll ich mich dumm saufen, so wie du es gemacht hast?“
Es blieb still. Maren lächelte triumphierend. Sie wollte sich gerade umdrehen, da hörte sie die Stimme wieder. Diesmal schluchzte sie.
„Maren, bitte, es tut mir leid. Bitte lass mich hier raus.“
Sie blieb ein paar Sekunden lang starr auf der Stelle stehen und hörte dem Schluchzen aus dem Werkzeugraum zu. Wie echt es klang.
Als sie sich umdrehte, um den Keller zu verlassen, schwoll das Schluchzen an zu einem Gebrüll. Mutter schlug gegen die Tür und flehte: „Oh, Gott, Maren, bitte, lass mich raus!“
Mutter?
Das war nicht möglich. Britta wäre furchtbar wütend, wenn sie gewusst hätte, wie Maren sich in diesem Moment von ihrer Angst kontrollieren ließ.
„Du arme Kleine“, hatte Britta gesagt und ihr durch die Haare gestrichen. „Ich hasse diese Hexe, obwohl ich sie nicht mal kenne. Ich hasse sie für das, was sie dir angetan hat. Am liebsten würde ich sie für den Rest ihres Lebens in diesen Keller sperren.“
Maren hatte den Kopf geschüttelt.
„Ach, hör auf“, hatte sie gesagt. „Sie sitzt jetzt einsam in diesem Haus mitten im Nirgendwo. Sie ist gestraft genug. Eigentlich tut sie mir leid. Sie ist ja immer noch meine Mutter und ...“
„Hör du auf!“, hatte Britta sie scharf unterbrochen. „Sie hat dein Mitleid nicht verdient. Sie ist ein Monster. Sie gehört weggesperrt in einen Kerker, wie ein Drache.“
Maren hatte geschluckt.
„Ach, lass das doch.“
Sie machte vorsichtige Schritte auf die Tür zu, hinter der sie noch immer das Schluchzen hörte. Für eine Stimme im Kopf war Mutter sehr hartnäckig. Langsam legte Maren die Hände auf den verrosteten Bolzen. Wieder atmete sie tief durch, als würde sie von einer Brücke in einen Fluss springen. Sie zog den Bolzen zurück, öffnete die Tür und blickte in die Finsternis.
Nichts war in diesem Raum, nichts außer der absoluten Dunkelheit und dem Schmerz und der Angst vergangener Tage. Sie würde mit ihren 3500 Lumen hineinleuchten und die Regale sehen, in denen nach all den Jahren noch immer die Werkzeuge ihres Vaters vor sich hin rosteten. Maren hob die Taschenlampe.
Mutter war nackt und voller Flecken. Ihre Hände bluteten. Das lichte graue Haar hing ihr strähnig ins Gesicht. Dahinter lagen weit aufgerissene Augen. Eines davon hatte der grüne Star getrübt.
„Bitte, bitte, bitte, Maren, lass mich raus!“, flehte sie.
Entsetzt schlug Maren eine Hand vor den Mund. Sie ließ den Blick durch den Kerker ihrer Kindheit schweifen. Tatsächlich waren die Werkzeugregale noch immer da. Auf dem Boden lagen Milchtüten, Kekspackungen, leere Dosen Ravioli und Linseneintopf. Sektflaschen. Der Geruch der verrottenden Essensreste vermischte sich mit dem von Urin und Fäkalien.
Britta, durchfuhr es Maren. Verdammt nochmal, du irre Ziege, was hast du gemacht?
Als wäre das ihr Stichwort gewesen, stürmte Mutter kreischend auf sie zu. Sie schwang einen Hammer mit aller Kraft, die in ihrem faltigen, fast siebzig Jahre alten Arm geblieben war.
Der Schmerz explodierte in Marens Kopf. Mutter hatte sie an der Schulter getroffen.
„Ich will raus!“, schrie sie. „Lass mich raus, raus, raus!“
Maren schlug ihr mit der Taschenlampe ins Gesicht. Mutter stolperte zurück und rutschte auf einem Haufen ihres Kotes aus. Sie fiel auf den Hintern und heulte auf. Maren hörte den morschen Steiß knacken.
Mutters „Aua!“ klang wie der Schmerzenslaut eines Kindes. Aus ihrer eingedrückten Nase lief Blut. Maren zog hastig die Tür zu.
„Nein!“, schrie Mutter. „Maren, nein, nein, bitte, lass mich raus! Bitte!“
Maren schob den Bolzen vor und rannte aus dem Keller. Auf der Treppe stolperte sie und schlug mit dem Gesicht auf eine Stufe. Sie sah kurz zu, wie das Blut aus der Nase in ihre Hand tropfte. Ein Hieb gegen die Tür und ein lautes Schluchzen drangen aus dem Keller. Als wäre das ihr Signal gewesen, hastete Maren weiter die Treppe hinauf.
Oben machte sie den Fernseher wieder an und drehte den Ton immer lauter, bis die Pistolenschüsse und Explosionen eines Actionfilms die gedämpften Schreie von unten fast vollständig übertönten. Fast.
Maren ging vor dem Fernseher auf und ab.
„Britta“, jammerte sie. „Britta, Britta, Britta, du irres, irres Stück, was hast du bloß gemacht?“
Sie wusste, sie hatte sich in Britta wegen deren Furchtlosigkeit verliebt, und Britta war deshalb so furchtlos, weil sei genau das war: ein bisschen irre. Aber so irre?
„Oh Gott, Britta, was machen wir denn jetzt?“
Wie lange war Mutter schon dort unten? Seit acht Monaten, seit sie hier eingezogen waren? Wenn das rauskam, würden sie ihr Britta wegnehmen, würden sie einsperren. Sie wäre wieder allein, wenn das Licht aus geht, genau wie heute. Eine Nacht, darüber hätte ein Richter vielleicht hinweg gesehen, hätte sie mit einer Geld- und einer Bewährungsstrafe davonkommen lassen. Aber acht Monate? Wie hatte Britta es geschafft, das vor ihr geheim zu halten?
„Wieso habe ich die Schreie nicht gehört?“, flüsterte Maren zu sich selbst.
„Weil du sie nicht hören wolltest.“
Sie fuhr herum.
„Britta?“
Es war ihre Stimme gewesen, ebenso echt wie die ihrer Mutter.
„Du findest es auch richtig, dass ich sie bestrafe. Dass wir sie bestrafen. Zusammen.“
Obwohl Britta ganz normal sprach, war sie lauter als das Gewummer aus dem Fernsehen.
„Britta, wo bist du?“
„Sie ist mein Geschenk für dich. Denk daran, was sie dir angetan hat. Die Dunkelheit. Jetzt lebt sie selbst darin, wie sie es verdient hat.“
„Britta, verdammt, das geht so nicht!“, schrie Maren. „Die schicken dich ins Gefängnis! Uns beide!“
„Nur, wenn sie uns erwischen. Sie hat keine Freunde. Hast du selbst erzählt. Wir leben hier ein paar Jahre und sind glücklich, weil sie ihre gerechte Strafe bekommt. Und wenn sie irgendwann tot ist, verschwinden wir.“
„Verdammt, das glaubst du doch selbst nicht, dass das so leicht ist! Und wo steckst du überhaupt?“
Maren drehte sich wieder um. Da stand sie. Ihr athletischer Körper, ihre feschen, kurz geschorenen Haare, ihre trainierten Arme, einer davon mit der herrlichen Tätowierung. Sie trug Cargohosen und ein enges schwarzes T-Shirt, unter dem sich ihre kleinen Brüste deutlich abzeichneten. Ihr freches Grinsen war das eines Kindes, das einen Streich ausgeheckt hatte.
„Das ist kein Witz, du irre Kuh!“, keifte Maren. „Was hast du getan?“
Britta grinste.
„Ich liebe dich so, aber was hast du nur getan?“
Britta zuckte die Schultern. Maren spürte ihre Halsschlagader vor Wut pulsieren. Wie konnte die Freundin ihr gemeinsames, helles Leben fast ohne Angst so leichtfertig aufs Spiel setzen?
„Oh Gott, warum hast du das gemacht?“
Marens Stimme überschlug sich. Sie warf die Taschenlampe nach Britta. Als das schwere Gerät ihn traf, explodierte der große Wohnzimmerspiegel in tausend Scherben.