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Im Hinausgehen

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11.10.2013
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Im Hinausgehen

Beim Ausräumen der Regale fällt mir das kleine Schwarzweißphoto in die Hände. An den Rändern wie von vorsichtigen Mäusezähnen angeknabbert, strahlt es diesen Reiz aus, den nur alte Photos besitzen: ein Blick in eine andere Zeit, einen vergangenen Raum, etwas Verlorenes. Eine ernste junge Frau ist darauf zu sehen, das Haar zurückgebunden und ihr Gesicht dem Betrachter völlig preisgegeben. Sie ist schön, aber ihr Blick seltsam fern. Ein fein ziselierter orientalischer Ohrring schmückt sie, so dass es wirkt, als sei das Photo eigentlich nur um seinetwillen gemacht worden. Sie scheint ganz in seinen Schatten zurückzutreten. Die Frau ist meine Mutter. Als sie noch nicht Mutter war und eine andere Existenz hatte als die, die wir Kinder ihr später gaben. Hat mein Vater dieses Bild gemacht, hat er sie so gesehen? Wird irgendwann in den 60gern gewesen sein. Ich muss das Photo vor einer Ewigkeit zwischen die Bücher gesteckt und dann vergessen haben.
Eigentlich wollte ich nur schnell fertig werden, ich konnte es noch nie leiden zu packen, aber der Umzug musste nun mal gemacht werden. Die Zeit drängte, mich hielt nichts mehr hier in diesem Haus, in dem ich die letzten 17 Jahre mit Rainer gelebt hatte. Sich zu trennen heißt, dass in einem selbst etwas für immer stirbt. Klingt ziemlich melodramatisch. Wissenschaftler wollen sogar herausgefunden haben, dass Leute, die eine gescheiterte Ehe hinter sich haben nie mehr wirklich glücklich werden, auch, wenn sie neue Partner finden. Eine irreparable Erfahrung. Tolle Aussichten. Genauso wie solche gutgemeinten Ratschläge, dass man sich nicht im Winter trennen soll. Und schon gar nicht vor Weihnachten. Auf keinen Fall! Ich versuche also die penetrante Weihnachtsdekoration auf der Straße zu ignorieren. Wo ist die nächste Kiste.
Rainer hatte sich rücksichtsvoll für zwei Wochen aus dem Staub gemacht und wenn er wiederkommt, soll nichts mehr an mich erinnern. Zumindest wollte ich das so, keine Spuren hinterlassen, als sei ich nie dagewesen. Also packte ich, schmiss wahllos weg und warf anderes in die Mäuler gleichgültiger Kartons. Mühte mich damit ab unsere Leben auseinanderzureißen, auseinanderzupflücken, auseinanderzuklauben. Auseinander. Dabei war es eigentlich vielmehr ein Auseinandergleiten gewesen. Ohne Hast. Irgendwo hinter den Gedanken spüre ich weit entfernt, wie ein Echo von etwas anderem Traurigkeit, Müdigkeit. Aber wenn ich ehrlich sein soll, dann weiß ich grad nicht wie sich Traurigkeit wirklich anfühlt. Es ist mehr so, als ahnte ich, dass dieses Gefühl in so einem Moment halt da sein muss. Müsste.
Das Photo hat mich ausgebremst. Ich stelle es auf die Fensterbank, wo die heißen Luftströme der Heizung vorgaukeln, dass das Gesicht sich bewegt. Meine Mutter, das unbekannte Wesen, denke ich ironisch. Was weiß ich schon von ihr? Was wissen Kinder von ihren Müttern? Sie war ein Kriegskind, wuchs ohne Vater auf. Der blieb verschollen irgendwo im Russischen, während sich meine Großmutter aus Schlesien mit ihren vier Kindern aufmachte in eine ungewisse Zukunft. Viel war es nicht, was wir erfuhren, höchstens, dass sie als Baby nie die Brust wollte und ihre Mutter im Luftschutzbunker fast verzweifelt ist deswegen. Nur wenn sie von den Hamstergängen aufs Land erzählte, wo sie zusammen mit den Geschwistern die Reste der Steckrüben und Kartoffeln aus der harten Erde gruben, leuchteten die Augen meiner sonst so beherrschten Mutter. Mit großen Entbehrungen und Gewalt wie viele andre Kriegskinder konnte sie jedenfalls nicht aufwarten. Wir fanden das früher immer langweilig, Freunde hatten da Aufregenderes zu erzählen. Von Großvätern, die wochenlang barfuß nach Hause liefen oder in Kriegsgefangenschaft waren. Von Hunger und Entbehrungen, von Toten. Aber meine Mutter wollte selten erzählen, eigentlich schwieg sie sich eher aus, wie das damals alles war. Überhaupt dieses Schweigen... Ich werfe ein Buch mit lautem Krachen in einen Karton: Warum muss ich auch dieses blöde Bild finden? Einmal eine Lücke im Schutz und schon bricht der Damm im Hirn, Gedanken entladen sich, purzeln aus ihrem Kopfgefängnis und sind wohl froh endlich mal wieder an die frische Luft zu kommen. Ich versuche dem Ansturm zu trotzen und packe stur weiter.
Mutters Schweigen war ein Raum, in den sie sich zurückzog, ein Raum, der nur ihr gehörte und wohin ihr niemand folgen konnte. Dabei war sie nicht hart oder bitter, sondern eben einfach nur ‚dort’. Nicht nur ein innerer Zustand, eher war ‚es’ deutlich anwesend, fast wie eine weitere Person, die freundlich grüßend den Hut lüpft, wenn sie hereinkommt. Wir Kinder waren eifersüchtig und entwickelten ausgefeilte Strategien, damit umzugehen. Meine Schwester ignorierte es einfach und hüpfte schon als Kind in ihren eigenen Raum, zückte die weiße Fahne und verschwand auf unbestimmte Zeit. Ein zartes Persönchen, das kein Wässerlein trüben konnte wie es schien. Sie machte das mit sich aus – tut es immer noch. Denn sie ist einfach irgendwann gar nicht mehr herausgekommen. Mein Bruder brüllte dagegen an, laut, lauter, am lautesten. Und schlug auf alles ein, was er zu fassen bekam. Meistens war ich das. Problemkind würde man heute vielleicht sagen aber damals war das eben so und Schluss.
Ich hab auch gebrüllt, aber der Platz war ja schon belegt, also musste ich mir was anderes einfallen lassen. Umschmeicheln war meine Taktik, ich wollte die Mutter herauslocken durch Komplizenschaft, wenn sie sich wieder ein Kleid gekauft hatte, ohne dass es der Vater wusste. Oder indem ich als einzige zuhörte, wenn sie sang, auch, wenn mein Trommelfell bei den hohen reinen Tönen immer zu vibrieren anfing. Mein Vater nahm das alles klaglos hin, so schien es, Flucht war die Methode. Er arbeitete, war viel unterwegs und häufig wochenlang nicht da, während meine Mutter das Zuhause allein geschmissen hat. Wie sie so vieles immer allein machen musste. Als Jugendliche kümmerte sie sich um ihre Geschwister, wenn die Mutter arbeiten musste, hat diese später allein gepflegt, als sie im Sterben lag, hat uns drei Kinder allein geboren und großgezogen. Und wenn mein Vater nachhause kam und sich alles um ihn zu drehen hatte, funktionierte sie. Meistens jedenfalls. Aber Männer wie er haben immer Schlupflöcher und immer gibt es da andere Frauen, die sich um ihn kümmern und über seine Scherze lachen.
Ich hab keine Lust mehr zum Packen. Soll Rainer alles behalten, was will ich mit all diesen Hälften unseres Lebens? Das Telefon reißt mich aus den Gedanken, aber es ist nur die philippinische Putzfrau, die fragt, wann sie denn jetzt anfangen soll. Aha, Rainer hat sich eine Putzfrau organisiert? Ich erinnere mich an die ewigen Diskussionen mit ihm über die Ausbeutung der Arbeiterklasse und dass wir einer Putzfrau mindestens 30 Euro die Stunde zahlen müssten, um einigermaßen fair zu sein. Rainer hatte immer solche Ideale und dafür hab ich ihn geliebt, dafür, dass er so unpraktisch war und so versponnen, wie aus einer anderen Zeit. Ich sage ihr, sie könne in vier Tagen anfangen, morgens um 8 Uhr. Das wird ihn ärgern, so früh, aber diesen kleinen inneren Reichsparteitag gönne ich mir. Auch, wenn ich weit davon entfernt bin, Rainer böse zu sein. Ich mochte ihn vom ersten Moment an, als ich ihn sah.
Wir hatten uns bei einer Freundin kennengelernt, um genau zu sein in der Warteschlange zum Klo. Uns war das immer peinlich, deswegen haben wir das nie erzählt. Ich erfand eine andere Geschichte, die alle glaubten und irgendwann hörte ich wie Rainer sie erzählte, als ob es genau so gewesen wäre. Es war ein stilles Abkommen, etwas, das uns verband. Ich mochte die Art wie er beim Reden gestikuliert, was so untypisch für deutsche Männer ist, die zwei kleinen vertikalen Falten an seinem Mund, sein Blick, wenn er sich auf etwas konzentriert. Diese Präsenz im Moment habe ich immer bewundert. Am Anfang war ich eines dieser Objekte, auf die er sich voll und ganz konzentrierte. Später ließ das nach, aber mich störte das nicht, jetzt konnte ich ihn besser sehen und war neugierig, ihn kennenzulernen.
Entnervt haue ich die Kartons zu und verfange mich in einem Kampf mit dem Klebeband. Das Klebeband verliert und landet in einer Ecke. Am liebsten würde ich nur mit zwei Koffern gehen. So wie ich damals bei Rainer eingezogen bin. Alles zurück auf Anfang. Dieses Haus war immer seins, nie meins. Oder unseres. Ich war hier nur Gast. Unwillig schaue ich wieder auf das Bild meiner Mutter, das immer noch von der Heizungsluft umwabert wird. Zumindest hat sie es warm. Zeit ihres Lebens hat sie leicht gefroren und immer darauf geachtet, dass wir alle warme Füße haben – der größte Liebesbeweis, dessen sie fähig war. War das kühle Schweigen die einzige Möglichkeit zu überleben? Meine jedenfalls war, irgendwann zu gehen. Ich hatte einen Sprachkurs in Italien gemacht und bin einfach nicht mehr nach Hause zurück. Vielleicht dachte ich ja noch, irgendjemand würde darüber traurig sein. Meine Mutter aber lächelte nur und sagte etwas komplett Belangloses und als sie mal zu Besuch kam, war es lediglich die Farbe des alten Teppichbodens, die ihr auffiel.
Wie habe ich meine Freundinnen immer beneidet, bei denen sämtliche Kindstalente immer als Familienereignis gefeiert wurden. Die Mütter dieser Mädchen standen parat, wenn das Abiturzeugnis überreicht wurde, die Führerscheinprüfung bestanden war oder es eine Theatervorführung gab. Sie klatschten, jubelten oder litten mit ihren Kindern, ihr Universum. Dafür beneideten Freunde mich immer darum, dass meine Mutter sich nirgendwo einmischte. Die bekamen Ärger, wenn sie zu Partys gingen, ich nie. Dass ich das nicht ausgenutzt habe, ist ja niemandes Schuld, ich ging selten irgendwohin. Lieber verkroch ich mich mit meinen Geschwistern zuhause, als warteten wir auf etwas und plötzlich war ich 20.
Ich ärgere mich über mich selbst. Wieso muss der ganze Mist gerade jetzt wieder hochkommen? Schnee von vorvorgestern. Ich stiefele ins Bad, fege meine spartanischen Toilettenutensilien ins Necessaire: Bürste, da sind noch Haare von Rainer dran, Parfüm, halbleerer Puder, Tampons... eine Freundin erzählte mir mal, wie ihre Mutter und sie ihre erste Regel gefeiert haben. Nur sie zwei. Ihre Mutter hatte ein kleines besonderes Ritual vorbereitet, mit dem sie die Tochter feierte und in der Welt der Frauen willkommen hieß. Mir erschien das damals ziemlich idiotisch, flüchtete mich in Sarkasmus wie so oft - aber eigentlich sollten alle Mütter verpflichtet sein, so etwas mit ihren Töchtern zu machen. Ich glaube, meine Mutter hat einfach weiter im Kochtopf gerührt und nur genickt, als ich mit der Neuigkeit kam. Dabei war das für mich damals so irre wichtig, denn alle in der Klasse hatten schon die Regel und nur ich war noch das ewige Kind, das von den anderen Mädchen gönnerhaft bemitleidet wurde. Immerhin hat mich meine Mutter dann in Schutz genommen, als mein Vater wie gewöhnlich raufen und mir in den Bauch treten wollte. Da hat sie ihn aufgeklärt, ganz sachlich. Und ich wäre am liebsten vor Scham im Boden versunken, weil ich in diesem Moment einfach nur Kind sein wollte und raufen. Das war dann natürlich ab da vorbei und mein Vater schaute mich mit fremden Augen an.
Ich werfe die Tampons in den Mülleimer, wer weiß, ob ich sie überhaupt noch brauche, es ist schon länger her, dass ich die letzte Blutung hatte. Und mit Ende vierzig ist die Auswahl wohl nicht so groß, was das bedeutet. Müsste ich darüber jetzt traurig sein? Dieses Bad ist vermint und ich flüchte hinaus, überschaue die paar Kartons, die Koffer. Draußen schneit es. Den kleinen verlotterten Garten, für den nie jemand Zeit fand mochte ich immer. Das Weiß legt sich sanft über das braune Gras, die struppigen Bäume und Sträucher und bedeckt ihre herbstliche Blöße. Jetzt kommt er doch noch, der Kloß im Hals.
Dass ich mich hier nie zuhause gefühlt habe, war nicht Rainers Schuld. Er hat sich anfangs noch Mühe gegeben, mit mir zusammen renoviert, mein Zimmer eingerichtet, alle Möbel umgestellt, damit zumindest der Anschein gewahrt wird, wir gestalten uns gemeinsam das Haus. Das er von seiner Familie geerbt hat. Überhaupt Rainers Familie, wie Pech und Schwefel. Ich hab ihn immer darum beneidet um diese Familie, die waren alle so nett, hielten zusammen, trafen sich regelmäßig. Später fand ich es nur noch nervig, wie Rainer mit aller Macht versuchte, die Familientabus und die ganzen Lügen, die es eben wie in jeder Familie gibt zu verdrängen und abzuleugnen. An dem lupenreinen Bild durfte niemand rütteln. Und ich ganz besonders nicht, der ich ja keinerlei Erfahrungswerte mitbrachte wie das ist, eine tolle Familie zu haben. Ich am allerwenigsten. Der ich mit den meinen schon seit ewigen Zeiten keinen Kontakt mehr hatte und unbehaust durch die Weltgeschichte trabte. Meine Familie war ein implodierter Stern, niemand hat’s gemerkt, dass plötzlich keiner mehr da war. Das Schweigen meiner Mutter hatte uns alle klammheimlich infiziert und uns mit größerer Sprengkraft auseinandergetrieben als das irgendeine Gewalttat hätte tun können. Es war nicht die ungeschickte, manchmal grobe Art meines Vaters wie ich lange angenommen hatte, es war ihr Rückzug, der auch alle anderen sprachlos gemacht hat. Sie hatte den Krieg mit nach Hause genommen und bei uns aufs Sofa gesetzt.
Ich gehe raus, forme einen Schneeball und pfeffere ihn an die Hauswand. Ein kleiner weißer Fleck bleibt am Putz kleben, der Rest kleckert auf den Boden. Ich bin Rainer nicht böse, dass er am Ende nur noch brüllte. Unserer Ehe den Gnadenstoß zu geben, war immerhin ehrlicher, als uns ganz aufzugeben und wie Zombies nebeneinander herzukriechen, bis die Kisten zugenagelt werden. Am Anfang hat er sich noch gewehrt und aufbegehrt. Gegen mein Fremdsein bei ihm. Er wollte immer alles von mir. Sex, gemeinsame Aktivitäten, Urlaube, Gespräche. Und ich bemühte mich, ihm hinterherzukommen. Aber das alles konnte irgendwann nicht mehr verdecken, dass wir füreinander taub waren. Oder haben wir uns überhaupt jemals zugehört? Aber vielleicht passiert das, wenn man lange zusammen und nicht achtsam ist. So etwas lernt man nicht in der Schule. Das Einzige, was Rainer erreicht hat, war, dass auch ich diesen Raum nun entdeckt habe. Wie ein Uterus nimmt mich das Schweigen auf, ein Bollwerk gegen die da draußen. Mächtig. Hilflos.
Wobei ich die Methode sozusagen noch weiterentwickelt habe und ihr ein Gewürz hinzufügte: Trotz. Ein wasserdichter Schutzanzug, Neopren ist nichts dagegen. Zusammen mit dem Schweigen ist es eine hermetische Wand. Bei meiner Mutter versteckte sich das Schweigen oft hinter belanglosen Äußerungen, manchmal sogar richtigem Geplapper oder auch nur einem vagen zerstreuten Nicken, wenn man etwas erzählte. Dann hätte ich sie am liebsten gerüttelt, sie angeschrien. Jetzt weiß ich, dass sie sprechend schwieg, weil sie nicht anders konnte und es süchtig macht. Ich erinnere mich wie meine Eltern stritten. Ganz früher, bevor mein Vater anfing als Vertreter zu reisen. Wir Kinder haben uns dann immer unter dem Küchentisch verkrochen. Es war beängstigend. Aber gleichzeitig auch faszinierend. Was würde geschehen? Die laute Stimme meines Vaters zerschellte an der Wand, aber sonst war nichts. Und meine Mutter ging ‚danach’ meist in die Küche, um uns das Abendessen zu machen. Später stritt mein Vater nicht mehr, ich weiß nicht mehr genau, wann er damit aufhörte. Jetzt weiß ich wie sich das anfühlt, wenn die anderen immer mehr reden, immer lauter und man selbst sitzt reglos. Was wäre, wenn sie auch schwiegen? Also richtig schweigen mit dem Herzen, nicht aus Wut. Säßen dann alle allein in ihren Bunkern oder – würde dann in der Stille plötzlich so etwas wie Nähe möglich sein? Hätte man dann plötzlich Ohren, um den anderen zu erlauschen? Vor mir plumpst eine Ladung Schnee von einem Ast, der nun, befreit von seiner Last fröhlich nach oben schnellt. Eine Krähe, die den Schneesturz ausgelöst hatte, beschwert sich krächzend und sucht sich beleidigt einen anderen Sitzplatz. Eine Welle von Zärtlichkeit flutet meinen Körper. Die da draußen sind und brüllen, ahnen nicht wie still es da drinnen sein kann. Und wie dunkel.
Vielleicht sollte ich meine Mutter mal wieder besuchen, jünger wird sie ja schließlich auch nicht. Vielleicht ist ja jetzt der richtige Moment dafür. Nach dem ganzen Feiertagsstress. Den ich nicht haben werde, weil ich diese Tage einfach allein sein will. Es hat mich große Überwindung gekostet, mich nicht irgendwo einzuladen, aber das wäre nur ein Aufschieben von etwas. Und ich will nichts mehr aufschieben. Ich muss mich herausschälen aus diesem Raum und das erfordert meine ganze Kraft. Rainer wird bei seiner Familie sein, das ist gut so. Ich freue mich, ihn aufgehoben zu wissen. Er hielt es nie gut aus allein zu sein. Sicher findet er bald eine Frau, die sich um ihn kümmert und über seine komplizierten Schachtelwitze lacht und die seine manchmal etwas verknöcherte Ernsthaftigkeit genauso mag wie ich sie mochte.
Ich schüttele mich wie ein Hund, es ist kalt und ich habe keine Jacke an. Die Nachbarn grüßen schnell herüber und gehen hastig weiter, als hätte ich eine ansteckende Krankheit. Sie haben wohl bemerkt, dass hier im Haus etwas zu Ende geht. Und reagieren wie alle, die damit in Berührung kommen: Man hält sich noch enger umschlungen und hofft, dass die nächsten, die es trifft andere sein mögen. Ich klopfe den Schnee von den Stiefeln und gehe hinein. Ich habe hier nichts mehr zu tun, meine neue Wohnung wartet. Klein aber gemütlich, meine Wohnung. Ich werde das Sich-Zuhause-Fühlen endlich lernen, ganz langsam in meiner eigenen Zeit ohne Zerren und Ziehen von draußen. Und wenn ich satt bin von der Stille, werde ich weitersehen. Ich stopfe das Bild meiner Mutter in meine Handtasche. Die Kisten und die Koffer sind schnell ins Auto gepackt. Ich hinterlasse Rainer ein paar Zeilen und lege den Hausschlüssel auf den Küchentisch, der nun nicht mehr meiner ist.

 

Das Schweigen meiner Mutter hatte uns alle klammheimlich infiziert und uns mit größerer Sprengkraft auseinandergetrieben[,] als das irgendeine Gewalttat hätte tun können. Es war nicht die ungeschickte, manchmal grobe Art meines Vaters[,] wie ich lange angenommen hatte, es war ihr Rückzug, der auch alle anderen sprachlos gemacht hat. Sie hatte den Krieg mit nach Hause genommen und bei uns aufs Sofa gesetzt.

Ja, es ist eine unaufgeregt erzählte Geschichte im Rückblick auf die Nachkriegsgeneration, der ich auch angehör,

liebe Caju –

und damit erst einmal herzlich willkommen hierort!, -

wo das Schweigen gang und gäbe war, eine Zeit, die erst im Übergang vom Adenauer-Regime zum Sozialdemokratischen Zeitalter zu Ende ging (Ära Erhardt und Große Koalition, mit dem ehem. Nazi Kiesinger als Kanzler) mit einem festen, konservativen Frauenbild, das erst Anfang der 1970-er Jahre sich wandelte. Da wurd nicht viel über die Vergangenheit erzählt (wobei es auch da Ausnahmen gibt, einerseits, weil einer ganzen Generation die Jugend geklaut wurde und dann die Zunge überlief, andererseits, weil vieles beschönigt und verharmlost wurde, man denke nur daran, welches Aufsehen die Wehrmachtausstellung zur Jahrtausendwende noch erregte).

Den Wirrungen der Nachkriegsgeneration korrespondieren in der Geschichte Probleme zu Friedenszeiten nicht nur im partnerschaftlichen Zusammenleben, dass die Geschichte insgesamt von Trennung erzählt. Ich neig dazu, das

Auseinander…
in all seinen Variationen für den Kern der Geschichte zu halten. Was auch immer jetzt gleich kommt, die Geschichte gefällt mir. Bei der stattlichen Länge für einen Erstling (zumindest hier vor Ort) wäre es verwunderlich, wenn's nix zu mäkeln gäbe. Und das ist die Zeichensetzung (siehe schon oben im Eingangszitat). Ich führ jetzt auch nicht alles auf, sondern nur den jeweils ersten Auftritt (mit Ausnahme des Zitates oben), denn i. d. R. wiederholen sie sich.

An sich eine Beifügung, bei der die Wahlfreiheit Komma oder nicht gegeben ist. Wenn aber eines schon am Ende des Einschubs gegeben wird, gehört auch eines an den Anfang, wie hier

An den Rändern[,] wie von vorsichtigen Mäusezähnen angeknabbert, strahlt es diesen Reiz aus, den nur alte Photos besitzen:
Widerfährt Dir in wie-Konstruktionen häufig.

Zwischen gleichrangigen Adjektiven (kurz: Aufzählung), ist ein Komma zu setzen

Eine ernste[,] junge Frau ist …

…, dass Leute, die eine gescheiterte Ehe hinter sich haben[,] nie mehr wirklich glücklich werden, …
Wie alles im Leben haben auch Relativsätze Anfang und Ende (Flüchtigkeit?, wie vllt. schon weiter oben ...)

Mühte mich damit ab[,] unsere Leben auseinanderzureißen, …
Gilt dann auch für Infinitivsätze, wie diesen hier. Die Rechtschreibreform hat sich da keinen Gefallen getan, die Infinitivgruppen mit der kann-Regelung beglückt zu haben, denn der stehen ungezählte Fallen von Ausnahmen gegenüber, die muss-Regelungen sind, wie etwa hier.

…, aber diesen kleinen[,] inneren Reichsparteitag gönne ich mir.
s. o., wobei dieses "kleine" auch als abhängig vom "inneren" angesehen werden kann, denn wer wollte ausschließen, dass es nicht auch "große innere" Reichsparteitage gäbe? Ich nicht!
Aber Du hast gelegentlich einen Hang zur Kombination "klein + (anderm) Adjektiv"

Die Liste wäre an sich viel länger als dargestellt, aber ich denk, dass Du ein eigenes Interesse daran hast, die Kommata zu bereinigen. Und - ich lauf nicht weg ... und weiter im Programm:

Überhaupt dieses Schweigen...
Leertaste zwischen dem letzten Buchstaben des vorhergehenden Wortes und den Auslassungspunkten. Wie hier wird eigentlich angezeigt, dass vom vorhergehenden Wort ein oder (mehrere) Buchstabe(n) fehlt(fehlen).

… und ihre Mutter im Luftschutzbunker fast verzweifelt ist deswegen.
Hier braucht es keiner zusammengesetzten Form, einfach „verzweifelte“, das ja sogar die Tür zum Konjunktiv offenlässt, weil der Satz ja nur ein „fast“, somit eine gerade mal nicht signalisiert. Wie gesagt, gelegentlich wäre der Konjunktiv besser angebracht als der Indikativ, wie hier in jedem Fall z. B. statt
… vorgaukeln, dass das Gesicht sich bewegt.
Hier besser Konjunktiv „sich bewege“, besser sogar Konj. II „bewegte“ ('s ist halt eine Täuschung).

Nun will ich Dich nicht weiter Quälen, aber die Frage stell ich dann doch noch

Die Frau ist meine Mutter.
Kann eine Abbildung eine Mutter sein? Und wenn ja, zeigt das schwarzweiß Foto nicht eher wie die (abgebildete) Mutter einmal war?

Genug für heute vom

Friedel,
der noch ein schönes Restwochenende wünscht!

 

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