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Im Hinterland (Gustaf II)
Eine Münze hatte er noch, also brauchte er Arbeit.
»Komm morgen, wenn die Sonne aufgeht.«
»Wie viel zahlst du?«
»Du kriegst Rüben.«
»Ich brauche aber Geld.«
»Wozu brauchst du Geld? Du kriegst Rüben.«
Also war es abgemacht. Aber wie der Bauer mit ihm gesprochen hatte, wollte Gustaf nicht gefallen.
Am nächsten Tag stand Gustaf im Morgengrauen auf dem Acker. Eine Handvoll Männer war gekommen, auch sie waren zur Ernte hier, aber nachdem der Bauer davongestapft war, lungerten sie herum und redeten und lachten mit dumpfen und hohlen Stimmen.
Die Sonne wanderte schnell. Von oben brannte die Hitze und von unten wirbelte der Staub, und beides zusammen nahm Gustaf die Luft zum Atmen.
Die Männer standen weiter im Kreis. Manchmal bewegte sich einer von ihnen in die ihm zugeteilte Reihe, nur um kurz nachzusehen, ob alles in Ordnung war. Ja, die Rüben waren noch an ihrem Platz, Zeit, die klumpigen Hände wieder in den Taschen zu vergraben oder unter die Hosenträger zu klemmen, dachte Gustaf. Er hübschte sich die Arbeit mit stummen Theaterstücken auf, die er in seinem Kopf inszenierte, auf der Bühne stand ein zusammengewürfelter Männerhaufen, jeder von ihnen kam aus einer anderen Himmelsrichtung und jeder versuchte den anderen klarzumachen, wie die Welt funktionierte: Nein, verkehrt, die Erde hängt an einer Schnur, und wenn jemand zu schnell an ihr dreht, dann entsteht das, was wir Wind nennen, und nein, das Wasser in den Flüssen ist kein flüssiges Eis, sondern geschmolzene Sterne, die langsam zurück in den Himmel fließen.
Nachdem Gustaf mit seiner Reihe fertig war, übernahm er die der anderen.
»Komm mal her«, rief da einer. Es war derjenige, den Gustaf in seinem Kopf Robello nannte, einfach, weil es ihm so eingefallen war.
»Wir haben überlegt«, fragte er Gustaf, »von wo du wohl kommst«.
»Von woanders«, sagte Gustaf. Sonst nichts, und riss weiter die Rüben aus der Erde.
Als die Sonne so tief am Horizont stand, dass selbst die Ameisen Schatten warfen, ging der Bauer umher, um die Arbeit zu überprüfen. Gustaf und die Männer standen in Reih und Glied nebeneinander.
»Du hast die Arbeit von den anderen gemacht.«
»Ja«, sagte Gustaf.
»Dafür hab ich dich nicht bezahlt.«
»Du hast mich gar nicht bezahlt.«
»Nimm deine Rüben und hau ab.«
Da packte Gustaf den Bauern an seinem Unterarm, gerade so fest, dass er sicher war, dass ein blauer Fleck zurückbleiben würde, und sagte:
»Robello hatte recht, was dich angeht.«
Und natürlich wollte der Bauer jetzt wissen, was Robello gesagt hatte, und wer dieser Robello eigentlich war, aber vor allem wollte er, dass Gustaf seinen Arm losließ, und deshalb zerrte und zog er immer fester, und da ließ Gustaf los und der Bauer fiel rücklings auf seinen Acker und lag im Staub.
Und Gustaf ging fort, noch tiefer ins Hinterland, und noch immer nur mit einer einzigen Münze in der Tasche.
Gustaf bekam eine Stelle als Stallknecht. Der eigentliche Stallknecht hatte sich den Arm gebrochen und war zu nichts mehr zu gebrauchen.
»Was macht er jetzt?«
»Ich weiß es nicht und will es auch nicht wissen. Er war kein guter Umgang für meine Frau.«
Die Frau sah Gustaf mehrmals am Tag im Stall. Es waren ihre Pferde, die Gustaf jetzt striegelte.
»Er hatte eine Gabe«, sagte sie eines Tages, während Gustaf Pferdemist schaufelte. »Er wusste genau, was sie wollen. Manchmal ritten wir gemeinsam aus. Wenn er nichts sagte, war ich mit niemandem lieber zusammen. Aber wenn er sprach, sprach er von eigenartigen Dingen. Von einer Präsenz auf dem Hof, und dann war er mir ein Graus.«
»Einer Präsenz?«
»Einem Geist.«
Als kleiner Junge hatte Gustaf einmal durch das bunte Glas des Kirchenfensters in der Nachbargemeinde einen Geist gesehen. Ganz in weiß gekleidet, mit gefalteten Händen. Es war wohl der Pfarrer gewesen, und eigentlich wusste Gustaf das auch, aber als die Gestalt stehen blieb und ihn ansah, rannte er los. Er rannte am Fluss entlang nach Hause und hatte das Gefühl, verfolgt zu werden, und vielleicht stimmt das gar nicht, vielleicht wusste er ganz sicher, dass er nicht verfolgt wurde, aber er mochte es, sich solche Dinge einzubilden, es fühlte sich lebendig an, wahrhaftig. Und so hörte er das Gewand rascheln und spürte auf seiner Schulter eine kalte, knochige Hand. Er geriet ins Straucheln, er stolperte über eine Wurzel und schlug sich das Kinn auf, er irrte noch lange durch die umliegenden Maisfelder und als er heimkam, war es bereits dunkel.
Vina, seine Schwester, richtete sich im Bett auf. Sie wollte wissen, wo er gewesen war, und Gustaf erzählte ihr die Geschichte von dem Geist in der Kirche, und dabei vergaß er schnell selbst, dass es eigentlich der Pfarrer gewesen war, den er gesehen hatte. Jetzt hatte er also einen echten Geist gesehen. Jetzt gab es also Geister.
In der Schule hörte er nicht mehr zu. Was konnte der Lehrer ihm beibringen, ihm, der mehr wusste als jeder sonst im Raum. Er wusste, dass sterben nicht tot sein bedeutete, dass es ein Danach gab und ein Davor, dass er schon mal hier gewesen war und wieder zurückkehren würde, als weiße Gestalt, vor den Augen eines Kindes.
Nachts lag er gerne wach und stellte sich seinen Tod vor. Am liebsten wollte er fliegend sterben, vielleicht von einem hohen Berg stürzen, aus den Wolken auf die Erde fallen. Auf keinen Fall wollte er, dass einfach alles schwarz wird. Wenn er sich die endlose Schwärze zu lange vorstellte, schlug sein Herz schneller als sonst, er musste die Decke von sich strampeln, damit sie ihm nicht den Brustkorb zerdrückte, er spürte eine nie dagewesene Angst und war sich sicher, dass jeden Moment seine Mutter sterben würde oder Vina, und er wurde wütend dabei, er ballte die Fäuste und krallte sich in die Matratze und biss in seinen Kissenbezug, er weinte und fauchte wie wildgeworden, bis zur Erschöpfung. Und er sah aus dem Fenster in die schwarze Nacht hinaus, bis der Hahn krähte und sein Herz sich wieder beruhigte.
Aber das war lange her. Jetzt war sein Leben ein anderes, jetzt ritt die Frau, Rosa, jeden Tag aus, und Gustaf sorgte für Ordnung. Er fütterte die Pferde und hackte Holz, und als der erste Schnee fiel, waren bereits drei Monate vergangen, seitdem Gustaf nur eine einzige Münze in seiner Tasche gehabt hatte – jetzt hatte er mehr, als er ausgeben konnte. Um Essen und Trinken musste er sich nicht sorgen. Er lebte in einem kleinen Anbau direkt am Stall, er hörte, wie die Pferde zufrieden die warme Luft aus ihren Nüstern stießen und mit ihren Hufen auf den Boden stampften, wie um zu prüfen, ob er noch da war oder ob ihnen schon Flügel gewachsen und sie auf dem Weg in den Himmel waren.
Aber er hörte noch andere Dinge: Er hörte die Krähen von den Bäumen rufen. Wie damals, als seine Mutter nicht mehr aufwachte. Als man ihn in die Fabriken schickte und Vina in den Norden, damals, als er in Wäschereien und Sägewerken schuftete, wo er jeden Menschen, dem er begegnete, hasste und tot sehen wollte.
Und er hörte Rosa und ihren Mann streiten. Er hörte den Schnee knirschen. Er hörte das Stalltor quietschen und ein leises, ersticktes Weinen, das ihn bis in seine Träume verfolgte.
In den folgenden Tagen sah er Rosa öfter als sonst und ihren Mann nur noch selten. Nur dann, wenn er ihm neue Aufgaben auftrug, ihn für Besorgungen in den Laden schickte. Dann spannte Gustaf die Kutsche an.
Von dem Geld, das er in den letzten Wochen verdient hatte, hatte er sich einen Schal gekauft und eine Mütze mit Ohrenklappen, und eines Tages, als er gerade aufbrechen wollte, als er gerade die Zügel angelegt hatte und Hü-hott sagen wollte, da stand Rosa neben ihm und reichte ihm ein Paar Handschuhe.
»Deine taugen doch nichts«, sagte sie, »die Fingerkuppen sind zerfressen und löchrig und bis du im Laden bist, sind deine Hände blau, und wenn du Pech hast, sind sie schwarz, bis du zurückkommst.«
»Ja, ich wollte mir gerade heute welche kaufen, aber deine nehme ich auch.«
Und dann sagte er Hü-hött und fuhr mit warmen Ohren und warmen Händen los, und er hatte noch lange Rosas Gesicht vor Augen, wie sie neben ihm im Schnee gestanden war und zu ihm aufgesehen hatte.
Was war es mit den Frauen? Das wusste Gustaf nicht. Aber er wusste jetzt, dass es Rosa war, die nachts durch den Schnee in den Stall kam, er hatte sie durch die angelehnte Tür seines Anbaus beobachtet, hatte gesehen, wie sie Rocko streichelte, den alten Hengst, wie sie ihren Kopf an seinen legte und zufrieden war, und in dieser Nacht konnte Gustaf gut schlafen und wachte am nächsten Tag mit leichten Beinen und leichtem Herzen auf.
Auf dem Weg zum Laden grüßte er jeden mit einem Lächeln, wo er sonst den Kopf am liebsten gesenkt hielt, aber heute war es ihm ein Verlangen, zu jedem Menschen nett und freundlich zu sein.
Als er am Abend Rocko das Geschirr ablegte, sah er dem alten Gaul in die dunklen Augen und er dachte dabei an Rosa, immer nur an Rosa, und in den Nächten ließ er jetzt seine Tür absichtlich offenstehen und eine kleine Lampe brennen, damit sie wusste, dass er da war.
Als Rocko starb, waren sich alle einig. Es war ein verdienter und überfälliger Tod, zum Ausreiten taugte er schon lange nicht mehr, sein Atem ging zum Ende hin ungleichmäßig und er war so sehr abgemagert, dass man die einzelnen Knochen unter seiner fleckigen Haut zählen konnte. Aber das machte es für Rosa nicht einfacher.
Jetzt müsse man sich beeilen, sagte Rosas Mann. Jetzt gefror ja alles im Handumdrehen, vom Vordach hingen ja schon Eiszapfen, die so groß waren wie kleine Menschen, und bald würde keine Axt mehr den Kadaver zerteilen können, und dann läge das Tier hier bis zum Frühling.
Und so stand Gustaf im Stall und hackte auf den alten Gaul ein, wie er im Herbst das Brennholz gehackt hatte, und dabei hatte er einzig und alleine Rosa vor Augen. Und er schämte sich, nur ein armer Stallknecht zu sein, der auf seinen Herren hören musste.
Sein Leben war weit entfernt von dem, das Rosa und ihr Mann führten. Und er war jetzt auch weit entfernt von dem Mann, der er noch im Sommer gewesen war, damals, als er den Bauern am Arm gepackt und ihn dann auf seinem Hosenboden liegen gelassen hatte. Jetzt schlief er in einem Stallanbau, fast schon im Stall selbst, wie das Vieh, und die Leute hatten Mitleid mit ihm und schenkten ihm Handschuhe.
Wenn ein anderer Mensch Mitleid mit einem empfindet, dann ist alles vorbei, dann kann man sich genauso gut einen Strick nehmen und in den Wald gehen, fand Gustaf, dann hat man sein Leben verwirkt.
Auch Rocko hatte sein Leben verwirkt. Seit Gustaf ihn kannte, hatte er im Stall gestanden, gefressen und mit seinen Hufen auf den Boden gestampft. Sonst nichts. Er hatte den Zeitpunkt verpasst, fliegend zu sterben. Und jetzt lag er hier und ließ sich zerhacken wie Brennholz, und Gustaf dachte an die Schwärze.
Da kreischte das Stalltor.
»Raus!«, brüllte Gustaf.
Rosa blieb stehen.
»Geh zu deinem Mann! Und hör auf, dich nachts im Stall rumzutreiben, oder willst du, dass er mir den Arm bricht, wie er es mit dem alten Stallknecht gemacht hat? Willst du, dass er mich umbringt? Und wer hackt mich dann in Stücke? Du?«
»Was …«
Rosa wusste nicht weiter.
»Raus!«
Und sie ging, und zurück kam ihr Mann.
»Wie redest du mit meiner Frau?«
»Gehört sie jetzt dir?«
»Was redest du da?«
»Robello hatte recht«, sagte Gustaf, hob die Axt und schlug sie zwischen Rockos Rippen, er stürmte an dem Mann vorbei und stieß das Stalltor auf, so fest, dass die Eiszapfen vom Vordach krachten und auf dem gefrorenen Boden in tausende Teile zersplitterten, und dort stand er, mit pochendem Herzen, bis die Krähe ihn in den Wald rief.