- Beitritt
- 31.08.2008
- Beiträge
- 594
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 14
Im Fotoclub
The trouble with the world is that the stupid are cocksure and the intelligent are full of doubt.
Bertrand Russell
„Meine lieben Fotofreunde!“, hob der Vorsitzende, Herr Schmidt an, „ich begrüße Euch zu unserem heutigen Treffen und freue mich, daß Ihr so zahlreich erschienen seid.“ Herr Schmidt war grauhaarig und trug eine dicke Brille. Er senkte den Kopf, um seinen Handzettel zu lesen. Die Versammlung beruhigte sich.
„Was haben wir denn heute auf der Tagesordnung?“, fuhr er fort. „Ach ja, die Bewertung der Bilder zu den Themen Leben, Alltag, Schwarz/Weiß, Erotik und Natur. Gibt es weitere Tagesordnungspunkte?“
Frau Meyer meldete sich: „Unser geplanter Ausflug.“
„Ach ja“, sagte der Vorsitzende. „Und noch?“
Herr Piepenbrink meldete sich zaghaft: „Wir haben heute Gäste dabei. Vielleicht sollten wir uns denen mal vorstellen.“
„Ja, ähäm ähäm“, meinte der Vorsitzende. „Also wir sind der Fotoclub Gutdünken e.V. von 1897. Es freut mich, daß sie Interesse an unserem Verein zeigen. Darf man fragen, wie sie auf unseren Verein aufmerksam geworden sind?“
Herr Horn, ein kräftiger Mann mittleren Alters: „Ja, sicher. Durch die Artikel in der Zeitung über Ihre Ausstellung. Dort wurde ja auch zu diesem Treffen eingeladen.“
„Ja, sehr schön…hm…fahren wir fort. Die Bewertung der neuen Arbeiten. Ich bitte um Auslage.“
Alle standen auf und breiteten ihre Ausdrucke der neuen Fotos auf den Tischen und dem Tresen aus. Dann gingen sie herum und besahen die Fotos.
„Sehr schön, dieses Bild von Herrn Straff heute wieder“, sagte Herr Kunz. „Einfach toll, wie er das kann.“ Herr Straff, ein junger durchtrainierter Mann mit lockigem Haar und einem Hugo Boss Jackett, nahm sich ein Bild des ergrauten Herrn Piepenbrink vor:
„Die Komposition ist nicht stimmig. Du hältst die Diagonale nicht ein.“
„Genau“, stimmte Herr Kunz zu, „und den Horizont mußt Du so legen, daß Du den goldenen Schnitt triffst.“
Nun war ein Bild von Herrn Wotzek dran:
„Was macht denn der Vogel da unten im Bild?“, fragte Herr Straff.
„Der war da. Der gehört da hin.“
„Ich finde, er stört. Packe nichts ins Bild, was Du für die Bildaussage nicht unbedingt benötigst. So ist das Bild nicht fertig. Mußt Du noch nachbearbeiten.“
„Danke für Deine Kritik. Ich werde es versuchen“, antwortete Herr Wotzek und setzte sich, wobei ihm eine graue Strähne vor die Brille rutschte.
„Dein Bild langweilt mich auf den ersten Blick. Ich habe gar keine Lust, es weiter zu betrachten“, sagte Frau Rock, eine resolute Frau mittleren Alters mit langem, etwas fettigen schwarzen Haar und einem zu engen schwarzen Pullover, zu Frau Liebig, eine zarte, vom Alter gebeugte Dame.
„Kannst Du nicht noch was reinlegen? Einen Farbklecks oder sowas?“
„Wie das denn?“ fragte Frau Liebig zurück.
„Montiere doch mal ein rotes Cabriolet an diese Stelle. Das bringt die fehlende Spannung rein.“
„Ja, danke. Das werde ich versuchen. Danke, daß Du mein Bild angeschaut hast“, sagte Frau Liebig und setzte sich.
Herr Straff nahm sich das Bild von Frau Meyer vor:
„Seht Euch mal diesen Vogel an. Das ganze Bild ist bunt. Wo ist der Kontrast?“
Frau Rock setzte noch eins darauf:
„Ja, wo ist der Kontrast? Kannst Du den Vogel nicht ein bißchen farbiger machen?“ Sie wies mit einer wurschtigen Handbewegung auf den Papagei, der auf einem Zweig in einem blühenden Baum saß.
„Wie soll ich das machen?“ fragte Frau Meyer zurück.
„Du kannst ihn doch selektiv filtern. Noch nie gemacht? Das ist doch Anfängerniveau! Wofür haben wir Adobe Photoshop?“
„Aber der Papagei ist doch so, wie er ist. Und er ist auch schön so…“, sagte Frau Meyer.
„Quatsch! Der Vogel muß peppen!“, sagte Frau Rock laut.
Nun nahm sich Herr Straff ein Bild der jungen, blonden Frau Wolle und hielt es hoch. Er hob an, zu sprechen, wobei seine Augen hellgrau wurden; die Pupillen verengten sich auf Stecknadelkopfgröße:
„Dieses Foto ist weder unterhaltend, noch lustig, noch spannend, noch erotisch, noch poetisch - das ist schlichtweg nichts. Versuche Dich doch einmal an einfacheren Motiven. Und übe fotografieren. Dann wird das auch was“, ergänzte er. Die anderen nickten beipflichtend.
Frau Rock flüsterte mit Frau Meyer, wobei sie immer lauter wurde: "Wenn Du mit unserer Form der Kritik nicht einverstanden bist, geh' doch in einen anderen Verein; davon gibt es genug!"
Nun wandte sich Frau Rock zu dem Bild von Herrn Schultze:
„Dieses Bild ist einfach unumstritten stinklangweilig. Nur irgendetwas ohne Sinn und Verstand zusammengestellt und geknipst. Finde ich reichlich albern“, stellte sie in den Raum und griff sich das Foto. Sie hielt es so hoch, daß man erwartete, sie würde es auf ihrem bedrohlich wogenden Busen abstellen, aber dann hätte sie ja Herrn Schultze nicht mit ihren despektierlichen Blicken abstrafen können:
„Seht mal her. Hier ist unheimlich viel Detail in Deinem Bild, das überhaupt keinen Wert hat, nur als Füllsel dient. Das solltest du alles ersatzlos raus retuschieren. Das alles entlockt mir nur ein müdes Gähnen, sorry."
Auch das Bild von Frau Knecht war heute nicht wohl gelitten. Frau Rock griff sich das Bild und hielt es an einer Ecke schräg hoch:
„Das soll erotisch sein. Haare vor dem Gesicht. Was macht denn der Zeh da im Mund? Nimm mal die überflüssigen Details weg und geh ran. Erotik heißt Nähe, heißt ran mit der Kamera. Alles muß ins Bild. Zeige uns die harten Tatsachen. Nichts offen lassen. Du willst uns doch mitreißen. Also tu das auch. Sonst gibt das Bild keinen Kick.- Na ja, in Erotik kommt ohnehin kaum einer an mir vorbei. Mach‘ dich an‘s korrigieren, sonst wirst du hier nicht viel Beachtung finden!“
Frau Knecht war ehrerbietend aufgestanden. „Danke für die Kritik und die Mühe“, sagte sie devot und setzte sich wieder.
Nun stellte Frau Rock selbst ihr neues Bild vor: stolz strahlend hielt sie es hoch. Es zeigte zwei nackte Frauenbeine mit Tanzschuhen daran, gespreizt und in die Höhe gestreckt, und zwischen diesen Beinen einen nackten Männerarsch samt Rücken. Die Hände der Frau verloren sich im Raum, als wäre es zu viel, diesen Mann nun auch noch anzufassen, wo er doch schon zwischen ihren Beinen lag. Frau Rock strahlte selbstbewußt.
„Ja, sehr erotisch!“, meinte Herr Straff, „wie Du das wieder hingekriegt hast!“
Die übrigen nickten andächtig.
„Ja, toll nicht“, gefiel sich Frau Rock, „und es ist nicht gestellt! Es ist nicht gestellt!“
Die drei Gäste murmelten untereinander. „Das wird ja immer schlimmer“, meinte Herr Eschenhagen zu Frau Tati. Herr Horn schwieg betreten.
An der Tür klopfte es. „Herein!“, rief mit kräftiger Stimme der Vorsitzende. Ein Junge von ungefähr 14 Jahren kam herein, trug ein großes Bild in der Hand und legte es auf den Tisch. „Ist das hier der Fotoverein Gutdünken? Ich wollte mal fragen, ob ich hier teilnehmen kann.“
„Ja, sicherlich“, antwortete der Vorsitzende generös, „zeig doch mal, was Du uns mitgebracht hast. Wie heißt Du denn?“
„Peter“, antwortete der Junge und zog das riesige Foto aus dem Umschlag.
„Und was stellt das Bild dar?“, fragte der Vorsitzende.
„New York“, sagte der Junge. Neugierig rückte die Runde nun näher, um das Bild zu betrachten. Eine finstere Gasse war darauf zu sehen, ein wie ein Ganoven wirkender Mann, die sich an eine schmutzige Fassade lehnte und eine Waffe schußbereit machte. Die Straße entlang fuhr ein Polizeiwagen mit einer Polizistin und einem Polizisten. Man konnte ahnen, daß der Ganove wenig später auf den Wagen schießen würde. Die Szene wirkte unheimlich, dunkel, aber auch so vielfältig, daß man die vielen kleinen Unstimmigkeiten, die auch darin waren (warum ging der Ganove nicht einfach unauffällig davon?) zunächst nicht beachtete.
„Warum soll das New York sein?“, fragte einer, „das ist doch eine schummrige Straße in Kiel.“
„Ich wollte es so wirken lassen, als wäre es New York“, antwortete der Junge.
„Warst Du denn einmal dort?“, fragte Frau Rock.
„Nein…“, sagte der Junge.
„Nein, sorry, Junge, mach Bilder zu Themen, die du kennst! Und wenn du es nicht kennst, dann recherchiere, so lange, bis es aus dem Effeff sitzt. Meiner Meinung nach taugt dieses Bild nur zum in die Tonne kloppen! Da stimmt einfach gar nichts!“
Der Junge ließ das Bild auf dem Tisch liegen und verließ mit Tränen in den Augen den Raum; niemand beachtete ihn weiter.
Der Vorstand sagte: „Liebe Freunde, wir haben heute Gäste. Laß‘t uns nun deren Bilder besehen.“
Herr Horn schob sein Bild auf den Tisch. Es zeigte eine Schwarz-Weiß-Aufnahme, eine traurige Frau in schwachem Licht.
„Das ist ja gar nicht korrekt belichtet“, sagte Frau Rock. „Seht mal, wie die dunklen Partien absaufen. Und die hellen sind ausgefressen.“
„Aber das ist doch ein Stilmittel“, wandte Herr Eschenhagen ein, „eine depressive Frau ist in ihren Gefühlen auch reduziert. Durch die Verengung der Graustufen und die Herausstellung der Umrisse wird der Ausdruck unterstrichen.“
„Wenn nicht alle Graustufen differenziert abgebildet werden, ist das Bild falsch belichtet oder falsch bearbeitet“, stellte Herr Straff fest. „Ein gutes Bild hat alle Graustufen. Das ist die Voraussetzung. Dieses Bild sollten wir so gar nicht ansehen. Es sollte erst einmal in die Korrektur.“
Das Bild von Frau Tati war zu klein, um betrachtet zu werden, und wurde übergangen. Das Bild von Herrn Eschenhagen war auf den ersten Blick nicht übersichtlich. Man hätte sich etwas in das Bild vertiefen müssen, um die Inhalte und die Aussage aufzunehmen.
„Die Komposition paßt mir gar nicht“, stellte Herr Straff fest.
„Aber die gehört zur Bildaussage“, antwortete Herr Eschenhagen.
„Die Komposition muß stimmig sein. Die Aussage müssen Sie dem anpassen“, befand Herr Straff.
„Aber diese Aussage ist es, was ich mitteilen möchte“, versuchte es Herr Eschenhagen noch einmal.
„Boah! Und was soll die Aussage sein? Damit reißt Du mich aber nicht vom Hocker. Who cares?“, stellte Frau Rock fest.
Herr Franz, ebenfalls ein Neuling im Club, ein Jugendlicher mit gelockten dunklen Haaren und schlankem, großen Wuchs, hatte schon darauf gewartet, endlich sein Bild präsentieren zu können. Es war ein hübsches kleines Bild mit regelmäßigen Mustern, wie ein Stück aus einer Tapete. In der Mitte konnte man ein tanzendes Kind erkennen. Das Bild war auf den ersten Blick faszinierend.
„Was soll das denn bedeuten?“, fragten gleich mehrere.
Herr Meyer ergänzte: „Ich finde das schade, da fehlt für mich das Entscheidende am Bild, nämlich die Aussage, du hast nur ein Gefühl dargestellt, nämlich, dass das Leben weitergehen muss und weiter und weiter und weiter ...
Herr Franz dozierte: „Sicherlich ist es schwer, die Aussage dieses Bildes hinter den Strukturen zu erkennen, wesentlich leichter wird es jedoch schon, wenn man sie sucht.“
Die Leute räusperten sich.
„Sie haben scheinbar sehr genaue Vorstellungen davon, wie eine Komposition zu sein hat und wie nicht. Sicherlich gibt es da diverse Regeln, die wiederum diversen Leuten dabei helfen sollen, diverse schwierige Bilder verstehen, warum mögen denn so wenige Leute z. B. Vasareli?, allerdings habe ich mich nie mit solchen Dingen beschäftigt und werde es in naher Zukunft auch nicht tun.“
Herr Meyer hielt dagegen: „In dieser Form kommt deine Intention bei mir nicht an, erst nach deinen Ausführungen, die sollten aber normalerweise nicht von Nöten sein. Wenn so viele Leute Vasareli hassen, dann würdest du ihn nicht kennen. Und ich kann eh Fotografen nicht ab, die irgendeinen großen Künstler nehmen und sagen: den hat man auch nicht verstanden und trotzdem ist er genial.
Herr Franz kam nun erst richtig in Fahrt:“Die Leute sollen denken, rätseln, mir geht es nicht darum, dass sie während des Betrachtens lachen oder weinen!“
Jetzt meldete sich wieder in ruhigem Ton der Vorsitzende zu Wort:
„Wenn ich rätseln möchte, kaufe ich mir ein Rätselheft. Nichts gegen das Nachdenken, genauso wenig dagegen, dass Leute beim Lesen lachen oder weinen, aber "rätseln"? Nein danke.“
Frau Seelig, eine gutmütig wirkende Frau in den besten Jahren, die immer lange weiße Katzenhaare auf ihrem Pullover hatte, war bisher im Hintergrund geblieben. Jetzt blitzten ihre sonst freundlichen dunklen Augen auf: „Deine klassisch-jugendliche unbelehrbare Großkotzigkeit ist, obwohl ganz reizend und auch rührend, ein Rohrkrepierer.
Ich seh Dich richtig mit dem Fuß aufstampfen. Falls Du jetzt über die nächste vermeintlich unschlagbare Retourkutsche nachdenkst: Laß' es lieber. Ich habe eine pubertierende Tochter; mit dir werde ich schon lange fertig.“
Nun wurde der nächste Tagesordnungspunkt aufgerufen. Die Gäste machten sich daran zu gehen. Der Vorstand bemerkte dies, ging zu ihnen herüber und sprach sie an:
„Ich hoffe, es hat Ihnen gefallen und wir sehen Sie hier wieder.“
Die Gäste zuckten mit den Schultern.
„Ja, wir sind etwas festgefahren. Ein paar Neue täten uns gut. Es gibt ja auch neue Strömungen, so etwas wie experimentelle Fotografie. Aber das macht hier niemand.“ Wieder Schulterzucken.
„Na ja, Sie könnten doch frischen Wind hineinbringen. Auf Wiedersehen dann bis zum nächsten Mal.“
Herr Horn blieb dabei, lieber ohne Verein weiter zu fotografieren. Frau Tati sah sich in den nächsten Wochen noch in anderen Vereinen um. Herr Eschenhagen packte seine Kameras und Objektive in eine große Kiste, klebte sie zu und schleppte sie keuchend auf den Dachboden. „So etwas erlebe ich nie wieder!“, versprach er sich selbst. Dann meldete er sich im Internet in einem Literaturforum an.
Herzlichen Dank an die Koautoren!