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Im Herzen des Waldes
Das kleine Holzhaus liegt einsam, umgeben von hohen Tannen und festem Dickicht. Ein riesiger Mond ist aufgegangen. Klänge der Nacht dringen aus den Tiefen des Waldes.
Das Feuer im Kamin hält die Dunkelheit fern. Flammen nagen sich durch dicke Scheite und lassen es knistern und knacken. Eine kleine Explosion. Dann Funkenflug.
Der alte Holzfäller ist mit seinem Schemel dicht an den Kamin gerückt. Schwermütig stiert er in die Flammen und beobachtet deren Tänze.
Seine Frau, von einem einfachen Nachtgewand bedeckt, steht am Fenster und blickt hinaus in die finsterste Nacht.
Kälte zieht durch das offene Fenster herein, doch sie kann denn Blick nicht lassen.
„Was tust du da?“, brummt der Holzfäller.
Sie antwortet nicht gleich, legt nur den Kopf zur Seite. Ihre Augen gehen suchend umher.
„Kannst du es denn nicht sehen?“, flüstert sie verträumt.
„Was soll ich sehen?“
„Es ist dort draußen. Es läuft mit dem Wind und heult mit den Wölfen“, säuselt sie fasziniert, „Es kommt hier her!“
„Was redest du nur!“, grummelt er.
Sie ringt sich ein kaum spürbares Lächeln ab und wendet sich wieder dem Dunkel zu.
Kopfschüttelnd rückt der Holzfäller noch etwas näher an das Feuer heran. Schatten zucken an den Wänden. Er faltet die Hände unter dem Kinn. Sein Atem geht ruhig. Er schließt die Augen und redet sich ein, dass er nur tat, was er tun musste. Gedankenverloren legt der Holzfäller einen Scheit nach. Das Feuer ist hungrig.
„Nein, Vater“, fleht der kleine Junge und krallt sich in den Arm des Holzfällers, „bitte nicht. Bitte Vater!“
Das Schwesterchen des Jungen steht daneben, die Hände vors Gesicht geschlagen. Tränen rinnen zwischen den kleinen Fingern hervor. Wie Regen treffen sie auf das dichte Moos zu ihren Füßen. Der Holzfäller stößt seinen Sohn von sich.
„Es muss sein“, klagt er seinen Kindern entgegen, „ihr könnt nicht mehr bleiben!“
„Mutter ...“, schluchzt das Mädchen.
„Bitte, Vater. Lass uns nicht alleine!“, schreit der Junge.
Knarzend biegen sich die Tannen im Sturm. Ein unerbittlicher Wind treibt Blattwerk und Geäst durch den Wald. In grauen Wolken toben gleißende Blitze. Die Natur schickt ihre Dämonen.
Der Holzfäller drückt dem Jungen einen Jutesack, gefüllt mit etwas Brot, in die Hände.
„Nehmt und lauft. Kommt nie wieder!“, befiehlt er.
„Vater, nein!“, ruft der Junge und geht auf den Holzfäller zu.
„Verschwindet!“, brüllt er und hebt seine Axt hoch über seinen Kopf.
Ein wütender Donner rollt über sie hinweg. Erschrocken weicht der Junge zurück, starrt auf die dicke Klinge und stellt sich vor sein weinendes Schwesterchen.
Zitternd hält der Holzfäller das Beil in der Hand. Ihm wird kalt ums Herz und er bebt am ganzen Körper. Er verliert den Kampf gegen die Tränen.
„Vergebt mir“, stöhnt er.
Der Holzfäller lässt die Axt sinken, dreht sich um und rennt davon.
„Vater!“, ruft ihm der Junge noch einmal nach.
Doch der Holzfäller rennt und rennt und sieht sich nicht noch einmal um. Der Sturm folgt ihm und das Wehklagen seiner Kinder, fällt der Raserei des Windes zum Opfer. Über ihm das Rauschen der Tannen. Sie stellen sich ihm in den Weg, versuchen ihn zu Fall zu bringen. Doch der Holzfäller entkommt und verschwindet schon bald hinter massivem Dickicht.
Der Junge packt das Mädchen an der Hand. Ein Blitz fährt herab. Die Tannen krümmen sich und biegen sich herab, als wollten sie nach den Kinderlein greifen. Der Boden bricht auf und Wurzeln quellen ans Tageslicht.
„Lass nicht los!“, befiehlt der Junge.
Die Kinder laufen davon. Der Himmel versinkt in Dunkelheit. Schwerer Regen fällt herab. Der Leibhaftige selbst geht umher.
„Schneller!“, ruft er und sieht sich nach einem Unterschlupf um.
Sie erreichen einen großen, verästelten Baum, in dessen Stamm die Zeit eine tiefe Wurzelhöhle gegraben hat.
„Da hinein!“, keucht er.
Getrieben kriechen die Kinder nacheinander in das tiefe Holz. Finsternis legt sich über den Wald. Der Junge umklammert schützend sein bebendes Schwesterchen.
„Mach die Augen zu“, flüstert er.
Die Nacht bricht herein. Eng umschlungen liegen die Kinder beisammen, während der Wind um ihre Höhle braust und der Regen gegen den Stamm des Baumes peitscht.
Der Holzfäller reißt die Türe auf und betritt die Hütte. Für einen Moment lässt er die Nacht mit hinein. Ein Windstoß macht sich auf, die Kerzen im Hause aus zu blasen. Er schließt die Türe und legt den Riegel vor. Sein Beil fällt achtlos neben ihm zu Boden.
Seine Frau hat ihn bereits erwartet. Die Augen gerötet, das Gesicht vor Schuld zerfurcht. Wortlos setzt er sich zu ihr an den Tisch. Dann nickt er.
„Wir hatten keine Wahl“, flüstert sie.
Er sagt nichts und sieht sie auch nicht an. Beschämt lauscht der Holzfäller dem Donner und dem Regen und fleht dabei im Stillen, dass dieser höllische Sturm endlich vergeht.
Morgendlicher, dichter Nebel hat den Wald unterwandert und glitzernd ruht auch noch der Tau in den Bäumen.
Frierend liegen Bruder und Schwester im Schutze des Baumes beieinander. Ein Geräusch weckt den Jungen aus seinem unruhigen Schlaf. Er richtet sich auf und schlingt die Arme um sich. Die Kälte hat sich wie eine Krankheit in ihm ausgebreitet. Das Mädchen liegt zitternd neben ihm, doch Traumbilder halten es noch immer feste in ihrer Gewalt. Stumm bewegen sich die Lippen. Das Haar liegt nass über dem Gesicht.
Der Junge tastet nach dem Jutesack. Das Brot darin, nass und aufgeweicht. Es zerfällt zwischen seinen kleinen Fingern. Der Hunger kneift den Jungen von innen und treibt ihn aus dem Unterschlupf ins Freie.
Der Sturm hat den Wald verwandelt, ihn verbogen und verstümmelt. Mit Gewalt genommene Zweige, zerbrechen unter den Schritten des Jungen. Der Schrei einer Eule hallt als Echo durch die vernebelte Flur. Er sieht sich um, doch der Weg zurück zeigt sich nicht mehr.
Die Suche nach etwas Essbarem, zwingt den Jungen schließlich fort von der sicheren Höhle. Nass, kalt und schwer liegt ihm die Kleidung auf der Haut. Sehnsüchtig blickt er gen Himmel, doch die Sonne zeigt sich nur als blassgelber Teich hinter einem grauem Wolkenhimmel.
Ein plötzliches Rascheln hinter einem Strauch lässt den Jungen zusammenfahren. Dann ein Schnappen, gefolgt von gierigem Zupfen und das Geräusch schlagender Flügel.
Der Junge nähert sich dem Treiben mit Bedacht. Vorsichtig drückt er die Zweige zur Seite. Ein verwirrter, krächzender Schrei lässt das Kind erneut zusammenzucken. Wie eine dunkle Blüte entfaltet sich vor dem Jungen ein riesiges Flügelpaar und gibt den schwarzen Vogel, den Raben, preis. Das Federkleid, finster wie Kohle und mit Augen so rot wie Glut.
Der Junge weicht zurück. Der Rabe mustert ihn mit starrem und durchdringendem Blick. Dann aber senkt er seinen Kopf und widmet sich einem düsteren Mahl. Der Schnabel des Vogels gräbt sich tief zurück in einen toten Artgenossen. Der Rabe zieht seine Krallen zu und umschließt den zerfetzten Kadaver. Schmatzend trennt er das Fleisch von den Knochen und schlingt es gierig herunter. Ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit überkommt den Jungen, während er das vom Hunger verwirrte Tier bei seiner unnatürlichen Speise beobachtet.
„Was siehst du denn da?“, ruft das Mädchen.
Der Junge fährt herum. Sein Schwesterchen ist ihm gefolgt. Schlaftrunken und frierend steht es vor ihm.
„Nichts!“, antwortet er, lässt das kranke Tier allein und geht dem Mädchen entgegen, „Komm mit!“
Sie flüchten vor diesem verfluchten Moment. Der Nebel zieht sich weiter zu und raubt den Kindern jegliche Orientierung. Der Junge will das Mädchen zurück zur Höhle führen, doch sie scheint unauffindbar.
„Wo ist unser Baum?“, fragt sie.
„Ich weiß nicht.“
Knackende Zweige und verstohlenes Geflatter begleiten die Kinder auf ihrer Suche. Ungesehenes scheint sich aus dem Nebel einen Weg zu ihnen zu bahnen.
„Komm!“, ruft er und geht los.
„Wohin gehen wir?“
„Wir gehen einfach!“
Sie machen sich auf. Tiefer und immer tiefer zieht es die beiden Kinder in den ewigen Wald. Die Stunden vergehen. Die Tannen werden älter. Der Boden wird rauer und das Laufen beschwerlicher. Ziellos irren sie umher.
Langsam lichtet sich der Nebel, doch diesen Teil des Waldes erkennen die Kinder nicht wieder. Die Umgebung ist fremd, unberührt und wild. Die Bäume erreichen hier längst schwindelerregende Höhen.
Zwischen zwei großen Felsen entspringt ein sprudelndes Bächlein. Dankbar löschen die Kinder ihren Durst. Doch der Hunger bleibt.
Unheilvolle Klänge dringen mahnend aus den Tiefen des Waldes hervor. Und es wird kälter, immer kälter. Mit jedem einzelnen Schritt.
„Ich kann nicht mehr“, ruft das Mädchen.
„Bis es dunkel wird, solange musst du schon gehen!“
Das Mädchen bleibt stehen und geht in die Hocke. Sie schlingt die Arme um sich und stiert zu Boden.
„Nein. Keinen Meter mehr möchte ich gehen“, klagt es.
„Dann bleib hier“, schimpft er laut, „und wenn der Wolf dann kommt, dann beißt er dich tot!“
Das Mädchen schließt die Augen und beginnt zu weinen. Der Hunger zermalmt weiterhin jeden klaren Gedanken und rüttelt an dem kleinen Körper.
Der Junge nähert sich seiner kleinen Schwester langsam und versucht sie zu trösten. Sie sieht nicht auf. Er geht vor ihr auf die Knie, umfasst ihre eiskalten Hände und haucht seinen warmen Atem hinein.
„Warum gaben uns Vater und Mutter fort?“, fragt sie unter Tränen.
„Ich weiß es nicht“, antwortet er blass und reibt und bläst das Leben zurück in die gefrorenen Finger.
„Es ist so kalt!“
Der Atem des Mädchens rasselt. Es hustet grob. Der Junge sieht sich um, doch die Bäume stehen zu eng, als dass sie einen Blick in den Himmel zuließen. Wassertropfen fallen aus den Tannenwipfeln herab und zerspringen als Eisklümpchen auf dem Boden.
„Komm“, befiehlt er und lädt das Mädchen ein, auf seinen Rücken zu steigen, „ich trage dich!“
Das Mädchen steigt auf und klammert sich an die Schultern des Jungen.
„Halt dich gut fest!“, fordert er und stampft los.
Das gefrorene Moos knistert unter der Last der Vertriebenen. Unbewusst beginnt die Reise ins Herz des Waldes.
Knarrend öffnet sich die Türe und der Holzfäller betritt das Zimmer seiner Kinder. Er versucht leise zu sein, dabei gibt es hier niemanden mehr, den er gedankenlos wecken könnte. Das Fenster steht weit offen und der Wind fährt in das kleine Zimmer. Die Vorhänge winden sich wie Aale in einem viel zu kleinen Tümpel.
Der Holzfäller geht durch den Raum und verschließt die Fenster. Seine Augen schweifen über die beiden leeren Betten und sein Herz, das wird ihm schwer. Müdigkeit überkommt ihn und er schleppt sich zurück. Die Tür fällt hinter ihm ins Schloss.
„Ich gehe zu Bett“, brummt er und hält dann inne.
Seine Frau hat sich von dem Fenster abgewandt. Stattdessen steht sie mit vor Angst geweiteten Augen inmitten des Raumes und starrt ihn an.
„Was ist?“, fragt er, „was stierst du denn so?“
„Hör doch!“, wispert sie.
Er lauscht, hält den Atem an. Eine eigentümliche Stille hat sich ausgebreitet. Das Pfeifen des Windes ist verstummt. Erstickt sind auch das Rauschen der Tannen und das Glucksen des Baches. Ein Frösteln schüttelt den Holzfäller. Die Brust seiner Frau hebt und senkt sich. Ihr Atem entzieht sich jeder Kontrolle.
„Ich habe es gesehen“, flüstert sie, „Bitte sag mir, dass ich schlafe.“
„Was redest du?“
„Bitte!“
Der Holzfäller geht auf seine Frau zu und packt sie an den Schultern. Ihr Gesicht verzieht sich zu einer schockierten Grimasse.
„Was? Was hast du gesehen?“, blökt er mit jähzorniger Stimme.
„Sag es mir“, fleht sie erneut, „Sag mir das ich schlafe.“
„Was du gesehen hast?“, schreit er.
Eine schwarze Wolke schiebt sich vor den Mond. Sein silbernes Licht schwindet dahin und ein tiefer Schatten legt sich über das kleine Haus, über den Wald, die Welt.
Das Knistern im Kamin wird leiser. Der Holzfäller fährt herum. Schleichend ziehen sich die Flammen zurück. Auch das Kerzenlicht vergeht. Beinahe so, als hätte jemand dem Feuer verboten, weiter zu lodern. Ein letztes, kurzes Glimmen. Dann Dunkelheit. Der Griff des Holzfällers zieht sich zu und er wendet sich wieder seiner Frau zu.
„Es ist hier“, flüstert sie benommen.
Ein milchiger Schleier liegt in der Luft. Nur hier und da stößt das Sonnenlicht wie Schwertklingen durch die gigantischen Baumwipfel. Kleine Schneeflocken tänzeln durch die Luft, fallen zu Boden und vergehen.
Zitternd trägt der Junge das Mädchen auf dem Rücken und setzt einen Fuß vor den anderen. Die Glieder des Jungen schmerzen und die kalte Luft sticht ihm in den Lungen.
„Ich habe solchen Hunger“, sagt das Mädchen.
„Halte noch etwas aus!“
Ein scheues Flüstern umgibt die Kinder. Körperlose Stimmen haben den Wald inzwischen unterwandert und locken die beiden Kinder insgeheim. Es zieht sie vorbei an mächtigen, umgestürzten Bäumen und unter gewaltigen Wurzeln hindurch.
„Schau!“, ruft das Mädchen und zeigt nach vorne in den Dunst.
Der Junge kneift die Augen zusammen, während sie weitergehen. Zwei wuchtige und bizarr wirkende Schatten zeichnen sich im Nebel ab. Sie steuern direkt darauf zu.
Sie erreichen eine kleine Lichtung. Vorsichtig nähern sich die beiden Kinder. Das Flüstern des Waldes wird stärker. Ein einziger, prächtiger Sonnenstrahl fällt herab und löst das Rätsel um die zwei Schattengebilde.
Das gewaltige Geweih des Hirsches ragt verästelt in die Lüfte. Er steht auf den Hinterbeinen, zu seiner vollen Größe aufgerichtet. Und vor ihm, zum Sprung bereit, der Wolf. Das Maul zu einem stummen Gebrüll geöffnet, die grünen Augen weit aufgerissen. Das schwarze Fell aufgestellt und stachelig. Glitzernde Eiskristalle ummanteln die beiden Erfrorenen. Erstarrt im entscheidenden Augenblick des Kampfes. Das Unvermeidbare, zum Stillstand verflucht.
„Geh runter!“, sagt der Junge.
Die Beine des Mädchens fühlen sich taub an, als es vom Rücken des Bruders herab steigt.
„Bleib dort stehen!“, befiehlt er und nähert sich dann der leblosen Szenerie.
Die Sonne bricht sich am Geweih des Hirsches und wirft ein Mosaik aus Licht und Schatten auf den Waldboden. Vorsichtig streckt der Junge die Hand aus und berührt zuerst den dämonischen Wolf. Die regungslosen Augen schimmern wie Glas. Das Fell ist rau und so kalt, das es bei Berührung schmerzt. Ehrfürchtig lässt der Junge von ihm ab. Er dreht sich um und muss den Kopf ganz in den Nacken legen, um zum Kopf des Hirsches aufsehen zu können.
Die Finger des Jungen streifen die angewinkelten Vorderläufe. Dazu bedacht, den Schädel des Wolfes zu zertrümmern.
Das Mädchen legt ihre Arme um sich. Die Kälte beißt und zwickt. Ihr Atem entweicht als weiße Wolke, steigt auf und verendet auf dem Weg gen Himmel.
Eine traurige, spürbare Leere liegt zwischen den beiden regungslosen Rivalen. Der Junge tritt nah an den Hirschen heran, stellt sich auf die Zehenspitzen und legt sein Ohr gegen dessen Brust. Ein schwaches Pochen hallt in dem eisigen Körper. Erschrocken weicht der Junge zurück, fährt herum und starrt in den erbarmungslosen Schlund des Wolfes. Eiszapfen haben sich an den funkelnden Zähnen gebildet. Die starren Augen sind direkt auf ihn gerichtet.
„Was ist denn?“, ruft das Mädchen.
„Komm. Wir müssen weiter!“
„Trägst du mich noch einmal?“
„Nein. Bewege dich. Dann wird dir warm.“
Er nimmt sie bei der Hand und führt sie an den beiden Tieren vorbei.
„Geh voraus“, fordert er, „Achte auf deine Schritte!“
Neugierig streckt das Mädchen ihre Finger nach dem Wolf aus.
„Nicht!“, mahnt er und zieht ihren Arm zurück.
„Sind sie tot?“
„Ja!“, lügt er.
Der Junge hilft dem Mädchen über einen kräftigen, herabgestürzten Ast. Sie entfernen sich. Das Licht der Sonne wird wieder weniger. Wolf und Hirsch kehren zurück in den Nebel, werden wieder zu Schatten. Ihrer Zeit beraubt und dazu verdammt, die Ewigkeit im Moment des Unausweichlichen zu verbringen.
Der Tag vergeht in weiter Ferne und die Tannenspitzen stoßen in einen dunkelblauen Himmel. Die Luft ist klar.
Die Lungen der Kinder beginnen, sich gegen die klirrend kalte Waldluft zu wehren. Die Füße schmerzen. Die Haut an den Füßen wirft Blasen und die Eingeweide krampfen sich hungrig zusammen. Hoffnung und Licht schwinden gemeinsam.
Mit gesenktem Blick geht der Junge hinter seinem Schwesterchen. Allmählich werden seine Schritte langsamer. Die Stimme in seinem Kopf lässt sich nun nicht mehr leugnen. Und die Wahrheit in ihren Worten wiegt schwer wie Blei. Sie sind Todgeweiht. Sie beschreiten eine Reise ohne Ziel. Ohne Sinn. Die Kraft wird sie verlassen und sobald sie rasten, wird sich Eis über sie legen und ihnen den Atem nehmen.
Der Junge streckt den Arm nach seiner Schwester aus. Er will es ihr sagen. Da bleibt diese plötzlich stehen und gibt ein aufgeregtes Keuchen von sich.
„Sieh doch!“, ruft sie und deutet vor sich in den Wald.
Der Junge eilt herbei und folgt ihrem Fingerzeig. In nicht allzu weiter Ferne flackert schwach und hinter dichtem Geäst, ein Lichtlein.
„Ein Feuerchen gar?“, ruft das Mädchen.
„Ihm nach!“
Die Aussicht auf Wärme treibt das Leben zurück in die starren Glieder und verleiht den beiden Kindern längst verloren geglaubte Kraft.
Das Gelände fällt ab und der Boden wird steiniger. Das Lichtlein beherrscht der Kinder Gedanken. Es ruft nach ihnen, leitet und lockt sie. Und so bemerkt das Geschwisterpaar nicht, wie sich die Umgebung um sie herum verändert. Etwas Unheimliches liegt urplötzlich im Wesen der Bäume und Pflanzen. Das Blattwerk färbt sich schwarz. Wurzeln haben sich ans Licht gegraben und das Wachstum der Bäume entzieht sich der Norm. Riesige Baumstämme verknoten sich, gehen ineinander über und verirren sich ineinander. Blind vor Eifer hasten die beiden Kinder durch die entartete Natur.
Sie gelangen schließlich an das Ufer eines kleinen Sees, umgeben von schroffen Felsen. Eine dicke, bläulich schimmernde Eisschicht liegt über dem Gewässer. Das andere Ufer jedoch gehört einem einzigen Baum allein. Staunend starren die Kinder über den See.
Ein hölzernes, unverwundbares Ungeheuer ragt vor den Kindern in den Himmel. Eine Tanne, so hoch wie der Mond. Mit Zweigen, die den Himmel bedecken und einem Stamm, mächtig genug um die Sonne am scheinen zu hindern, ihr ganzes Licht in sich aufzusaugen und nichts außer Schatten und Kälte gewähren zu lassen. Die gigantischen Wurzeln der Tanne winden sich vom anderen Ufer aus in den See, graben sich tief in die kalte Erde und schlängeln sich eisern um andere, umliegende Bäume.
Am Fuße des Baumes, verwoben mit dessen saugenden Adern, steht ein verwittertes Häuslein mit einem Dach aus Reisig. Das Lichtlein flackert verstohlen hinter den Fenstern.
Der Junge hebt einen Stein auf und wirft ihn auf den See. Er schlägt hart auf und rutscht über das Eis.
„Warte!“, sagt er und nährt sich der Eisschicht.
Zaghaft setzt er ein Bein auf das gefrorene Wasser. Ein leises Knacken, nicht mehr. Der Junge stampft mit dem Fuß auf. Das Echo hallt durch das kleine Tal.
„Komm“, ruft er dem Mädchen zu, „geh du hinter mir!“
Das Mädchen tritt über das Ufer und folgt ihm auf den See. Mit kurzen Schritten wandern sie über die schimmernde Oberfläche. Das Eis knirscht und rumort unter ihren Füßen.
„Sei vorsichtig!“, mahnt er.
„Das bin ich“, antwortet sie trotzig und setzt langsam einen Fuß vor den anderen.
Das andere Ufer nähert sich Schritt für Schritt. Der verwahrloste Zustand des Häuschens wird erkennbar. Die Wurzeln der Baumkönigin ranken sich durch den Dachstuhl.
„Schau doch!“, ruft das Mädchen und deutet auf das Eis.
Der Junge sieht an sich herab, ohne stehen zu bleiben. Zuckende, gestaltlose Schatten jagen unter dem Eis umher und verfolgen die Schritte der Kinder. Etwas Großes löst sich vom Grund des Sees, stößt von unten gegen die Eisdecke und schnellt zurück.
„Fische!“, jubelt das Mädchen.
Der Junge nickt und beschließt, sein Schwesterchen nicht vom Gegenteil überzeugen zu wollen. Was auch immer tief unter festem Eis zu atmen vermag, sie haben es geweckt.
Nach wenigen Schritten lassen sie den See schließlich hinter sich und betreten wieder unebenen Waldboden. Der Junge wirft einen Blick über die Schulter. Die sich krümmenden Gebilde unter dem Eis sind ihn bis ans Ufer gefolgt. Erst nach und nach machen sie sich wieder davon und kehren zurück in bodenlose Tiefen.
Gottgleich ragt die Tanne vor den Kindern in die Höhe. Sie recken die Hälse doch die Krone verliert sich hoch oben in weiter Dunkelheit. Dann nähern sie sich dem Häuschen.
Ein kurzer, verwilderter Pfad führt an das Häuschen heran. Unkraut wuchert kniehoch vor den niedrigen Fenstern. Der Junge klopft an die verwitterte Türe und lauscht gespannt. Nichts. Ein zweites, lauteres Klopfen bleibt ebenfalls unbeantwortet. Der Junge drückt die Klinke herunter. Die Türe ist, entgegen ihrer heruntergekommenen Erscheinung, überraschend schwer und widerspenstig. Er stemmt sie auf.
„Hallo?“, ruft er doch das Innere des Hauses scheint verlassen.
Die Augen der Kinder fallen auf das Feuerchen, das in einem Kamin am anderen Ende des Raumes vor sich hin prasselt.
„Wir haben uns im Walde verlaufen!“; stößt der Junge hervor.
Stille. Die Kinder sehen sich an. Die verlockenden Flammen machen schnell jede Vorsicht vergessen und so warten die beiden nicht länger, sondern betreten die düstere Behausung.
Drinnen ist es kaum wärmer als draußen. Der Wind pfeift schrill durch die Ritzen in den Wänden. Eilig geht das Mädchen an dem Jungen vorbei. Es läuft auf den Kamin zu, fällt vor ihm auf die Knie und streckt ihre eisigen Finger dem Feuer entgegen.
Der Junge dagegen sieht sich noch einen Augenblick um. Das Haus besteht aus einem einzigen Zimmer. Möbel gibt es keine. Auf dem Boden liegen verstreut Gegenstände unterschiedlichster Art umher. Durch zerrissene Vorhänge an den Fenstern dringt nur wenig Licht hinein. Die Bodenbretter sind an vielen Stellen durchgebrochen. Wurzeln und Gestrüpp kriechen darunter hervor.
Der Junge macht sich an, sich seinem Schwesterchen anzuschließen, als etwas seine Aufmerksamkeit erweckt. Inmitten des Raumes liegt ein alter, löchriger Umhang. Der Junge geht in die Knie.
Seine Finger berühren den dunklen, abgenutzten Stoff. Unpräzise Nähte halten den Umhang beisammen. Die Finger des Jungen ertasten darunter einen harten Gegenstand. Vorsichtig streift er den Stoff zur Seite und legt ein Gesicht frei.
Erschrocken fährt der Junge hoch. Doch haben ihm Licht und Schatten lediglich einen Streich gespielt. Das Gesicht, eine Maske aus Holz.
Vorsichtig hebt er sie auf und wendet sie im kargen Schein des Feuers. Die Maske zeigt ihm das grobe, jedoch erkennbar geschnitzte Antlitz einer Frau. Das Holz ist alt, dunkel und schwer. Ein schmaler Riss hat sich am unteren Ende aufgetan und spaltet die Maske vom Kinn bis zwischen die schmalen Augenhöhlen.
Die Vorhänge heben sich. Ein Strom kalter Waldluft trifft die Hütte und zieht ein rätselhaftes Wispern mit sich. Ein Frösteln sucht den Jungen heim. Der Hauch seines Atems trifft die Maske und wird von dem Holz in einem Zug aufgesogen. Erschrocken lässt der Junge das falsche Gesicht fallen.
„Komm ans Feuer!“, ruft das Mädchen ihm zu.
Der Junge löst sich von seinem Schreck, legt den schweren Umhang zurück über das unheimliche Abbild und eilt zu seiner Schwester.
Nach Erholung gierend, lässt auch er sich vor dem Kamin nieder. Die Kinder rücken eng zusammen und lassen sich von der wohligen Wärme einschließen. Das Feuer kettet die Geschwister an sich. Die Augenlider werden schwer.
Erschöpft und dankbar legen sich die Kinder vor dem Kamin nieder. Der Junge schließt als Erster die Augen. Das Knistern der Flammen begleitet ihn, während er rasch in die Welt des Schlafes hinabgleitet.
Im Traum zeigt sich ihm die Welt als ein Labyrinth aus Licht und Schatten. Verzerrte Stimmen und ächzende Klänge irren darin umher und finden nicht wieder hinaus. Der Wald und seine Rätsel haben sich tief in die Seele des Kindes eingenistet.
Die Nacht überschreitet ihre dunkelste Stunde, als sich die Finger des Mädchens in den Arm des Jungen graben und ihn aus dem Schlaf reißen. Benommen öffnet er die Augen.
„Was ist?“, murmelt er schlaftrunken.
„Hörst du das auch?“, flüstert sie.
„Was?“
„Jemand ist hier!“
„Was meinst du?“, fragt er und lauscht.
„Mach es mir nach“, sagt das Mädchen leise und hält den Atem an.
„Was soll das?“
Das Mädchen nickt nur und wartet darauf, dass der Bruder es ihm gleich tut. Der Junge holt tief Luft, füllt seine Lungen und blockiert dann den Atem. Er schließt die Augen, während er regungslos in den Raum hinein horcht. Schwache, jedoch kämpfende Atemzüge dringen irgendwo aus der Dunkelheit der Hütte.
Entsetzt fährt der Junge hoch und sieht sich um. Auch das Mädchen steht nun auf. Die Tür war einen Spaltbreit offen geblieben. Das wenige Mondlicht, das die Tannen zulassen, schleicht sich hinein und schneidet die Finsternis.
Unvermeidlich landen die Augen des Jungen auf den am Boden liegenden Umhang. Dort, wo er zuvor die Maske verstaut hat, hebt und senkt sich der Stoff mit jedem einzelnen der rasselnden Atemzüge. Ein knarrendes Raunen hallt aus den Tiefen des Baumriesen herab und bringt die Wände der Hütte zum Erzittern. Das Mädchen greift die starre Hand des Bruders, während sich der Umhang weiter aufbauscht.
Allmählich hebt sich das Gewand vom Boden ab, füllt sich, richtet sich auf. Unbegreifliches Leben kriecht in die Kluft. Eine dürre Hand gleitet unter dem Stoff hervor. Lange Fingernägel kratzen über den Holzboden. Unter dem Umhang entstehen hagere Schultern, knackend dehnt sich ein Brustkorb aus. Ein Kopf zeichnet sich ab und schiebt schleichend hinter die Maske. Es bildet sich eine Kapuze. Träge erhebt sich der vermummte Oberkörper.
„Sie ist es“, wimmert das Mädchen, „sie ist es ganz bestimmt.“
Die Bretter verbiegen sich unter dem Gewicht der verhüllten Gestalt. Hinter der Maske öffnen sich zwei dunkle Augen. Ein kehliges Knurren dringt unter dem Umhang hervor. Das Gesicht wendet sich den Kindern zu.
„Wir … wir wollten hier nicht eindringen“, beteuert der Junge.
Die Gestalt kommt auf sie zu. Die schweren Schritte schütten den Staub von den Wänden. Sie streckt eine Hand aus und ballt eine Faust. Schlagartig wird es kälter hinter den Kindern. Die Flammen im Kamin weichen vor ihrer Herrin. Das Knistern erlischt.
„Wir hatten keine böse Absicht“, beginnt der Junge erneut.
Schnaubend kommt der Schrecken vor den Geschwistern zum Stehen und mustert sie. Zitternd rücken die Kinder enger zusammen. Der Junge schluckt schwer.
Die Geister werden real. Die Legende selbst starrt sie aus kalten Augen an. Vor ihnen steht das Gespenst aus den Geschichten des Vaters und der Mutter. Der hungrige Teufel, der den unartigen Kindern nachsteigt. Sie ist die Nacht. Die Gefangene des Waldes. Die Hexe.
In schwindelerregenden Höhen verheddern sich heftige Winde in der Krone des Baumriesen, zerren an seinem monströsen Geäst und bringen auch die Hütte zum schwanken und knarren.
Die Hexe beugt sich tief zu den Kindern herab. Der Gestank von Fäulnis und Erde kriecht ihnen in die Nasen.
Die umherrollenden Augen der Hexe tasten die Kinder ab. Dann wendet sie sich an den Jungen.
„Du, verrate mir“, zischt sie und zeigt auf das Mädchen, „ist sie da sowohl dein Fleisch als auch dein Blut?“
Der Junge zögert die Antwort hinaus. Zu tief sitzt die Angst. Die Hexe legt den Kopf schief. Ein tiefschürfender, ungeduldiger Laut dringt aus ihrem Innersten und der Junge nickt betroffen.
„Aber wo ist die Mutter?“, will die Hexe wissen, „und wo ist der Vater?“
„Sie jagten uns fort!“, antwortet der Junge kleinlaut.
Die Hexe zuckt bei diesen Worten zusammen wie ein scheues Reh und ihr Kopf taumelt umher wie der einer Krähe.
„Bitte, wir sind in den Wald gelaufen ...“
„Ihr seid viel zu weit gelaufen!“, faucht die Hexe.
Der Spalt im Kern der Maske gewährt den Kindern einen kurzen Blick auf ihr zerfurchtes, von schrecklichen Narben entstelltes Gesicht. Ihr Blick haftet noch einen Moment auf den Kindern. Dann wendet sich die Hexe ab.
Das Feuerchen im Kamin kommt wieder zu sich. Züngelnd legen sich die Flammen um das dunkle Holz.
„Was macht sie jetzt mit uns?“, flüstert das Mädchen.
„Ich weiß es nicht.“
Die Hexe geht in dem Zimmerchen auf und ab. Ihr Gang erinnert die Kinder zunehmend an ein wildes Tier, das aus seiner natürlichen Umgebung gerissen, und in einen viel zu kleinen Käfig gesperrt wurde. Ab und an gibt sie sonderbare, schmatzende Laute von sich.
„Bleib hinter mir!“, befiehlt der Junge und stellt sich vor sein Schwesterchen.
Er beobachtet das Hin und Her der Hexe noch einen Augenblick lang. Sie scheint gegenwärtig keinerlei Interesse an den Kindern zu hegen.
„Es tut uns Leid“, beginnt der Junge sich zu erklären, „aber es wurde immer kälter und dunkler. Wir sahen den großen Baum und dann dieses Haus …!“
Die Hexe wirbelt herum.
„Wir hatten keine bösen Absichten“, fährt der Junge fort.
Langsam kommt die Hexe auf ihn zu. Der lange Umhang folgt ihr geräuschvoll. Mahnend hebt sie einen Finger. Ein langer Nagel blitzt auf.
„Oh nein“, beschwört die Hexe, „das ist nicht richtig.“
„Wir wären erfroren ...“
„Es ist nicht richtig“, fährt ihm die Hexe dazwischen, „dies ist kein Baum!“
„ … und sahen dies Feuerchen.“
„Das ist auch kein Feuer“, gackert die Hexe teilnahmslos, „ihr befindet euch nicht länger im Wald. Was ihr spürt, ist keine einfache Kälte und dies, dies hier ist auch kein Haus!“
Der Holzfäller nimmt sein Gewehr von der Wand und streift sich seinen Mantel über. Er entzündet eine Laterne.
„Was hast du vor?“, fragt seine Frau.
„Ich hole sie zurück!“
„Gehe nicht in den Wald“, fleht sie.
„Bleib du hier. Schließe ab und öffne niemandem, bevor ich nicht zurück bin!“
Er öffnet die Türe. Kühle Nachtluft empfängt ihn.
„Vergib uns!“, haucht sie.
Der Holzfäller sieht seine Frau an. Er presst die Lippen zusammen. Dann stürmt er hinaus und lässt die Tür hinter sich ins Schloss fallen.
Die Luft ist frisch und erfüllt vom süßen Duft der Tannen. Er läuft los und pflügt sich einen Weg durch das Dunkel. Der Mond bleibt verborgen und es leuchten ihm auch keine Sterne. Zweige und Geäst peitschen ihm entgegen. Das rostige Licht der Laterne huscht und schaukelt über den Waldboden. Das Herz schlägt ihm schon bald bis zum Hals. Schwer liegt das Gewehr in seiner Hand.
Nachdem der Holzfäller außer Sicht ist, verschwindet die Angst aus dem Gesicht der Frau. Sie beginnt die Fensterläden zu schließen und zieht die Vorhänge zu. Sie tut dies in hypnotischer Ruhe. Wie aufgetragen, legt sie den schweren Riegel vor die Eingangstüre. Doch nicht etwa um etwas am Hereinkommen zu hindern, sondern um dafür zu sorgen, dass es hier bei ihr bleibt.
Denn wie in dieser und jeder anderen Welt, gibt es Dinge, die nur eine Mutter zu spüren vermag. Und sie, die sie Leben hervorgebracht hat, fühlt es deutlich. Dessen Präsenz.
Sie setzt sich. Das verträumte Lächeln kehrt auf ihr Antlitz zurück. Selbstvergessen beobachtet sie die Tür zum verwaisten Zimmer ihrer Kinder.
Es war ihr Mann, der das Fenster in dem Zimmer schloss. Doch eins vergaß er wohl darüber. Weder er noch sie hatten es zuvor geöffnet.
„In Ordnung“, spricht sie laut, „hier bin ich!“
Dunkel und verlassen zeigt sich das Kinderzimmer, während sich die beiden Schatten unter den Bettchen lösen und darunter hervorkriechen.
Der Holzfäller keucht. Die Erschöpfung zerrt an ihm. Dünnes Gehölz splittert unter seinen Schritten. Er hält einen Moment inne, um wieder zu Atem zu gelangen. Als er wieder aufblickt, erspäht er inweiter Ferne eine Gruppe Bäume, deren Stämme von einem großen, lodernden Licht erleuchtet werden. Er ringt nach Luft und setzt seinen Weg fort.
Der Holzfäller schultert das Gewehr, als er schließlich aus dem Unterholz tritt. Unter einer großen Eiche wurden Äste zusammengetragen und ein beachtliches, mannshohes Feuer entfacht. Die Flammen greifen nach den Eichenblättern. Da bemerkt der Holzfäller die vermummte Gestalt, die sich neben dem Feuer auf einem Baumstumpf niedergelassen hat.
Der Holzfäller nähert sich mit Bedacht. Ohne aufzusehen, winkt ihn der Fremdling plötzlich zu sich.
„Komm,“ schallt eine betörende Stimme unter der Kapuze hervor, „komm und lass dich am Feuer nieder!“
Zwei dürre Hände, überzogen von knotiger Haut, halten sich an einem wurzelartigen Krückstock fest. Der Holzfäller legt die Laterne ab und geht auf die Gestalt zu.
„Ich suche zwei Kinder“, sagt er, „einen Jungen und ein Mädchen! Hast du sie gesehen?“
„Hier findest du sie nicht“, schmunzelt die Gestalt.
Weiblichkeit liegt in der Stimme ohne Gesicht. Erst jetzt wird dem Holzfäller bewusst, dass keinerlei Wärme von den Flammen auszugehen scheint. Er bedient sich seines Gewehrs und spannt den Hahn.
„Wer bist du, altes Weib?“, fragt er grob.
Die Gestalt unter dem Mantel bricht in ein glucksendes Gelächter aus. Ohne aufzublicken, zeigt die Alte auf das Gewehr.
„Soll dich das da retten, Holzhacker?“, fragt sie belustigt, „das wird nicht reichen!“
Die Finger des Holzfällers legen sich um den Gewehrlauf als er einen weiteren Schritt auf die Fremde zugeht.
„Wer bist du?“, wiederholt er.
Dieses Mal wendet die Alte den Kopf. Doch mehr als einen Mund, beherrscht von zwei Reihen gelblich fauliger Zähne, bekommt er nicht zu sehen.
„Erkennst du mich denn nicht?“
Sie zieht die wulstigen Lippen zurück und bleckt die Zähne zu einem abstoßenden Grinsen. Der Holzfäller lässt sich nicht einschüchtern.
„Ich suche zwei Kinder. Meine Kinder. Und ich will wissen, ob du sie gesehen hast!?“
„Was haben zwei Kinder schon alleine im Wald zu suchen?“
„Ich habe sie verloren!“
„Hast du das, Holzhacker?“
Nun wird er ungeduldig. Er rückt einen weiteren Schritt vor. Die Mündung des Gewehrs glänzt im Schein der Flammen.
„Hast du sie gesehen? Ja oder nein? Sprich!“, keift er.
„Du schicktest sie fort, nicht wahr?“, fragt sie kalt.
„Antworte!“
„Oh ja das habe ich. Ich habe sie gesehen“.
„Wo? Sag mir wo ich sie finde!“
Das listig anmutende Grinsen der Alten verfliegt. Ihre Finger versteifen sich um den Krückstock.
„Niemand, Holzhacker. Niemand findet wieder, was das Herz des Waldes erreicht hat!“
„Wovon sprichst du?“
„Das, wonach du suchst, ist nun nicht mehr das, was du verloren hast“, zischt sie, „Das, wonach du suchst, sucht auch nach dir. Und was tust du, sag mir, was tust du wenn dich findet, was ins Herz des Waldes geblickt hat?“
Der Holzfäller legt das Gewehr an und zielt auf den Kopf des Weibes. Die Alte stößt ein gackerndes Lachen aus.
„Du bist hier ganz alleine, Holzhacker. In deinen Händen, da hältst du nichts.“
Sie stützt sich auf ihren Krückstock und erhebt sich langsam.
„Dich erwartet Blut, Holzhacker“, fährt sie fort und greift in das kalte, lodernde Feuer, „erst ihres. Dann deines!“
Die Alte zieht die hölzerne Maske aus den Flammen. Unversehrt.
„Du fragst dich noch immer, wer ich bin?“, spricht sie, während sie das falsche Gesicht unter die Kapuze schiebt.
Der Holzfäller weicht zurück. Die Alte bäumt sich auf. Ihre Finger krampfen sich zusammen. Der Krückstock splittert entzwei und landet im feuchten Gras. Sie hebt den Kopf. Die stechenden Augen fixieren den Holzfäller, als sie sich ihm nähert.
„Fällt es dir wieder ein? Fällt dir ein, welchen Namen du dir stets in deinen Geschichten für mich ausdachtest?“
Der Holzfäller weicht entsetzt zurück, stolpert und fällt. Das Gewehr landet neben ihm.
„Du weißt es!“
„Es sind Geschichten …!“
„Sag es.“
„Nur Geschichten ...“, keucht er.
„Lauf, Holzhacker“, lacht die Alte, „lauf und sieh, was dich gesucht und wieder gefunden hat. Sieh was übrig geblieben ist von dem, was du alleine gelassen und ins Dunkel gejagt hast. Nichts bewahrt dich mehr vor dem Verderben. Nichts. Weder dich noch dein Weib!“
Der Holzfäller springt auf. Er greift sich die Laterne vom Boden und prescht los. Der umliegende Tann erwacht aus seiner Starre. Dürre Äste greifen und reißen an ihm. Das fürchterliche Lachen der Alten folgt ihm. Es hallt von allen Seiten und erfüllt die Nacht. Die Laterne schaukelt umher. Der Wind stöhnt und braust durch die Kronen. Der Holzfäller konzentriert sich auf seine Schritte, während im Wald um ihn der Wahnsinn erwacht.
Erschöpft erreicht Er schließlich sein Haus. Verriegelt, wie befohlen. Seine Faust hämmert gegen die Türe.
„Ich bin es. Beeile dich!“, brüllt er.
Er wirft einen Blick über die Schulter. Ein Phantom rast durch das Unterholz auf ihn zu. Raschelnd bricht es durch hohes Gras und niedere Sträucher.
„So öffne doch die Tür!“, gellt er.
Er hört, wie der schwere Riegel auf der anderen Seite entfernt wird. Das Rascheln kommt näher, schleicht sich an.
Hastig wirft sich der Holzfäller durch die Türe, schmeißt sie hinter sich zu und ringt erschöpft nach Atem. Dann erstarrt er. Die Laterne fällt ihm aus der Hand und geht scheppernd zu Boden. Ihr Licht erlischt.
„Kinder ...“, flüstert der Holzfäller ungläubig.
Der Junge und das Mädchen stehen im Raum und beäugen ihren Vater mit ausdruckslosen Gesichtern.
„Woher …? Oh dem Herrn sei Dank!“, stöhnt der Holzfäller und geht auf seine Tochter zu.
Das Mädchen weicht der Hand des Vaters aus.
„Bitte“, stammelt der Holzfäller benommen,“ ich habe nach euch gesucht.“
Er geht auf seine Kinder zu. Die beiden antworten nicht, sondern starren ihren Vater nur mit leerem Blick an. Etwas Fremdartiges haftet den Geschwistern an und lässt den Holzfäller innehalten. Die Worte der Alten schleichen sich in sein Gedächtnis und er sieht sich um.
„Wo ist sie?“, fragt er.
Keine Antwort.
„Wo ist eure Mutter?“
Er öffnet alle Türen und Schränke, zieht alle Decken und Kissen zurück. Vergebens.
„Sprecht! Wohin ist …“, beginnt der Holzfäller und bricht ab.
Er wischt sich den Schweiß von der Stirn. Trägen Schrittes geht er durch das Zimmer. Die Augen der Kinder folgen ihm. Die Hand des Holzfällers legt sich auf die Schulter des Mädchens. Sanft drückt er es zur Seite und nähert sich dem Ofen. Er geht auf die Knie. Ein markanter Geruch steigt ihm entgegen. Der Holzfäller streckt die Hand aus und öffnet die Ofentüre. Heiße Luft schlägt ihm ins Gesicht. Er blinzelt, versucht die Hitze mit der Hand abzuwehren und sieht hinein.
Emotionslos sehen sich die Kinder an. Der Holzfäller stößt ein klagendes Keuchen aus. Sein Mund öffnet sich zu einem stummen Schrei. Er kann nicht atmen denn das Gefühl von Ohnmacht schnürt ihm die Kehle zu. Was vor seinen Augen im Ofen liegt und brutzelt und zischt, sollte doch eigentlich lebendig sein. Es sollte einer menschlichen Brust schlagen und pochen und pumpen.
Heiße Tränen rinnen seine Wangen herab. Er schluchzt und japst nach Luft.
„Was habt ihr getan?“, flüstert er.
Die Flammen lecken an dem toten Organ. Verkrustetes, schwarzes Blut bedeckt das rote Fleisch. Übelkeit überkommt den Holzfäller und er beginnt zu schwanken. Er beachtet weder das Knarren der Türe noch den Hauch kalter Waldluft, der jäh in die Hütte dringt.
„Mutter!“, ruft das Mädchen erfreut.
Der Holzfäller schließt die Augen. Seine Kiefer pressen sich zusammen. Die großen Hände ballen sich zu Fäusten. Schritte nähern sich ihm von hinten. Die spindeldürren Finger der Hexe legen sich langsam auf seine Schultern. Ihr heißer Atem brandet über seinen Nacken.
„Siehst du, Holzhacker?“, schmatzt die Hexe, „es reicht nicht aus.“
„Was hast du mit meinen Kindern gemacht?“, jammert er.
„Kinder brauchen eine Mutter“, grient die Hexe und gräbt ihre Finger fester in die Schultern des gebrochenen Mannes.
„Du … Scheusal!“, schluchzt er, „Satan!“
Die Hexe gibt ein trockenes Lachen von sich. Der Holzfäller entdeckt sein Beil in unmittelbarer Nähe. Wut schäumt in ihm auf.
Die Hexe beugt sich vor. Ihre Finger legen sich um das Kinn des Holzfällers. Grob dreht sie seinen Kopf zu ihrem.
„Sie hatten solch einen Hunger“, zischt sie, „doch ich versprach ihnen mehr zu Essen, als sie sich je hätten erträumen können. Denn die Menschen haben, ohne es zu wissen, so viel zu entbehren!“
Der Holzfäller bebt vor Zorn. Seine Finger nähern sich dem Beil.
„Sag mir“, fährt die Hexe fort, „was nutzt das Herz einer Mutter noch, die ihr eigenes Fleisch und Blut verbannt?“
Seine Hand umfasst den Schaft der Axt. Er spannt den Arm an. Die Hexe lässt einen ihrer Finger an seinem Hals hinabgleiten. Langsam umkreist ihr scharfer Nagel seine Brust.
„Und verrate mir nun“, bittet sie hämisch, „was nutzt das Herz des Vaters, der ihr dabei zur Seite steht?“
Mit einem lauten Aufschrei holt der Holzfäller aus, lässt die Axt durch die Luft zischen und schlägt sie der diabolischen Alten mitten ins Gesicht.
Die Maske der Hexe zersplittert. Kreischend wirft sie den Kopf in den Nacken und reißt die Arme hoch. Sie taumelt nach hinten und stürzt. Der Holzfäller steht auf. Vor Raserei brüllend umfasst er die Axt. Die Hexe stützt sich am Boden ab und wendet ihm schnaubend ihr entstelltes Gesicht zu. Die einst so dunklen Augen, glüht jetzt aggressiv auf. Eine klaffende Wunde ziert das Gesicht dort, wo die Axt sie getroffen hat. Maden kriechen aus dem zerstörten Fleisch und fallen zu Boden.
Der Holzfäller ignoriert die albtraumhafte Erscheinung und macht sich bereit zum nächsten Schlag, als das Mädchen sich auf ihn stürzt und ihm mit dem Schürhaken einen Schlag gegen das Bein versetzt.
Ein heftiger Schmerz durchzuckt den Holzfäller. Die Axt entgleitet seinem Griff. Das Mädchen springt auf seinen Rücken, zerrt und reißt an ihm.
„Lass sie in Frieden!“, kreischt es.
Der Holzfäller kriegt seine Tochter zu fassen. Er versetzt ihr einen kräftigen Stoß, der sie gegen die Wand wirft. Ohne sich weiter um sie zu kümmern, greift er entschlossen nach der Axt, als er die Klinge eines großen Messers aufblitzen sieht. Der Junge ist neben ihm aufgetaucht, lässt das Messer herabstürzen und nimmt seinem Vater mehrere Finger.
Der Holzfäller schreit auf. Blut schießt aus den FIngerstümpfen. Er türmt sich auf und verpasst dem Jungen mit der gesunden Hand einen Fausthieb gegen den Kopf. Der Junge torkelt und geht benommen zu Boden.
Schmerzen rasen durch seinen Körper, doch der Holzfäller greift das Beil und humpelt zu der am Boden liegenden Hexe. Diese winkt ihn zähnefletschend zu sich.
„Komm, Holzhacker. Komm!“, höhnt sie.
Das Mädchen ergreift die Hand des Bruders und hilft ihm zurück auf die Beine. In der Hand hält es das Messer.
Blutend schleppt sich der Holzfäller zu der Hexe und bleibt über ihr stehen.
„Es sind meine“,schreit er ihr entgegen, „Meine Kinder!“
Er holt weit aus. Pfeifend schwingt die Schneide hoch über seinem Kopf. Seine ganze Kraft bündelt sich in seinen Armen. Dann aber gibt der Holzfäller einen erstickten Laut von sich und sein Körper erstarrt.
Denn mit vereinten Kräften treiben die Kinder ihrem Vater das Messer in den Rücken. Mark und Nerven werden gespalten. Leere erfüllt den Holzfäller. Arme und Beine versagen. Die Axt landet zu seinen Füßen.
Ein Keuchen entrinnt seinem weit geöffneten Mund und er beginnt zu fallen. Sein massiger Körper schlägt hart auf dem Boden auf.
Er verspürt keine Schmerzen. Da ist nur endlose Müdigkeit. Alles rückt in weite Ferne. Die Gesichter seiner Kinder erscheinen über ihm. Der Holzfäller sieht sie an. Er versucht zu ihnen zu sprechen, doch seine Zunge versagt. Stumm bewegt er die Lippen.
Die Hexe richtet sich auf. Ihr Gesicht taucht neben dem der Kinder auf. Der Mund des Holzfällers füllt sich mit Blut. Er gurgelt und spuckt. Wie ein Schatten beugt sich die Hexe über den sterbenden Mann.
„Wehr dich nicht, Holzhacker“, rät sie während ihr Fingernagel sein Hemd aufschlitzt, „Schlucke es hinunter. Es ist deines!“
Der Junge und das Mädchen nehmen sich bei der Hand. Es zieht und zischt im Ofen. Der Geruch von verbranntem Fleisch breitet sich weiter aus. Das zerstörte Gesicht der Hexe schwebt über dem des Holzfällers.
„Ich versprach ihnen zu Essen ...“, krächzt die Hexe.
Ihre Hand gleitet über seinen nackten Brustkorb und verweilt schließlich über seinem Herzen.
„... und dass sie sich nehmen dürfen, was die Menschen nicht mehr brauchen.“
Der Kopf des Holzfällers fällt langsam zur Seite. Die Gesichter seiner Kinder verschwimmen und verlieren ihre Form. Es wird dunkel.
„Und seine Kinder enttäuscht man nicht ...“
Der Holzfäller spürt nicht, wie sich die Hand der Hexe in sein Fleisch gräbt und sich einen Weg durch die Rippen bahnt. Seine Augen sind offen. Dann legen sich ihre kalten Finger um sein warmes, noch schlagendes Herz.
„... Niemals!“
Am Horizont bricht ein blauer Morgen an. Summend lässt das Mädchen ihre Handflächen über das hohe Gras gleiten. Das Moos kitzelt zwischen den Zehen. Der Junge geht neben seiner Schwester, balanciert auf einem umgestürzten Stamm. Die Hexe folgt den Kindern in einiger Entfernung.
Die Dichte des Waldes lässt nach, bis sie schließlich gänzlich verschwindet und sich eine große Wiese vor ihnen ausbreitet.
In weiter Ferne, vom morgendlichen Nebel eingehüllt, liegen die Umrisse einer Stadt. Rauch steigt aus unzähligen Schornsteinen empor. Hinter verschlossenen Fenstern erwachen langsam die ersten Lichter. Noch nie haben die Kinder den Wald verlassen. Der Anblick so vieler Leben ist ihnen gänzlich fremd. Die Hexe stellt sich neben sie.
„Ihr werdet sehen“, erklärt sie mit ruhiger Stimme, „wo immer die Menschen sind, da werdet ihr keinen Hunger erleiden. Sie haben so viel zu geben!“
Das Mädchen lächelt, als es von seinem Bruder an die Hand genommen wird. Ein Falke zieht seinen todbringenden Kreis über ihren Köpfen. Dann laufen sie los.
„Aber wenn es kein Baum ist, was ist es dann?“, fragt der Junge die Hexe.
Ein Raunen ertönt aus den Innereien der Tanne. Die Hexe weist die Kinder an, leise zu sein und zu lauschen.
„Hört ihr das?“, fragt sie, „sie träumt!“
„Aber … aber Bäume träumen nicht“, sagt der Junge.
„Narr! Ich sagte doch, sie ist kein Baum“, antwortet die Hexe und mustert die Kinder argwöhnisch, „Nicht nur!“
„Was ist sie dann?“
Die Hexe grummelt in sich hinein und klappert mit den Zähnen. Das Mädchen fürchtet sich und ergreift den Arm des Bruders.
„Vor langer Zeit“, grunzt die Hexe, „lebte einst ein Mädchen in der großen Stadt vor den weiten Wäldern. Es war wahrlich wunderschön und gut zu allen Geschöpfen, die ihm begegneten. Doch die Menschen mieden das Mädchen, denn sie war im Besitz einer ganz besonderen Gabe. Es hörte die Stimme des Waldes und das Flüstern in den Winden. Und es liebte den Mond und die Sterne mehr als die Sonne. Des Mädchens größte Freude war, im hohen Gras zu liegen, den Geschichten der Bäume zu lauschen und in die Sterne zu blicken.
Doch die Menschen sahen sie des Nachts aus dem Wald kommen und sie begannen zu reden. Schon bald ging das Gerücht um, das Mädchen würde sich dort bei Mitternacht mit allerlei Teufeln und Dämonen umtreiben.
Im Jahr darauf kam es zu einer fürchterlichen Missernte und die Menschen beschuldigten das Mädchen, den Satan persönlich in ihre friedliche Stadt gelassen zu haben. Die Mutter des Mädchens sah sich fortan gezwungen, sie beide im Haus zu verstecken. Aus Angst, die Menschen könnten ihnen auflauern.
Dann aber kamen die Ratten. Und mit ihnen kam die Krankheit. Die schwarze Seuche wütete in den Straßen und Gassen der Stadt. Sie holte sich Männer, Frauen und auch die Kinder. Der Tod selbst ging von Haus zu Haus. Und der Hass der Menschen wuchs und wuchs.“
Die Kinder lauschen der einnehmenden Stimme. Das Mädchen hat derweil von der Hand des Jungen abgelassen. Ein eisiger Wind sucht das Häuschen heim. Grummelnd zieht die Hexe ihren Umhang fester zu.
„Was geschah dann?“, will der Junge wissen.
„Eines Morgens dann, die Sonne war noch nicht ganz aufgegangen, schlichen sich die Menschen zum Haus des Mädchens und brannten es nieder. Die Mutter schrie noch, das Mädchen solle davon laufen, während das Haus von den Flammen verzehrt wurde.
Es konnte fliehen. Vom Geschrei der Menschen verfolgt, rannte es tief in die Wälder hinein. Das Mädchen lief Stunde um Stunde und sah sich, in der Gewissheit die Mutter sei tot, nicht ein einziges Mal um. Doch irgendwann, da verließen es die Kräfte und es klammerte sich an eine junge Tanne. Kaum größer als sie selbst. Und in seiner endlosen Verzweiflung beschloss das Mädchen, den Baum nie wieder loszulassen.
Die Mutter aber überlebte das Feuer, doch ihr Körper trug fortan entsetzliche Narben. Sie verhüllte sich, um Hohn und Spott zu entgehen. Nachdem sie wieder zu Kräften gekommen war, folgte sie dem Mädchen in den Wald, um nach ihm zu suchen. Unzählige Tage und Nächte irrte sie umher, bis sie es schließlich fand. Doch es war bereits zu spät. Ihre Tochter hatte nicht mehr von dem Baum abgelassen.
Zweige und Wurzeln hatten sich bereits in den Körper des Mädchens gegraben. Hände und Haaren hatten sich längst im Holz verirrt. Der Baum wuchs und nahm das Mädchen mit sich. Immer höher trug er es mit sich. Und mit dem Mädchen nahm er auch den Kummer in sich auf. Den Zorn. Die Verwirrung.“
Ein dumpfes Grollen ertönt über den Köpfen der Kinder. Der Wind ist zum Erliegen gekommen. Und doch neigt und schaukelt der Baum seine gewaltigen Äste.
„Nein …!“, flüstert der Junge leise, „ … das kann nicht sein.“
„Die Mutter jedoch schwor“, fährt die Hexe fort“, für alle Zeit bei ihrem Kind zu wachen. Und so ließ sich am Fuße des Baumes nieder.
Während die Jahre kamen und gingen, hörte der Baum nicht auf zu wachsen. Seine Wurzeln gruben sich tief in die Erde. Seine Zweige durchbohrten die Kronen der umliegenden Tannen. Er überragte all die anderen Bäume und zwang sie in seine Sklaverei. Er stahl das Licht der Sonne und tauchte alles zu seinen Füßen in Kälte und Eis.
Aber statt zu sterben, veränderte sich der Wald im Schatten des Baumes. Unnennbares gedieh und formte sich in seiner Dunkelheit. Durstig zehrte die Natur von der einen Tanne. Von ihrer Kraft, ihrer Gewalt und vom dem Herzen des Mädchens, das noch immer in ihr schlug!“
Das Holz im Innern der Hütte knarzt, knackt und arbeitet. Das Mädchen beißt sich auf die Lippe und lauscht dem aufkommenden Spuk.
„Und … und ist das auch alles wahr?“, fragt der Junge herausfordernd.
Die Hexe erstarrt und mustert das Kind. Dann schnaubt sie verächtlich und nähert sich einer der hervorstehenden Wurzeln. Sie lässt ihre scharfen Nägel über das Holz schaben und schlitzt die Rinde auf. Dunkles Blut sickert aus der Wunde und tropft herab. Still starren die Kinder auf die dunkelrote Pfütze, die sich vor ihren Augen auf dem Boden ausbreitet.
„Der Wald“, murrt die Hexe, „ihr habt ihn schon lange verlassen!“
Das Mädchen ballt die Fäuste zusammen und starrt zu Boden. Die Worte der Hexe hallen durch den kleinen Kopf. Gezielt suchen sie dort nach verbliebenen Hoffnungen und Wünschen, zerschlagen das eine wie das andere und wecken die tiefsten Ängste. Es kämpft mit den Tränen. Der Junge geht vor ihm auf die Knie, umgreift die zitternden kleinen Fäuste.
„Weine nicht“, bittet er.
„Und warum nicht?“
Er sieht sein Schwesterchen lange an, schüttelt dann den Kopf. Er schließt sie in die Arme, denn er braucht sie doch genauso, wie sie auch ihn. Denn sie sind allein. Verloren. Das waren sie immer. Vom ersten Tag ihrer Reise an.
„Wo sind wir?“, fragt sie schluchzend.
„Ich kann es dir nicht sagen!“
„Ich habe solchen Hunger.“
„Vergib mir, Schwester“, antwortet er und wischt sich die Tränen weg.
Sie setzen sich vor den Kamin. Soll nun kommen was wolle. Der Junge legt seinen Arm um das Mädchen. Gebrochen starren sie in das sich windende Feuer.
Die Hexe beobachtet das trauernde Geschwisterpaar eine ganze Weile. Dann aber geht sie suchend umher, greift eine hölzerne Schale vom Boden auf und nähert sich der verletzten Wurzel.
„Es wird sie immer wieder geben“, murmelt die Hexe vor sich hin, „die Ausgestoßenen. Die Vertriebenen und die Verletzten!“
Langsam drehen sich die Kinder um. Die Hexe hält die Schale unter die Wurzel und fängt das dürre Rinnsal aus Blut auf.
„Wir haben zu lange gewartet“, fährt die Hexe leise fort, „viel zu lange!“
Ein merkwürdiges Schwingen liegt in der Luft. Das Feuer im Kamin wird größer und die Schatten an den Wänden finsterer. Die Hexe kommt auf die Kinder zu, in der Schale vor sich die umherschwappende, dunkle Flüssigkeit.
„Du hast Hunger, mein Kind?“, fragt die Hexe zuerst das Mädchen.
Das Mädchen zögert, nickt dann und wischt sich die Tränen von den Wangen.
„Dann komm“, lockt die Hexe, „Komm zu mir!“
„Warte!“, ruft der Junge und hält seine Schwester fest.
Das Mädchen sieht den Jungen traurig an. Dann löst es sich aus seiner Umklammerung, geht auf die Hexe zu und nimmt die Schale entgegen. Vorsichtig tunkt es den Finger in die dunkle Suppe.
„Was ist das?“, fragt das Mädchen neugierig.
„Trink“, fordert die Hexe, „und ich führe dich an die reichsten Tafeln dieses Lebens!“
Noch nennt die Hexe die Gunst des Kindes nicht ihr eigen. Immer wieder blickt das Mädchen fragend zum Bruder hinüber. Doch in dessen müden Augen, liegen keine Antworten mehr.
„Sag mir“, bohrt die Hexe weiter, „wie heißt du mein Kind?“
„Grete“, antwortet das Mädchen, „aber er da nennt mich immer nur das Gretchen!“
„Ein schöner Name.“
Vorsichtig führt das Mädchen die Schüssel an den Mund und beginnt zu trinken.
„Gut so“, flüstert die Hexe.
Die langen Finger legen sich auf den Kopf des Mädchens und streifen durch das kastanienbraune Haar. Die andere Hand hält sie dem Jungen hin. Knackend spreizen sich ihre Finger. Ihre bebenden Augen rufen ihn zu sich.
„Und du, mein Sohn?“, fragt die Hexe, „Sage mir, wie nennen sie dich?“