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Im Frühling fällt der Apfel sehr weit

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19.03.2003
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Im Frühling fällt der Apfel sehr weit

Es war gerade Frühling geworden. Die Kastanien steckten ihre Lichter auf und ich freute mich wahnsinnig auf unsere Urlaubsreise. Ameisenarmeen kribbelten in meinen Bauch und ich konnte es nicht abwarten, endlich loszufahren. Das Auto war gepackt, es fehlte nur noch Karin.
„Mama, komm endlich“, flüsterte ich dem Tausendschön im Vorgarten zu, beobachtete Karin, die kerzengerade am Schreibtisch stand, dabei den Hörer noch fester ans Ohr presste, wie um eine besonders leise Telefonstimme zu verstehen. Nach einer Pause hörte ich sie sagen. „Am besten, wir vereinbaren noch heute einen Termin.“
Mir wurde schlecht, in meinem Bauch gärte es. Rumorte und bohrte, polterte. Meine Mutter notierte den Termin im Wochenplaner und öffnete ihren Laptop, ich biss mir auf die Lippen. Rannte in die Mittagssonne hinaus und immer weiter. Wohin ich lief, sah ich nicht. Heute würden wir nicht mehr reisen. Es fing zu regnen an. Ich kehrte um, trabte gemächlich, der feine Sprühregen kroch unter meine Kleidung, kräuselte mein Haar.

Kraus die Gedanken. Bis in die Spitzen. Geflutet, ich bin schwerelos, über mir braust die See, ich sinke tiefer, es ist so leicht, bis es zu schmerzen beginnt. Dann rudere ich nach oben, teile den Vorhang, ringe um Atem.

Vollkommen durchnässt erreichte ich unsere Straße. Es klarte auf.
Ein weiteres Auto stand neben dem unseren. Eine Männerstimme drang aus Mutters Arbeitszimmer und ich schmierte Karin ein Leberwurstbrot mit Cornichons.
Beim Abendbrot erzählte ich Karin von Elektra, einer Katze der Nachbarin. Sie hatte einen Fleischklops gefressen, in dem ein Angelhaken versteckt war. Frau Berle, der Nachbarin, wurde die blutende Katze auf die Fußmatte gelegt. Das arme Ding. Es hatte sich so gequält. Mit einem Stein hatte Frau Berle die Katze erlöst. Mutter wurde bleich.
„Lass uns ins Bett gehen“, sagte Karin müde. Ich war wie aufgedreht. Der Kopf der Katze war ein blutiger Haufen. Sie hatte am ganzen Körper gezittert. Dann lag nur noch ein verschmiertes Fellbündel da. An Schlaf war nicht zu denken.
Nachts, wenn ich nicht schlafen kann, sitze ich am Fenster. Nachts, wenn ich am Fenster sitze, zähle ich die Sterne.
Nachts, wenn ich die Sterne zähle, erinnere ich mich an meinen Vater. Mein Vater, groß und stark. Sein Lächeln, wenn er mich Schneewittchen ruft. Mein Ball hatte sich im Geäst verfangen. Ich springe vom Baum hinunter und er fängt mich und den Ball auf.
Er fängt mich immer auf. Er wirbelt mich herum, dass die Welt sich um mich dreht.
Als Mamas Nase bricht, krieche ich unter das Bett. Als sie schreit, krieche ich hervor. Ziehe an seinem Ärmel. Er schüttelt mich ab. Groß sind seine Augen. Wie aus Glas sein Blick. Er geht in den Keller. Stille. Zu still. Karin. Weint. Folgt ihm. Umarmt ihn. Hebt und stützt seine massige Gestalt. Schreit. Ruft. Wieder um Hilfe. Nur anders.
Nimm das Messer. Ich kann nicht. Reichen. Zu hoch. Für mich.

Ich beugte mich aus dem Fenster und griff nach den Sternen.
Es roch nach Feuchtigkeit und frisch aufgeworfener Erde. Frau Berle war in ihrem Garten und schaufelte das Mondlicht in ein Loch unter der Kastanie. Ich schlief mit dem Gedanken ein, Elektra würde es hell haben in der dunklen Erde.

Es war noch ziemlich früh, als Mutter mich am nächsten Morgen weckte und mit einem Scheck, den sie von der gestrigen Männerstimme erhalten hatte, wedelte.
Ich durfte fahren. Die Tinte auf meinem Führerschein war zwar noch tropfnass, aber Mutter wusste, wie gerne ich ihren Flitzer fuhr. Der Motor jaulte auf, als ich das Pedal durchtrat. Ich wollte mit Schnelligkeit das Gestern aufholen. Bei Zweihundert verlagerte Mutter ihre Sitzposition, rutschte tiefer, die Finger umklammerten die Sitzlehne, doch sie sagte nichts. In Travemünde angekommen, tauschten wir kurz hinter dem Ortsschild die Plätze.
Karin streichelte das Lenkrad, legte den Gang ein, rollte langsam los.

Fährt über eine klebrige Fahrbahn. Der Motor heult. Wir kommen nicht vorwärts. Die Räder des Autos mahlen eine Spur in den Asphalt. Die Stadt brüllt, ein Schiff tutet. Zweimal kurz, zweimal lang. Rapsblütenpollen schweben in der Luft, bevor sie in meinen Nasenhaaren hängen bleiben.

Ich nieste kräftig und Mutter fuhr schneller.

Travemünde war gut besucht. Die Sonne wärmte und ein paar vorwitzige Krokusse säumten den Wegesrand. Fremde Menschen lachten sich an. Karin lachte. Ich lachte.
„Wollen wir etwas essen?“, fragte mich meine Mutter und steuerte eine Bar an. Es war gerade elf Uhr.
„Wie du möchtest“, antwortete ich. Blinzelte in die Sonne. Fröstelte bei dem Gedanken an die dunkle Bar, folgte ihr.

Schleppe die Kette mit der Kugel. Mein Fußknöchel reibt sich an dem Eisen. Ich stemme die Kugel und lass sie wieder fallen.

Die Bar hatte eine Terrasse. Karin saß schon, winkte dem Kellner zu und ich konnte den feinen Sandstrand zwischen zwei Sonnenschirmen hindurch blitzen sehen.
„Ich nehme einen Milchkaffee, meine Mutter einen Kaffee dazu“, bestellte ich beim Kellner nach. Karin kippte den doppelten Cognac in einem Zug. Ihre Augen waren gerötet.
„Karin, nimm ein Aspirin!“, sagte ich. Meine Mutter zerknüllte die Serviette mit den Händen und versteckte ihre Augen hinter langen Wimpern. Sehr langen Wimpern.
„Wie kommst du denn plötzlich darauf?“ Heftig stellte sie ihre Tasse zurück. Der Kaffee schwappte über den Rand und bildet einen braunen See auf der Untertasse.
„Nur so", sagte ich. Die Eisenfessel schnürte wieder. Diesmal in der Brust.
Dachte sie noch an ihn? Karin war attraktiv. Viele Männer machen ihr den Hof. „Warum hat er dich so gehasst?“, fragte ich sie nach dem dritten Doppelten.
„Wer?“
„Papa.“
Meine Mutter setzte eine Sonnenbrille auf.
„Darling, was meinst du bloß?“
„Ich habe ihn erstochen“, sagte ich.
„Nein!“ Sie widerspricht?
„Er war schon tot.“ Sie wollte es glauben.

Die Sonne schien und das Meer leuchtete.
Eine Fliege umschwirrte uns in der Bar. Ich wurde ärgerlich. „Lass uns zum Wasser gehen“, schlug ich vor und die summende Fliege ließ sich auf dem karierten Tischtuch nieder. Die kleinen, durchscheinenden Flügel zuckten bereit zum Abflug, doch meine Faust war schneller.
„Wie du meinst.“ Meine Mutter schnippte nach dem Kellner und ich das Insekt vom Tisch. Karin schwankte ein wenig, als sie aufstand.
„Wusstest du, dass dein Opa Lübeck nach dem Krieg wieder mit aufgebaut hatte?“
Ich hakte mich bei ihr ein. Schwieg. Ich kannte meinen Großvater nicht. Arm in Arm schlenderten wir über den Strand zur Wasserkante. Ein leichter Ostwind ging und die Wellen zischten, als sie aufliefen. Als ich auf eine prächtige Qualle am Flutsaum trat, entzog Karin mir ihren Arm, starrte gebannt auf das Meer. „Er war verbittert, dein Opa“, sagte Karin, „und dein Vater liebte ihn.“ Ich kickte die Qualle im hohen Bogen zurück ins Meer.

 

Hallo Goldene Dame

Des Titels ungewöhnlicher Apfel ist es, der mich zur Frühlingszeit aufmerken liess. Wohl einer, der vom letzten Jahr hängen blieb, war mein Gedanke. Doch statt darüber zu sinnieren, lese ich jetzt erst einmal.

Ich kehrte um, trabte gemächlich, der feine Sprühregen durchdrang meine Kleidung, kräuselte mein Haar.

Der Einstieg hatte schon poetisch begonnen, doch jetzt steigert es sich noch. Ich musste schmunzeln, was der Frühling doch für Blüten treibt.

Mit einem Stein hatte Frau Berle die Katze erlöst. Mutter wurde bleich.

Ich auch! Ein herber Kontrast zu der eröffneten Poesie.

Mein Vater, groß und stark. Sein Lächeln, wenn er mich Schneewitchen ruft. Mein Ball hatte sich im Geäst verfangen. Ich springe vom Baum hinunter und er fängt mich und den Ball auf. Sein Antlitz, eben noch lachend verändert sich. Seine Zunge hängt heraus und ist geschwollen. Die vertrauten Gesichtszüge weichen dahinter zurück.

Stakkatoartig, die kurzen Sätze, beim Lesen geben sie mir ein gehetztes Tempo vor. Aber wahrscheinlich von dir beabsichtigt, den Lesefluss nicht leicht plätschern zu lassen, es dramaturgisch zu steuern.
A propos Märchen: Schneewittchen.

Ungewöhnlich dargelegt, dieser Apfel, der im Frühling weit weg vom Stamme fällt. Beim Lesen zwang es mich zu überlegen, zu deuten, und so manch geheimnisvoll anmutende Szene auszumalen. Ich bin mir da nicht sicher, ob es dem Leser zu viel Spielraum für eigene Bilder gewährt und zu stark kaschiert. Doch habe ich es in seiner Gegensätzlichkeit vergnüglich gerne gelesen. Mein Schlussgedanke nun ist, ach, was der Alltag so alles bietet. ;)

Schöne Grüsse

Anakreon

 

Ich schlief mit dem Gedanken ein, Elektra würde es hell haben in der dunklen Erde,
Elektra – die Tochter des Agamemnon, allein dank deren Hilfe Orestes, der Bruder, die Blutrache an seines Vaters Mördern durchführen konnte – kann eine Anspielung auf diesen Text geben, der sich nahtlos in das kleine Werk der Autorin einreiht – denn der Verlauf der Geschichte verbietet eine kindliche Verwechselung der mythischen Gestalt mit dem elektrischen Licht.

Im Frühling fällt der Apfel sehr weit –
schon der Titel,

liebe G. Dame,

hat’s in sich - wie alles, was ich zuvor von Dir gelesen hab.

Erscheinen nicht in unseren Breiten im Frühling (genauer: Mai) vor den Blättern rötlich-weiße Blüten mit gelben Staubblättern und werden Äpfel dann nicht auch üblicherweise hierzulande im Australischen Frühling geerntet?

Aber es ist kein Importgut, den der Titel meint - und auch keine Reststück des Vorjahres, wie Anakreon anregt. Er gilt eher dem ganzjährigen Sprichwort und verquickt damit das Symbol des alttestamentarischen Sündenfalls, dem andere mythische Erscheinungen korrespondieren und Quallen nicht unbedingt als Medusen widersprechen. Vor allem aber ist’s zunächst die idyllische, semi-paradiesische Einleitung, wenn sich das eher schlichte Gänseblümchen (oder sollt man es zum Maßliebchen erhöhen?) sein gefülltes Köpfchen als Tausendschön erhebt. Doch die Idylle endet nicht in Bukolik, eher in Koliken, beginnend mit dem gewaltsamen Tode Elektras …

Aber da mag ich dem einen und der andern nicht das Lesevergnügen nebst eigener Deutung versauen. Zudem ist die Sprache - eigentlich wie immer - sehr lesesnwert.

Wirklich nur'n bissken Kleinkram, nicht aber, dass meine Kleinkrämerseele hungrig wäre:

Sein Antlitz, eben noch lachendKomma verändert sich.
Würde das Attribut vors Antlitz gesetzt, beide Kommas könnten beurlaubt werden.

Die kleinenKOMMA durchscheinenden Flügel …
Kein Komma zwischen den Adjektiven, wenn eins das andere verstärkt (quasi Attribut und Komparativ des anderen wird).

Und ein sportlich / technisches Problem für einen, der gemeinhin barfüßig daherläuft, ob das folgende überhaupt funktioniere …

Ich kickte die Qualle im hohen Bogen zurück ins Meer.
Wenn man bedenkt, dass Quallen bis zu 99 % aus Wasser bestehen und eine gallertartige, einfach nur aufgequollene (daher vielleicht der Name) Masse bilden, halt ich das für ein kleines Kunststück.

Gern gelesen und kommentiert vom

Friede,

der zudem ein schönes Wochenende wünscht.

 

Liebe Goldene Dame,

der Titel verspricht viel, denn er klingt gut, anders. Die poetische Reduzierung gleich zu Beginn des Textes hat mir sehr gut gefallen, diese Abgehaktheit, diese Präzision. Aber dann kommen immer wieder Formulierungen, über die ich stolpern muss.

Hauptsächlich sind es die drei Sätze:

Das Auto war gepackt, es fehlte nur noch Karin, die ins Haus zurückgegangen war, weil das Telefon geklingelt hatte.
An für sich kein schlechter Satz. Irgendwie will er mir aus dem fallen, was du sonst so gezeichnet hast.

Mir wurde schlecht, es fühlte sich an, als wenn in meinem Bauch etwas hüpfte.
Der Vergleich gefällt mir nicht. Die Ameisen machen so schöne Vorfreudestimmung, aber das Hüpfen Übelkeit? Ich weiß nicht.

„Darling, was meinst du bloß?“
Darling. Warum Englisch?

Dass die o.g. Sätze zu kritisieren sind, liegt nur daran, dass der Rest ziemlich genial geschrieben ist. Beinah bildhaft. Zum Inhalt möchte ich gar nicht viel sagen, nur dass es mir gefallen hat, diese Mutter-Tochter-Beziehung und wie weit weg der Apfel doch fallen kann. Tausendschön.

Ein paar Anmerkungen:

Ich kehrte um, trabte gemächlich, der feine Sprühregen durchdrang meine Kleidung, kräuselte mein Haar.
Vorschlag: Statt "durchdrang" "kroch in"

Ruft. Wieder um Hilfe. Nur anders.
Das gefällt mir sehr gut, wie du die Sätze zerstückelst und häppchenweise servierst. Mit dem Lesen stockt das Atmen.

Ich wollte mit Schnelligkeit das Gestern aufholen.
Schöner Satz!

Rapsblütenpollen schweben in der Luft
Muss es unbedingt Raps sein? Blütenpollen ist kürzer und klingt besser, wie ich finde.

Ich hakte mich bei ihr ein und Arm in Arm schlenderten wir über den Strand zur Wasserkante.
Ich hakte mich bei ihr ein. Arm in Arm schlenderten wir über den Strand zur Wasserkante.

Wirklich gern gelesen, außerdem hallen deine Bilder nach wie Klänge.

Beste Grüße
M. Glass

 

Hallo Anakreon,
Wohl wahr, dass der Leser angehalten ist, sich auszumalen, was zwischen den Zeilen steht. Dem einen liegst, dem anderen weniger. Sofern der Schreibstil sich poetisch anmutet, dann doch um sich seinen "Reim" daraus machen zu dürfen, wenn man es möchte. Vieles ist nur angedeutet, doch denke ich, dass der Titel und auch die Geschichte erzählen, was Mutter und Tochter entfremdet und verbindet.

Hallo Friedel,
Fehlerlese sei Dank, ich habe es berichtigt, was du gefunden hast. Nur die Qualle kicken, das soll bleiben, stelle ich mir vor, dass der Fuß sich darunter hebt und die Qualle mit Schwung ins Meer befördert wird. Mein Sohn spielt Fußball und wenn er den Ball beim Anstoß nur von oben trifft, wird das nix. Vielmehr lupft er das Leder von unten, so dass der Ball im schönen Bogen fliegt. Der Name Elektra ist natürlich kein Zufall und tatsächlich soll der Tod des Vaters gesühnt werden. Doch von wem? Wessen Schuld war es denn und welche Befürchtung treibt sein Unwesen? Letztendlich ist das Schneewittchen bestrebt, anders zu sein, fällt als Apfel sehr weit vom Stamm, oder nicht?
Hallo M. Glass,
Mich freut es sehr, dass dich der Titel in die Geschichte gezogen hat und noch mehr, dass die Bilder wie Klänge nachhallen. Hättest du noch geschrieben in Moll, hätte ich paradoxerweise einen Freudensprung getan. Ich habe deine kritischen Anmerkungen überdacht und geändert. Nur Darling möchte ich nicht killen, ist dieser Ausdruck für mich doch beispielhaft für Kühle und Distanz. Ebenso die Rapsblüten sollen die Farbe Gelb und den schweren Duft assoziieren lassen. Denke, dass Blütenpollen zu allgemein bleiben.

Danke euch fürs Lesen und Kommentieren. :) LG, GD

 

Moin Goldene Dame,
ich mache es mal kurz: Beim ersten Lesen weigerte sich etwas in mir, die großen Lücken in deiner Geschichte zu füllen, beim zweiten Mal am nächsten Tag verstand ich mehr, aber die Lücken blieben.
Ganz ehrlich: Sie mir zu groß! Ich verstehe nicht, warum du sie brauchst. Du hast wunderbare Szenen und Bilder in deiner Geschichte, die es nach meiner Meinung verlangen, zu einer durchgängigen Erzählung zu werden.
Ich habe deinen Kommentar gelesen, aber mir kommt die Floskel „Dem einen liegst, dem anderen weniger“ eher wie eine Ausrede daher, so, als fehle dir der Mut, die ganze Geschichte zu erzählen. Mich jedenfalls würde sie interessieren, auch wenn sie dadurch um einige Seiten verlängert würde.

Herzlichst Heiner

 

Hallo Heiner,
Ich kann verstehen, dass dir die Lücken zu groß sind. In der Ursprungsversion dieser Geschichte erzählte ich mehr und ich sah das Dilemma meiner Protagonisten, wie es sich aufbauschte und zu einer mitleidschwangeren Opfergeschichte aufblähte. Letztendlich habe ich, dachte ich, eine Lösung gefunden, die den Protagonisten gerecht wird. Ich wollte deren Dilemma sichtbar machen, sie aber nicht entblößen. Danke für deinen mir wertvollen Hinweis. Ich denke weiter darüber nach. Gruß GD

 

Boshaft,
wie ich nun mal bin,

liebe G. Dame,

komm ich noch einmal auf den Text zur mythischen Mutter-Tochter-Beziehung zwischen Karin –

d. i. Kurzform der Katharina, der Griechischen Aikaterina, der „Reinen“, wenn wir den Namen ans katharos anlehnen –

und Schneewittchen –

das sich nun gerade mal nicht freut wie eine Schneekönigin, wiewohl der Name gegenüber dem mütterlichen Namen eine verdoppelte Reinheit suggerieren will als Schnee + Weißchen, das die schönste im ganzen Lande sei und darum von der attraktiven (Stief-)mutter geradezu verfolgt werde –

und wer zeichnet sich aus durch alles andere als Tierliebe in einer kleinen Orestie ohne Orestes?

Schon im ersten Durchgang sind uns zwo eher harmlose Satzzeichen durchgegangen, zum einen das optische Ende wörtlicher Rede

„Mama, komm endlich, flüsterte ich …
zum andern ein Komma nach wörtlicher Rede
„Karin, nimm ein Aspirin!“ sagte ich.

Aber dann doch noch ganz kleine Randbemerkung zu Änderungen:
Hieß es vordem
Das Auto war gepackt, es fehlte nur noch Karin, die ins Haus zurückgegangen war, weil das Telefon geklingelt hatte,
so heißt es nun nur noch
Das Auto war gepackt, es fehlte nur noch Karin,
was die Ungeduld – schon der nächste, geflüsterte Satz verrät’s laut genug, der Icherzählerin genauer begründet. Die Mutter war schon bereit zur Abfahrt und lässt sich durch ein lumpiges Telefon(at) zurückrufen …

und abschließend

Mir wurde schlecht, es fühlte sich an, als wenn etwas meinem Bauch überschäumte und wie ein Sektkorken knallte.
Der Vergleich ist schwer nachzuvollziehen, knallen doch Sektkorken an sich zu freudigen Ereignissen. Da aber „platzt“ jemand vor Ungeduld, wobei Wut auch schon mal überschäumt.

Einmal lesen ist halt wie nicht einmal gelesen zu haben. Da schlägt dann der olle Karl Kraus, der allen empfahl, sein Werk zweimal zu lesen, bei uns durch.

Gruß vom aprildurchfeuchteten

Friedel

 

Hallo Goldene Dame,

jetzt schreibst du etwas länger als sonst (probiere ich ja grad auch), der Verdichtungsgrad hat sich nicht geändert!

Den Titel gleich mit der Botanik assoziiert, ist die Kritik über den frühen Apfel beim Lesen unnötig geworden, da du die schöne, alte Metapher des nicht weit fallenden Apfels umkehrst.
In der Situation, in der sich die Frau befindet, ist die Distanz sicher wohltuend für sie, was genau geschah, ist manchmal wahr, doch selten klar – „Die vertrauten Gesichtszüge weichen dahinter zurück.
Nein, nicht so, rebellieren meine Eingeweide. Springt der Gummiball gegen meine Rippen. Nicht so.“
Dieser Gummiball hat mich aus der Szene gerissen, so plötzlich springt er zwischen Eingeweide und Rippen und sicher geglaubten Sinn.

(Dasas eine geschichte schon wieder so einen familiären Konflikt beinhaltet, hat mich etwas gestört, zu leicht scheint man damit zu einem Thema zu kommen - aber: immerhin hast du es ungewöhnlich ausgearbeitet).


„Nachts, wenn ich nicht schlafen kann, sitze ich am Fenster. Nachts, wenn ich am Fenster sitze, zähle ich die Sterne.
Nachts, wenn ich die Sterne zähle, erinnere ich mich an meinen Vater. Mein Vater, groß und stark.“

Selten ist so ein ‚Staffellauf der Satzanfänge‘ (wie ich das nenne) für den Leser angenehm, doch hier passt er, weil dadurch Assoziationen prägnant dargestellt werden (ich habe mal eine Geschichte geschrieben, in der das Satzende gewissermaßen dem Satzanfang des nächsten Abschnitts ‚die Hand gibt‘).


„Frau Berle war in ihrem Garten und schaufelte das Mondlicht in ein Loch unter der Kastanie. Ich schlief mit dem Gedanken ein, Elektra würde es hell haben in der dunklen Erde.“

Ein passendes Bild, der Trost aus dem Absurden.


„Meine Mutter schnippte nach dem Kellner und ich das Insekt vom Tisch“

Schönes Zeugma, liest man selten!

Änderungsvorschläge:

„als wenn etwas meinem Bauch überschäumte und wie ein Sektkorken knallte.“

- als wenn etwas meinen Bauch überschäumte und wie ein Sektkorken knallte.
- als wenn etwas in meinem Bauch überschäumte und wie ein Sektkorken knallte.

(Eigentlich knallt der Korken nicht, auch wenn man das oft so sagt. Du willst doch keine Freude, sondern einen üblen Druck ausDRÜCKen, ist da der Jubelknall so günstig?).


„Ich durfte fahren.“

Z. B. ‚Endlich durfte ich fahren.‘ (Weil dann bald wieder ein „Ich“- Satzanfang kommt).


„Die Tachonadel stieg, wie die Zeit verflog.“

Vielleicht sogar ein ! machen!

Gern gelesen, du verlässt dich nicht mehr nur auf deine Verdichtungskünste, sondern greifst etwas mehr in die Kiste der sprachlichen Ausdruckmittel, eine angenehme Entwicklung.

Gruß,

Woltochinon

 

Hallo Friedel,
Entschuldigung für die späte Antwort. Ich war verreist. Ich habe ein paar Korrekturen vorgenommen und hoffe, dass sich der Text dadurch verbessert hat. Danke fürs zweimalige Lesen und Fehlerfinden. Dein Kommentar war mir ein Genuss. :)

Hallo Woltochinon,

Ja es trifft zu, dass ich längere Geschichten schreiben möchte und ich möchte die Verdichtung beibehalten, hoffe, dass die Geschichte aufgelockerter wirkt. Ich habe mir nach deinem Kommentar einiges durch den Kopf gehen lassen, was ich noch anders machen könnte. Ich habe einiges verändert. Der Konflikt könnte noch mehr Details gebrauchen.
Danke für deinen Kommentar!
Lieben Gruß Euch beiden GD

 

Wat gibt'n da zu entschuldigen? Besser Glückwunsch zum geliebten Feind! Aber ich will nicht lästig werden,

l. G. D.,

aber diese Einfügung

Wusstest du, dass dein Opa Lübeck nach dem Krieg wieder mit aufgebaut hatte?-

hatt’s mir angetan, erinnert mich von den Buddenbrooks, pardon, muss natürlich heißen, von der MANNschaft bis Grass – und da fällt die Episode des Lothar Malskat in der Rättin ein, jenes Restauratoren (der zudem ein ausgewachsener Humorist ist), der den Fresken des Domes zu Schleswig einer Gruppe von „Nordmännern“ aus Jux einen Truthahn zugestand, was in der Nähe des alten Haithabu sicherlich nicht nur Nazi-, sondern auch andere Bazigrößen davon überzeugte, dass diese Kirchenmalerei die Entdeckung Amerikas durch Wikinger beläge (wie schön der reine Konjunktiv da passt!). Wie war ich erstaunt, als die Zeit einige Jahre nach 1986 (da erschien die Rättin) ein Portrait der realen Geschichte des Künstlers ablieferte … was mich veranlasste, die Rättin mal in einem Zug zu lesen ...

Um dann doch noch eine zwingende Änderung anzumahnen:

Sie hatte einen Fleischklops gefressen, indem ein Angelhaken versteckt war.
Da sind wohl Präposition und Artikel (in + dem) als zusammengezogenes im mit der Subjunktion verwechselt worden. Egal, ob ich’s schon erwähnt hab: das muss geändert werden: die (Sub)Junktion (indem) ist hier der gelungene Missgriff gegenüber Präposition (in) und Artikel (des) Fleichklops’, IN dem ein Haken[kreuz] bewusst versteckt wurde – übrigens auch ein beliebtes Kampfmittel gegen Hunde!, wobei ich autoritäre bis totalitäre Tendenzen einem Schneewittchen nicht nachsagen, weil erst recht nicht zutrauen mag … Aber wer hat nicht schon ein Ersatzobjekt gefunden, um seine eigenen Schwächen auszuleben … Schön auch der Hinweis an alle lesenden Hunde- und Katzenartigen, dass im geschenkten Leckerchen auch ein Haken stecken kann.

Gruß

Friedel

 

Friedrichard schrieb:
aber diese Einfügung

Goldene Dame schrieb:
Wusstest du, dass dein Opa Lübeck nach dem Krieg wieder mit aufgebaut hatte?-
hatt’s mir angetan, erinnert mich von den Buddenbrooks, pardon, muss natürlich heißen, von der MANNschaft bis Grass – und da fällt die Episode des Lothar Malskat in der Rättin ein, jenes Restauratoren (der zudem ein ausgewachsener Humorist ist), der den Fresken des Domes zu Schleswig einer Gruppe von „Nordmännern“ aus Jux einen Truthahn zugestand, was in der Nähe des alten Haithabu sicherlich nicht nur Nazi-, sondern auch andere Bazigrößen davon überzeugte, dass diese Kirchenmalerei die Entdeckung Amerikas durch Wikinger beläge (wie schön der reine Konjunktiv da passt!).

lieber Friedel

Aus den Trümmern des Krieges ist eine neue Stadt entwachsen und mit ihr eine neue Generation. Es ist die Gesellschaft der Überlebenden, die die neuen Generationen geprägt haben und weiter prägen. Daher auch mein Titel zu dieser Geschichte. Das Verdrehen der alten Metapher sollte die Widersprüche im Sinnbild der Bestrebung des Individums nach der Suche seiner Identität preis geben. Woltochinons Kritik hat mir den Anstoß dazu gegeben, den Krieg als Ursprung für das Verfangen in der Hinterlassenschaft der Gewalterfahrung einzuflechten.

Danke nochmals für deinen sehr informativen Kommentar. War mir ein Vergnügen.

LG, GD

 

hallo Goldene Dame,

das ist der erste Text den ich von dir lese (glaube ich zumindest) und ich muss sagen, das ist nicht so meins. Mir kamen zuviele Fragen hoch. Am Anfang habe ich nicht durchgeblickt, ob Karin und die Mutter ein und dieselbe Person ist; dann wusste ich nicht, was der Telefonanruf sollte und warum deine Prot so aufgeregt deswegen war. Also kurz und gut: Ich konnte dem Text nicht ganz folgen, musste ihn ein zweites Mal durchlesen, hab ihn dann halbwegs verstanden, aber alles in allem war er sehr anstrengend.

Nun ja, vieleicht ist auch deine Erzählweise (poetisch) nicht so meins.... wie auch immer, ich wollte dir meinen Kommentar nicht vorenthalten.

Lg Engelchen

 

Hallo GD,

ich muss sagen, in der ersten Version waren mir ebenfalls zu viele Lücken; poetisch wars, mit schönen Bildern und Sätzen, aber es war eben schwer, irgendetwas dazu zu schreiben, wenn man nicht mal wusste, worum es geht.

Nun sehe ich zwei Protagonistinnen, die beide irgendwie in ihrer Weltdeutung der Vergangenheit feststecken. Auf der einen Seite die Tochter, die trotz ihres Alters (mindestens 17) noch sehr unreif wirkt, mit ihrem zum Garten flüstern (anstatt leise vor sich hinreden), mit ihrer Reaktion auf die um einen Tag verschobene Urlaubsreise und der fehlenden rationalen Bearbeitung der Erinnerungsfetzen. Sie scheint sich in der Ambivalenz zwischen dem fürsorglichen, liebevollen und gleichzeitig gewalttätigen Vater immer noch hilflos zu fühlen. So deutet sie eienn aktiven Anteil in den Tod ihres Vaters hinein, den es so wohl nicht gegeben hat.

Die Mutter löst die Spannung auf ihre Weise, mit Alkohol. Einerseits in ihrer Branche die souveräne, gefragte Ratgeberin, wagt sie es nicht einmal, ihre Tochter wegen deren Fahrstil zu konfrontieren, und leugnet das offensichtlich gewesene.

In dieser Reaktion sind sich Mutter und Tochter gleich, und erst zum Schluss hin, als die Mutter die Ambivalenz einmal verbalisiert ("Er war verbittert, dein Opa ... und dein Vater liebte ihn." glimmt für mich als Leser ein Fünkchen Hoffnung auf.

Ich fände es übrigens passender, wenn der Großvater Kiel wieder aufgebaut hätte, denn dort hat man nach dem Krieg viele historische Gebäude im Stadtkern (der ja oft das optische und gefühlte Herz einer Stadt ausmacht) nicht wieder hergestellt, sondern noch weiter zerstört, um völlig neues Leben aus den ruinen wieder auferstehen zu lassen - was viele in der Gegenwart als nicht gelungen bewerten. Das "neue", "unversehrte" und "heile" ist nun, was man als Stachel im Fleisch empfindet (zumindest, wenn man Büchern über die Stadtgeschichte glauben darf).
Über Lübeck weiß ich da zu wenig, da ist natürlich die räumliche Nähe zu Travemünde gegeben.

Aber das mit Kiel nur als Anregung.

LG, udn gern gelesen,
Pardus

 

Hallo goldene Dame!

Es gibt schöne, poetische Sätze in deiner Geschichte, die in mir
Bilder erzeugen, und doch ich kann nicht allzuviel damit anfangen.

Schon dieser ständige Wechsel zwischen "Mutter" und "Karin", hat
mich mehr als einmal aus dem Lesefluss gebracht. Erst spät wurde
mir klar, dass das eine Person ist.

An der Person der Tochter stört mich das Infantile.
Sehr erstaunt war ich, als sie sich ans Steuer setzte, bis dahin
hatte ich gedacht, es handle sich bei ihr um ein Mädchen von
höchstens zwölf oder dreizehn Jahren.
Denn diese Sätze:

Kraus die Gedanken. Bis in die Spitzen. Geflutet, ich bin schwerelos, über mir braust die See, ich sinke tiefer, es ist so leicht, bis es zu schmerzen beginnt. Dann rudere ich nach oben, teile den Vorhang, ringe um Atem.

Erinnern doch sehr an krude Gefühlszustände einer Pubertierenden.

Hier,

„Mama, komm endlich“, flüsterte ich dem Tausendschön im Vorgarten zu,

wirds direkt kindlich, also Grundschulalter mit Poesiealbum.


Und dann möchte ich noch sagen:

Da sind mir zu viele Lücken. Allzuviel muss ich mir zusammen
reimen, und das macht mir keinen Spaß.:confused:

Sie schreit. Ruft. Um Hilfe. Ihre Nase bricht. Krieche unter das Bett. Ziehe an seinem Ärmel. Er schüttelt mich ab. Groß sind seine Augen. Wie aus Glas sein Blick. Er geht in den Keller. Stille. Zu still. Karin umarmt ihn wieder. Weint. Hebt und stützt seine massige Gestalt. Schreit. Ruft. Wieder um Hilfe. Nur anders.
Nimm das Messer. Ich kann nicht. Reichen. Zu hoch. Für mich.

Was soll ich daraus machen? Und weshalb wird mir das als Leser
überhaupt zugemutet?

So bleibe ich, mit einigen schönen Sätzen zwar, aber doch recht
unbefriedigt zurück.:(

Gruß
Malina

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Engelchen, vielen Dank für deine Mühe, die du dir mit meiner Geschichte gegeben hast. Auch wenn sie dir nicht gefallen hat, imponiert es mir, dass du es zweimal versucht hast.
Hallo Pardus, das Schöne hier auf kg.de ist, dass viele Kommentare hilfreich sind und dieser Geschichte helfen, sie abzurunden. Die poetische Verdichtung ist und bleibt meins, und ich erzähle die Geschichte meiner Protagonisten meist über Bilder und meistens auch so, dass die Konflikte nicht lösbar erscheinen. Mir ist das tatsächlich erst aufgefallen, als ich die Kommentare gelesen habe. Daher habe ich die Geschichte, wie du es nanntest, um das Fünkchen Hoffnung, ergänzt. Kiel ist eine Stadt, in der ich kurzweilig gelebt habe. Du hast Recht. Diese Stadt ist ein Gräuel. Ich habe dieser Stadt nie besonderes Interesse geben können, war froh, ihr den Rücken kehren zu können. Vielleicht sollte ich einen neuen Blick auf diese Stadt werfen und eine Geschichte dort stattfinden lassen.

Hallo Malina, mit deiner Kritik kann ich nicht sehr viel anfangen. Du magst weder die Protagonisten, noch den Stil der Erzählung. Wenn du Spaß haben willst, dann kannst du eine andere Geschichte lesen. Mit dieser Geschichte hatte ich nicht die Absicht, den Gute Laune Bären und speziell, nur für dich, tanzen zu lassen. Meine Erzählabsicht ist eine andere und zugemutet habe ich dir allerhöchstens die Auseinandersetzung mit einem Stilmittel. Vielleicht kannst du dich mal herablassen, diesen Stil nicht als Zumutung zu betiteln, sondern dich konstruktiv damit auseinandersetzen.


Beste Grüße Euch allen, aus dem sonnigen hohen Norden, GD :))))

 

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