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Im Frühling fällt der Apfel sehr weit
Es war gerade Frühling geworden. Die Kastanien steckten ihre Lichter auf und ich freute mich wahnsinnig auf unsere Urlaubsreise. Ameisenarmeen kribbelten in meinen Bauch und ich konnte es nicht abwarten, endlich loszufahren. Das Auto war gepackt, es fehlte nur noch Karin.
„Mama, komm endlich“, flüsterte ich dem Tausendschön im Vorgarten zu, beobachtete Karin, die kerzengerade am Schreibtisch stand, dabei den Hörer noch fester ans Ohr presste, wie um eine besonders leise Telefonstimme zu verstehen. Nach einer Pause hörte ich sie sagen. „Am besten, wir vereinbaren noch heute einen Termin.“
Mir wurde schlecht, in meinem Bauch gärte es. Rumorte und bohrte, polterte. Meine Mutter notierte den Termin im Wochenplaner und öffnete ihren Laptop, ich biss mir auf die Lippen. Rannte in die Mittagssonne hinaus und immer weiter. Wohin ich lief, sah ich nicht. Heute würden wir nicht mehr reisen. Es fing zu regnen an. Ich kehrte um, trabte gemächlich, der feine Sprühregen kroch unter meine Kleidung, kräuselte mein Haar.
Kraus die Gedanken. Bis in die Spitzen. Geflutet, ich bin schwerelos, über mir braust die See, ich sinke tiefer, es ist so leicht, bis es zu schmerzen beginnt. Dann rudere ich nach oben, teile den Vorhang, ringe um Atem.
Vollkommen durchnässt erreichte ich unsere Straße. Es klarte auf.
Ein weiteres Auto stand neben dem unseren. Eine Männerstimme drang aus Mutters Arbeitszimmer und ich schmierte Karin ein Leberwurstbrot mit Cornichons.
Beim Abendbrot erzählte ich Karin von Elektra, einer Katze der Nachbarin. Sie hatte einen Fleischklops gefressen, in dem ein Angelhaken versteckt war. Frau Berle, der Nachbarin, wurde die blutende Katze auf die Fußmatte gelegt. Das arme Ding. Es hatte sich so gequält. Mit einem Stein hatte Frau Berle die Katze erlöst. Mutter wurde bleich.
„Lass uns ins Bett gehen“, sagte Karin müde. Ich war wie aufgedreht. Der Kopf der Katze war ein blutiger Haufen. Sie hatte am ganzen Körper gezittert. Dann lag nur noch ein verschmiertes Fellbündel da. An Schlaf war nicht zu denken.
Nachts, wenn ich nicht schlafen kann, sitze ich am Fenster. Nachts, wenn ich am Fenster sitze, zähle ich die Sterne.
Nachts, wenn ich die Sterne zähle, erinnere ich mich an meinen Vater. Mein Vater, groß und stark. Sein Lächeln, wenn er mich Schneewittchen ruft. Mein Ball hatte sich im Geäst verfangen. Ich springe vom Baum hinunter und er fängt mich und den Ball auf.
Er fängt mich immer auf. Er wirbelt mich herum, dass die Welt sich um mich dreht.
Als Mamas Nase bricht, krieche ich unter das Bett. Als sie schreit, krieche ich hervor. Ziehe an seinem Ärmel. Er schüttelt mich ab. Groß sind seine Augen. Wie aus Glas sein Blick. Er geht in den Keller. Stille. Zu still. Karin. Weint. Folgt ihm. Umarmt ihn. Hebt und stützt seine massige Gestalt. Schreit. Ruft. Wieder um Hilfe. Nur anders.
Nimm das Messer. Ich kann nicht. Reichen. Zu hoch. Für mich.
Ich beugte mich aus dem Fenster und griff nach den Sternen.
Es roch nach Feuchtigkeit und frisch aufgeworfener Erde. Frau Berle war in ihrem Garten und schaufelte das Mondlicht in ein Loch unter der Kastanie. Ich schlief mit dem Gedanken ein, Elektra würde es hell haben in der dunklen Erde.
Es war noch ziemlich früh, als Mutter mich am nächsten Morgen weckte und mit einem Scheck, den sie von der gestrigen Männerstimme erhalten hatte, wedelte.
Ich durfte fahren. Die Tinte auf meinem Führerschein war zwar noch tropfnass, aber Mutter wusste, wie gerne ich ihren Flitzer fuhr. Der Motor jaulte auf, als ich das Pedal durchtrat. Ich wollte mit Schnelligkeit das Gestern aufholen. Bei Zweihundert verlagerte Mutter ihre Sitzposition, rutschte tiefer, die Finger umklammerten die Sitzlehne, doch sie sagte nichts. In Travemünde angekommen, tauschten wir kurz hinter dem Ortsschild die Plätze.
Karin streichelte das Lenkrad, legte den Gang ein, rollte langsam los.
Fährt über eine klebrige Fahrbahn. Der Motor heult. Wir kommen nicht vorwärts. Die Räder des Autos mahlen eine Spur in den Asphalt. Die Stadt brüllt, ein Schiff tutet. Zweimal kurz, zweimal lang. Rapsblütenpollen schweben in der Luft, bevor sie in meinen Nasenhaaren hängen bleiben.
Ich nieste kräftig und Mutter fuhr schneller.
Travemünde war gut besucht. Die Sonne wärmte und ein paar vorwitzige Krokusse säumten den Wegesrand. Fremde Menschen lachten sich an. Karin lachte. Ich lachte.
„Wollen wir etwas essen?“, fragte mich meine Mutter und steuerte eine Bar an. Es war gerade elf Uhr.
„Wie du möchtest“, antwortete ich. Blinzelte in die Sonne. Fröstelte bei dem Gedanken an die dunkle Bar, folgte ihr.
Schleppe die Kette mit der Kugel. Mein Fußknöchel reibt sich an dem Eisen. Ich stemme die Kugel und lass sie wieder fallen.
Die Bar hatte eine Terrasse. Karin saß schon, winkte dem Kellner zu und ich konnte den feinen Sandstrand zwischen zwei Sonnenschirmen hindurch blitzen sehen.
„Ich nehme einen Milchkaffee, meine Mutter einen Kaffee dazu“, bestellte ich beim Kellner nach. Karin kippte den doppelten Cognac in einem Zug. Ihre Augen waren gerötet.
„Karin, nimm ein Aspirin!“, sagte ich. Meine Mutter zerknüllte die Serviette mit den Händen und versteckte ihre Augen hinter langen Wimpern. Sehr langen Wimpern.
„Wie kommst du denn plötzlich darauf?“ Heftig stellte sie ihre Tasse zurück. Der Kaffee schwappte über den Rand und bildet einen braunen See auf der Untertasse.
„Nur so", sagte ich. Die Eisenfessel schnürte wieder. Diesmal in der Brust.
Dachte sie noch an ihn? Karin war attraktiv. Viele Männer machen ihr den Hof. „Warum hat er dich so gehasst?“, fragte ich sie nach dem dritten Doppelten.
„Wer?“
„Papa.“
Meine Mutter setzte eine Sonnenbrille auf.
„Darling, was meinst du bloß?“
„Ich habe ihn erstochen“, sagte ich.
„Nein!“ Sie widerspricht?
„Er war schon tot.“ Sie wollte es glauben.
Die Sonne schien und das Meer leuchtete.
Eine Fliege umschwirrte uns in der Bar. Ich wurde ärgerlich. „Lass uns zum Wasser gehen“, schlug ich vor und die summende Fliege ließ sich auf dem karierten Tischtuch nieder. Die kleinen, durchscheinenden Flügel zuckten bereit zum Abflug, doch meine Faust war schneller.
„Wie du meinst.“ Meine Mutter schnippte nach dem Kellner und ich das Insekt vom Tisch. Karin schwankte ein wenig, als sie aufstand.
„Wusstest du, dass dein Opa Lübeck nach dem Krieg wieder mit aufgebaut hatte?“
Ich hakte mich bei ihr ein. Schwieg. Ich kannte meinen Großvater nicht. Arm in Arm schlenderten wir über den Strand zur Wasserkante. Ein leichter Ostwind ging und die Wellen zischten, als sie aufliefen. Als ich auf eine prächtige Qualle am Flutsaum trat, entzog Karin mir ihren Arm, starrte gebannt auf das Meer. „Er war verbittert, dein Opa“, sagte Karin, „und dein Vater liebte ihn.“ Ich kickte die Qualle im hohen Bogen zurück ins Meer.