Im Inneren des...
Es ist nun schon einige Jahre her, als der kleine Hügel in der Mitte des mittelalterlichen Dorfes Burlock zum Schutzgebiet erklärt wurde. Damals nistete dort eine seltene Vogelart, die heute nicht mehr existiert. Dennoch wurde jener Schutz aufrecht erhalten, um ein eventuelles wiederauftauchen des Tieres zu ermöglichen. So ist eine kleine Hütte, das einzigste Bauwerk, was dort je errichtet wurde. Und in dieser kleinen Hütte brannte am Abend des 24. Septembers ein Feuer.
Kai guckte verkrampft ernst in die Runde und hielt seine Karten weit gefächert in der Hand.
Seine breiten Schulter versperrten Thomas, der rechts von ihm saß die sicht. Er konnte sich noch so sehr anstrengen, Kai drehte sich immer genau so, das niemand das Geheimnis seiner Karten lösen konnte. Ihm Gegenüber saß Oliver, dessen langen Wimpern leicht zitterten. Kai war es schließlich, der die Stille brach. Aus seiner harten Mimik erstrahlte mit einem Mal ein Lächeln.
„Schach!“
Er erntete nur verwirrte Blicke der anderen. Besonders von Thomas, der ihn eher geringschätzig abmaß.
„Wie, Schach? Wir spielen hier Poker, du Schmog!“
„Na und? Das ändert nichts an der Tatsache, dass ihr mir jetzt zwanzig Schleifen schuldet.“
„Ja. Genau. Und der Papst bevorzugt die Konfirmation.“
„Full House! Schach!“ Kai schleuderte die Karten vor sich auf dem Tisch, so dass sie nun von jedem gesehen werden konnten. Oliver lächelte süffisant, als er das Bild, dass sich auf dem Tisch ergeben hatte anblickte. Ruhig, besonnen und mit einem triumphalen Ausdruck im Gesicht legte er seine Karten offen.
“Hmmm, und hier blicken dir vier freundliche Herren mit Krone entgegen. Nichts Schach.“
Kai erblasste und resignierte, indem er sich ein neues Bier aufmachte. Der Tisch musste als Flaschenöffner herhalten und der Kronkorken sprang mit einem lauten PLOP weit in den Raum hinein.
„Ahhh. Super. Siehst du Fortunas Lächeln über mir?!“
Draußen heulte der Wind sein Lied und die schwarzen Wolken entließen ihren Inhalt auf die Erde. Kaskaden aus Wasser liefen an den Fensterscheiben der kleinen Hütte hinab, während innerhalb des hölzernen Bauwerks ein großes Feuer und eine Menge Kerzen brannten, deren flackernde Flammen groteske Bilder an die Wände malten. In dieser gemütlichen Atmosphäre saßen vier Freunde, die an jedem Wochenende in diese Hütte fuhren, um an einem Abend vollkommen von der ihnen bekannten Zivilisation abgeschnitten zu sein. Die Hütte hatte kein Wasser und kein Strom, so dass man dort oben auf dem Hügel die völlige Ruhe finden konnte. Zwar konnte man durch die Fenster immer noch die Lichter unten im Dorf erkennen, doch durch den starken Regen waren sie wirklich allein.
Kai warf verärgert die Karten auf den Tisch und genehmigte sich einen tiefen Schluck aus einer Flasche Bier.
„Hey! Was soll denn das jetzt?“ fragte Oliver, der immer noch seine Mütze trug, obwohl es gute 25° in der Hütte sein mussten.
„Ich hab einfach keine Lust mehr.“
„Ach, das ist mir doch völlig egal. Aber die Flasche da, ist meine.“ Oliver zeigte demonstrativ auf das Bier, was Kai noch immer in der Hand hatte.
„Oh mist. Das tut mir echt leid“, höhnte er ironisch und trank sie in einem Zug völlig aus, um anschließend seinem Freund provozierend in die Augen zu schauen.
„So jung kommen wir nicht mehr zusammen.“ Kai prustete los.
„Oh nein. Wieder dieser Spruch. Ich kann ihn langsam nicht mehr hören.“ Thomas hielt sich die Hände vors Gesicht und schüttelte übertrieben seinen kurzrasierten Kopf.
„Aber eins muss man schon sagen,“ er machte eine lange, bedeutungsschwangere Pause, „so jung kommen wir echt nicht mehr zusammen!“
Oliver stand so schnell auf, dass sein Stuhl hinter ihm laut zu Boden ging. „Bin ich denn nur von Idioten umgeben?“ Kai und Thomas hielten sich vor Lachen kaum noch auf ihren Stühlen, bis sie in Olivers Gesicht eine Veränderung bemerkten. Er wurde langsam blas und seine Augen nahmen einen glasigen Glanz an.
„Ey Olli? Alles in Ordnung?“
„Ich glaub, ich, muss kotzen. Ich sehe alles so farblos“
„Oh Scheiße. Kein Wunder, bei dem ganzen Zeug was du heute schon vernichtet hast.“
Oliver begann zu würgen.
„Nicht hier. Raus, aber schnell,“ zischte Kai ihn böse an. Thomas machte genau das Gegenteil. Er würgte und machte dabei entsprechende Geräusche, um Oliver noch zu stimulieren, woraufhin er sich direkt einen Schlag seines Freundes einhandelte. Aber Oliver war schon weg und die Tür nach draußen fiel krachend ins Schloss.
Der Sturm wurde immer stärker und der Wind drang langsam durch alle Ritzen des Blockhauses. Dicke Regentropfen prasselten gegen die Fenster und Wände.
„Klingt wie Gewehrfeuer,“ stellte Kai lachend fest.
„Mmmh, für dich klingen die Beatles auch nach Musik.“
„Du hast überhaupt keine Ahnung...“
„Nicht schon wieder so eine Debatte darüber, was gute Musik ist und was nicht,“ unterbrach Yvonne die beiden, die gerade aus der Küche kam.“
„Darum geht es doch gar nicht. Es geht darum, das es überhaupt keine Musik ist.“ Kai nickte dabei heftig mit dem Kopf.
„Ja. Ja. Ist ja gut. Wo ist denn eigentlich mein Freund?“
Kais Nicken verwandelte sich jetzt in eine deutende Geste nach draußen.
„Kotzen,“ antwortete er ihr trocken.
Yvonnes Gesicht änderte sich von Genervtheit in Empörung.
„Draußen? Habt ihr mal rausgeguckt?“
„SR. Es regnet.“
„Es regnet nicht nur. Es ist ein ausgewachsener Sturm. Wie viel Bier habt ihr eigentlich schon getrunken? Seht zu, dass Olli hier wieder aufgetaucht ist, wenn ich von der Toilette zurückkomme!“ Damit verschwand sie im Badezimmer.
Thomas schlenderte torkelnd zum Fenster und blickte hinaus in die Nacht. Die Bäume wackelten im Wind und hatten sichtlich Mühe sich gegen den Wind zu wehren. Ihre Äste schlugen unkontrolliert hin und her, während sich Schatten und Schemen dazwischen zu bewegen schienen.
„Scheiße Mann. Das ist ganz schön unheimlich da draußen!“
Kai kam nun dazu, um sich ein eigenes Bild zu machen. Was er sah machte ihn gar nicht glücklich. Soviel konnte er gar nicht getrunken haben, dass ihm das nicht aufgefallen war. Der Wind drückte so heftig gegen die Scheiben, dass man sehen konnte, wie sich die Gummieinfassungen bewegten.
„Wir müssen die Läden schließen!“
„Ich mach doch die Fenster nicht auf. Dann regnet es hier rein.“
„Wenn du die Läden nicht schließt, haben wir bald keine Fenster mehr. Du gehst nach hinten zu den Schlafzimmern und machst das da. Ich mach den Teil hier.“
Trotz der drängenden Worte von Kai, machte sich Thomas nicht gerade schnell auf den Weg. Aber immerhin geht er ohne weitere Diskussion, dachte sich Kai erleichtert.
Der Sturm wurde immer heftiger, als Kai aus einem der Schlafzimmer einen lauten Knall hörte, gefolgt von splitterndem Glas und einem Schrei. Seine Beine überschlugen sich fast, als er so schnell er konnte nach hinten rannte. Die hölzerne Tür öffnete sich nur unter Aufbietung seiner ganzen Kraft, so stark drückte der Wind von innen dagegen. Luft und Regen schlug ihm mit solcher Wucht ins Gesicht, dass er für kurze Zeit die Orientierung verlor. Alles was er dann sah, war Dunkelheit, denn die Kerze, die er bei sich trug war erloschen. Tastend bewegte er sich voran und fand schnell seinen Freund am Boden liegen. Er atmete schwer und reagierte erst, als Kai ihn ansprach und nach draußen zog. Er kümmerte sich nicht weiter um das Fenster, dass war sowieso hinüber, sonder schloss einfach nur die Tür.
„Was ist denn passiert?“
„Ich weiß es nicht,“ brachte Thomas stotternd über seine Lippen. Er richtete sich langsam auf und versuchte den Kopf frei zu bekommen, indem er sich leicht dagegen schlug.
„Ich hab da draußen irgendwas gesehen. Aber alles war schwarz-weiß und ich wusste nicht mehr wo ich bin. Ich guckte nicht mehr raus, sondern rein.“
„Was soll das denn heißen?“
„Keine Ahnung. Ich weiß es ja selbst nicht. Und als ich gerade versuchte mir klar zu machen, wo ich wirklich hinguckte, erwischte mich das Fenster am Kopf. Ich wollte es gerade wieder schließen...“
„OK. Komm mit. Du blutest. Sieht echt übel aus. Wir machen das jetzt sauber und verbinden es. So schlimm wird es schon nicht sein.“
Kai schulterte seinen Freund und verlor dabei fast das Gleichgewicht. Auch er hatte unter den Erscheinungen eines übermäßigen Alkoholkonsums zu leiden. Sie waren gerade wieder im Wohnzimmer, als der nächste Schrei das Haus förmlich erzittern lies. Es war nicht einfach nur ein Schrei. Es klang vielmehr wie eine Sirene und kam direkt aus dem Badezimmer, dessen Tür jetzt aufgeschlagen wurde. Aus dem inneren kam eine in Tränen aufgelöste Yvonne, die am ganzen Körper zitterte. Ihre Augen bewegten sich wild und unkoordiniert hin und her. Sie machte den Eindruck einer geistig gestörten Frau, die nicht wusste wo sie war und auch nicht wusste wer sie war.
Kai ließ Thomas unsanft zu Boden und stürzte unbeholfen auf Yvonne zu, um sie in seine Arme zu nehmen. Doch als er bei ihr war, schlug sie rücksichtslos um sich. Sie war völlig aufgelöst und die reine Angst und Panik stand in ihren Augen. Kai ergriff jetzt die Initiative und riss die Frau hinunter auf den Boden, um sie dort festzuhalten und zu beruhigen.
Sie schrie und gab unartikulierte Laute von sich.
„Ruhig. Ganz ruhig,“ schrie Kai auf sie ein, doch Yvonne schien ihn gar nicht zu hören.
„Olli! Olli!“ begann sie zu kreischen.
„Was ist mit Olli?“
Ihre Nase und ihr Mund waren völlig verschleimt, so dass Kai größte Mühe hatte sie zu verstehen.
„Ich hab ihn gesehen. Ich, ich...in der Küche. Er stand in der Küche, u.. und er blutete. Er stand einfach so da und blutete aus seinem Hals.“
„Hör auf jetzt!“ Kai verfiel nun selbst in Panik.
„Das kann überhaupt nicht sein. Du warst im Badezimmer. Die Küche befindet sich genau auf der anderen Seite des Hauses.“
„Was...Nein! Er war da. Und er war blass. Alles war blass. Alles hatte überhaupt keine Farbe. Alles war schwarz und weiß.“
Das Trommelfeuer des Regens gewann noch mehr an Intensität, auch wenn dies gar nicht mehr möglich schien. Und der Wind blies so umbarmherzig gegen die kleine Hütte, dass alle Balken unter lautem Protest aufschrieen.
„Was zum Teufel ist hier eigentlich los.
Thomas! Komm her.“
Thomas robbte sich mit einem lauten Stöhnen heran.
„Pass auf sie auf. Ich geh Olli suchen.“ Kai vergewisserte sich mit einem tiefen Blick in Thomas Augen, dass er es auch wirklich schaffen würde, auf Yvonne aufzupassen.
Kai rannte in die Küche und sah sich um. Im Zwielicht des Kerzenscheins war nicht sehr viel zu erkennen. Und die Aufregung, die seinen Körper unter einer enormen Spannung stehen lies machte das Unterfangen irgend einen Anhaltspunkt zu finden nicht gerade leichter. Aber es gab zwischen den Aussagen von Thomas und Yvonne klare Parallelen. Beide hatte Dinge in schwarz weiß gesehen und beiden war es so, als sehen sie nicht durch ihre Augen. Wie sonst hätte Yvonne die Küche sehen können. Kai nahm eine Kerze in die Hand und kniete sich auf den Boden, um diesen abzusuchen. Er war jedoch so sehr darauf fixiert, etwas kleines zu finden, dass er den umgekippten Mülleimer gar nicht bemerkt hatte. In der ganzen Küche hatte der Abfalleimer seinen Inhalt verteilt. Überall lagen alte Verpackungen und Essensreste. Fluchend machte sich Kai darüber her. Mit seinen Armen schob er alles so gut er konnte zusammen und machte sich dann wieder auf die Suche nach Spuren. Ein wenig kam er sich dabei lächerlich vor, denn das alles mutete wie in einem schlechten Film an und so war er auch nicht sonderlich überrascht, dass er nichts fand. Es änderte aber nichts an der Tatsache, dass Oliver nirgends zu finden war. Beunruhigt und erschöpft lehnte sich Kai an eine Wand und blickte müde an sich herunter. Was er sah erschreckte ihn so sehr, dass um ihn herum alles dunkel wurde. Seine Ärmel waren in Blut getränkt. Ungläubig starrte er in die Leere und dann wieder zu Boden, wo er eben den Müll mit seinen Armen zusammengekehrt hatte. Er ging mit der Kerze ganz weit herunter, so dass der kleine Lichtschein der Kerze genau auf den Boden zielte. Es zischte, als ein Wachstropfen hinunter in die Blutlache fiel. Er schrie nach Oliver, doch niemand antwortete ihm. Nur das ständige und monotone Rauschen und Scheppern des Windes war zu hören. Alle anderen Geräusche gingen darin unter, als würden sie einfach vom Nichts verschluckt. Kai haderte mit sich selbst. Er musste etwas tun. Aber die Angst in ihm war so stark, dass er all seinen Willen nutzen musste um nach draußen zu gehen und dort nach seinem Freund zu suchen. Kai tat es. Und nachdem er sich überwunden hatte, war die Angst weg. Seine natürlichen Instinkte hatte die Kontrolle über seinen Körper übernommen und steuerten ihn direkt hinaus in den Sturm. Seine Hand öffnete wie in Trance die Tür, welche direkt, nachdem das Schloss ausgerastet war, nach außen gezogen wurde. Kalte, nasse Luft wehte herein und holte Kai fast von den Beinen. Er trat hinaus, wo der Wind ihn gegen die Hauswand drückte. Blind schob er sich langsam voran, nur von dem Gedanken beseelt Oliver zu finden.
Thomas hielt Yvonne, die noch immer zitterte wie ein verängstigtes Tier, fest in seinem rechten Arm. Mit seiner linken Hand versuchte er die Blutung an seinem Kopf zu stillen. Er bildete sich ein, dass sein Blut durch den Alkohol enorm dünn war und es deshalb nicht aufhören würde zu fließen. Ein lautes Krachen holte ihn aus dieser Vorstellung wieder heraus. Es war so laut, dass auch Yvonne ihren Kopf unbewusst gehoben hatte und nach oben starrte; in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Es krachte noch einmal und die beiden ineinandergewundenen Körper schreckten gemeinsam auf. Dann war es wieder für eine Sekunde ruhig, bis sich ein drittes Mal ein ohrenzerreisender Ton in das Heulen des Sturms mischte. Aber diesmal setzte das zu einem Kreischen anschwellende Geräusch nicht aus, sondern setzte sich fort. Es bewegte sich. Etwas wurde über das Dach gezogen. Etwas großes und schweres. So schwer, dass man das leidende Holz hören konnte. Tiefe Furchen oder Löcher wurden in die Balken geschlagen, aber niemand von beiden konnte erklären, worum es sich handeln konnte. Sie standen so sehr unter Schock, dass sie sowieso zu keinem klaren Gedanken mehr fähig waren. Das Feuer begann zu Flackern. Es zischte und fauchte. Die Helligkeit wurde dem Raum entzogen. Es erlosch. Der Sturm hatte den Schutz vom Kaminabzug weggerissen und nun bahnte sich das Regenwasser seinen Weg in das Haus. Eine eisige Kälte war ein weiterer Begleiter des Unglücks und nur hier und dort brannte noch eine Kerze, so dass sich die Dunkelheit wie Wasser ins Haus ergoss.
Plötzlich sprang die Tür zu den Schlafzimmern auf und durch den hereinbrechenden Schwall an kalter Luft erloschen noch mehr Kerzen. Aber noch etwas anderes kam durch diese Tür. Etwas mit einer menschlichen Gestalt. Thomas machte sich von Yvonne los, um zu sehen, was dort in ihrer Hütte war. Die Neugier war so stark, dass sie sogar die lähmende Angst besiegte. Die Gestalt machte einen unsicheren Schritt nach vorne und Thomas konnte jetzt erkennen, um wen oder was es sich handelte. In genau diesem Moment erwischte ein heftiger Windstoß das Haus von der Seite und die Fensterläden boten nicht länger einen ausreichenden Wiederstand. Glas und Holzsplitter flogen in die Wohnung wie tödliche Geschosse. Regen peitschte herein und vertrieb den letzten Rest Wärme. Es wurde nun so laut, dass das tiefe Stöhnen Olivers einfach unterging. Die Splitter hatten den Ankömmling direkt im Gesicht getroffen. Sein Hals blutete. Überhaupt war sein Gesicht von unzähligen Schrammen überzogen. Als auch Yvonne merkte, wer da das Zimmer betreten hatte, kam das Leben in ihren Körper zurück. Doch bevor sie ihrem Freund erleichtert um den Hals fallen konnte, brach dieser in sich zusammen. Wie ein nasser Sack ging er zu Boden und schlug hart auf das schwere Holz auf.
Yvonne kroch zu ihm herüber und schüttelte wimmernd und zeternd seine Schultern. Tränen flossen ihre Wangen in Sturzbächen hinab, während Thomas nur wie erstarrt dastand. Oliver begann leise zu murmeln, so dass sich Yvonne dicht an seinen Mund beugen musste um ihn zu verstehen.
„Verschwindet.“ Mehr Worte schafften es nicht aus seinem Mund, bevor er dem Tod erlag. Oliver war tot und Thomas, wie auch Yvonne wussten es, auch wenn sie es nicht glauben wollten.
„Nein! Wo ist Kai?“
Yvonne schüttelte den Kopf, aber mehr aus Verzweiflung als aus Unwissenheit. Thomas sah sich um, doch in der Dunkelheit war kaum etwas zu sehen.
„Ich bin gleich wieder da.“
„Nein. Nein!“ schrie Yvonne. Doch es war zu spät. Sie war allein.
Die Zeit war keine Konstante mehr. Sie schlich. Oder raste sie? Yvonne konnte nicht sagen, wie lang es schon her war, dass Thomas weggegangen war. Und schon gar nicht konnte sie sagen, wie lang Kai schon weg war. Sie starrte auf ihren toten Freund, unfähig dazu sich zu bewegen. Sie starrte einfach, immer weiter und bald waren auch die letzten Gedanken aus ihrem Kopf verschwunden. Der Sturm lies langsam nach und die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne drangen in das innere der Hütte vor. Man sah viele Stellen, an denen der Sturm schwere Wunden gerissen hatte. Der ganze Boden schwamm im Regen und rund um Oliver hatte dieser Regen eine rötliche Farbe angenommen.
Als es hell genug war, um sich sicher durch das Haus zu bewegen stand Yvonne auf. Ihre Glieder waren vom langen Sitzen und der Kälte wie betäubt, aber dennoch fühlte sie einen stechenden Schmerz. Unter Bewahrung der letzten Ruhe, die ihr geblieben war blickte sie sich um und sah jemanden in der Küche stehen.
„Kai? Thomas? Bist du das.“
Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Sie war nicht mehr alleine und in ihrem Kopf und in ihrem Herzen glimmte ein Funken von Hoffnung. Sie machte ein paar steife Schritte in die Richtung der Gestalt. Es war nicht Thomas. Das konnte sie erkennen. Die Person war dafür viel zu schmächtig.
„Kai! Gott sei Dank! Kai!“
Yvonne rannte auf Kai zu und wollte ihn umarmen, als sie plötzlich und ohne weitere Regung stehen blieb. Vor ihr stand eine junge Frau. Ihre schwarzen Kleider waren nass und zerrissen. Auch sie zitterte vor Kälte und Anstrengung.
Verwirrt versuchte Yvonne etwas zu sagen.
„Wer sind sie? Geht es ihnen gut?“
Die junge Frau hob den Kopf und strich sie mit einer schnellen Bewegung ihrer rechten Hand die nassen Haare aus dem Gesicht. Ihre Augen waren weiß. Selbst ihre Pupillen hatten die Farbe von Schnee. Yvonne machte einen erschrockenen und hektischen Satz zurück. Dabei landete sie genau auf einer leeren Getränkedose, die ihr die Beine wegriss und sie zu Boden warf. Ihr Kopf dröhnte und sie verlor das klare Bild vor ihren Augen. Was sie dann sah, war sie selbst, wie sie am Boden lag. Sie sah sich in schwarz und weiß und wenn sie ihre Augen bewegte, bewegte sich jedoch nicht das Bild. Selbst als sie ihre Hände vor die Augen hob, wurde es nicht dunkel. Panik stieg in ihr auf. Wie eine Welle verbreitete sich dieses Gefühl in ihren Körper. Fliehen. Sie musste fliehen. Mit aller Kraft raffte sie sich auf und rannte los. Ein wuchtiger Schmerz beendete diesen Versuch aber bereits nach kurzer Zeit. Sie sah, wie sie gegen eine Wand gelaufen war und nun erneut zu Boden ging.
Die Welt nahm Farbe an und sie sah wieder die junge Frau mit den weißen Augen, die sich nun über sie beugte. Ihre Stimme war die einer 16jährigen.
„Sieh mich an. Ich bin schwach. Jeder von euch hätte mich einfach niederschlagen können, aber niemand hat es getan. Ich habe euch getäuscht. Ich habe euch das sehen lassen, was ich sah. Ihr hättet einfach weg sehen können, aber niemand hat es getan. Zu neugierig wart ihr. Selbst die Angst hat euch nicht dazu gebracht euch zu retten. Und nun seid ihr alle tot. Auch du. Eins möchte ich dir aber noch sagen. Danke.
Ihr habt mir etwas gegeben, was sich schon lange nicht mehr gespürt hatte. Angst. Ich liebe es die Angst von anderen zu spüren.“
Yvonne wusste was kommen würde. Sie war sich dem Ende sicher und schloss die Augen.
„Nein. Sieh!“
Wieder sah sie durch die Augen der jungen Frau. Und was sie diesmal sehen musste, war ihr eigener Tot und ihre Mörderin. Es war sie selbst. Es sah aus, als würde sie ihre eigenen Hände um den Hals der am Boden liegenden Frau legen. Aber diese Frau am Boden war auch sie. Sie hatte ihr Gesicht. Die Fremde drückte zu. Yvonne drückte zu. Die Luft wurde ihr geraubt. Langsam verlor sie das Bewusstsein und der starke Druck, den die Hände auf ihren Hals ausgeübt hatten wurde schwächer, da sie jegliches Gefühl für ihren Körper verlor.. Sie glitt dahin und sah sich selbst dabei zu.