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Im fahlen Mondlicht
„Sei lieb, mein Schatz.“
Mama drückt mir einen Kuss auf die Wange und zieht meine Mütze zurecht.
Ich nicke bloß und nehme meinen Koffer.
„Und ruf an, ja?“
„Klar.“, antworte ich und versuche ein Lächeln.
Nervös tritt sie von einem Bein aufs andere und sieht mich fast verlegen an, wie ein kleines Kind, dass etwas Verbotenes getan hat. Sie weiß genau, dass ich nicht zu Tante Dagmar fahren will.
„Schon okay.“, meine ich. „Geht eben nicht anders.“
Meine Mutter seufzt. „Gut. Dann solltest du besser einsteigen.“
Noch einmal nimmt sie mich fest in den Arm. Zwei Wochen werde ich sie nicht sehen. Zwei Wochen werde ich in Norddeutschland verbringen, während meine Mutter geschäftlich in Portugal zu tun hat und mein Vater im Knast hockt.
Der Zug fährt langsamer. Ich habe fast die ganze Zeit lang geschlafen, nur am Ende nicht, da habe ich aus dem Fenster geschaut und sogar das Meer gesehen.
Als der Zug hält, schnappe ich mir meinen Koffer von der Gepäckablage und gehe nach draußen, wo mir der kalte Novemberwind ins Gesicht weht.
„Pia!“, ruft hinter mir eine Frauenstimme, und als ich mich umdrehe, kommt eine ältere Dame mit Hut und Mantel auf mich zu.
„Tante Dagmar?“, frage ich zögernd. Ich habe keine Ahnung, wie sie aussieht. Das letzte Mal habe ich sie immerhin im Alter von drei Jahren gesehen.
„Ja. Komm mit, der Wagen steht da hinten.“
Mit diesen Worten dreht sie sich auf dem Absatz um und eilt voraus, ich folge ihr hastig. Keine Umarmung, nicht einmal eine richtige Begrüßung oder ein nettes Wort.
Ich legte meinen Koffer auf die Rückbank und setzte mich auf den Beifahrersitz.
Dagmar lässt den Motor an und lenkt den klapprigen Wagen stadtauswärts, ohne ein Wort zu sagen. Wir sitzen da, schweigend, so eine geschätzte Viertelstunde lang. Da springt plötzlich etwas von hinten auf mich, sodass ich vor Schreck aufschreie.
„Kannst du nicht aufpassen?“, schreit Dagmar und schaut mich wütend an. „Fast hätte ich das Steuer verrissen.“
Ich beachte sie kaum, sondern fixiere die Katze, die es sich zu meinen Füßen bequem gemacht hat. „Wieso hast du Katzen im Auto?!“
„Was dagegen?“ fragt sie spitz. Ich habe nichts gegen Katzen, doch diese scheint nicht das freundlichste Geschöpf zu sein. Ich versuche, sie zu streicheln, aber sie faucht so laut, dass ich zusammenzucke.
„An die Katzen musst du dich gewöhnen, Nichte. Ich habe einige davon, und wenn du ihnen auch nur ein Haar krümmst, kannst du gleich wieder abhauen.“
Nichte! Wie das klingt. Ich schlucke, setze mich aufrecht hin und sage kühl: „Könntest du bitte etwas freundlicher mit mir sprechen? Ich weiß nicht, was ich gemacht habe.“
Sie schnaubt, während sie plötzlich anhält. Wir sind im Wald, mittendrin, neben uns ein kleines, halb verfallenes Holzhaus.
„Wir sind da.“, meint sie schnippisch und steigt aus, die Katze auf dem Arm. Als ich allein im Auto sitze, lasse ich mich erschöpft nach hinten sinken. Scheiße.
Als ich im Zimmer sitze, kann ich kaum noch klar denken. Auf meinem Bett liegen drei Katzen, eine weitere streicht mir um die Beine. Dagegen hätte ich ja auch gar nichts, wenn sie nicht alle pechschwarz wären. Nicht, dass ich abergläubisch wäre, aber vier schwarze Katzen und geschätzte zwanzig unten im Erdgeschoss eines verfallenen Hauses jagten mir dann doch einen Schauer über den Rücken.
Ich nehme mein Handy und wähle die Nummer meiner Mutter.
„Vergiss es, Pia. Kein Empfang.“
Ich fahre erschrocken herum, wo meine Tante im Türrahmen steht. Bilde ich es mir ein, oder sehe ich ein gehässiges Grinsen über ihr knochigen, blassen Wangen huschen?
Beim Abendessen fühle ich mich unwohl. Alles, was ich will, ist daheim sein. Aber das geht nun einmal nicht, also löffle ich weiterhin brav meine Suppe, ohne aufzusehen.
Ich merke auf einmal, dass sie nicht isst, sondern mich anstarrt.
„Alles okay?“, will ich wissen. Ich hasse es, angestarrt zu werden.
„Du siehst ihm ähnlich.“, murmelt sie, dann spuckt sie die Worte förmlich aus, „Du siehst genauso aus wie er.“
Ich schlucke meine Suppe hinunter. „Wem?“
„Deinem Vater. Oh, wie ich ihn für all das hasse, was er getan hat, ein abscheulicher Mensch ist er, eine Kreatur, ein egoistischer ... “
„Halt den Mund!“, rufe ich. Mehr nicht.
„Dein Vater ist ein Mörder, Pia.“
„Nein, das ist er nicht.“ Meine Stimme ist fest und klar. „Und irgendwann werdet ihr alle sehen, dass er es nie getan hat. Er hat Jonas nicht umgebracht!“
„Jonas. Wie süß. Und so unschuldig. Wenn er es nicht war, wer dann?“
Sie beugt sich zu mir vor, sodass ich ihre goldenen Plomben sehen kann und ihre eisblauen Augen nur wenige Zentimeter von den meinen entfernt sind. Sie durchsticht mich förmlich mir ihrem Blick, aber ich halte Stand.
„Er hat Jonas immer gern gehabt, er hat sich immer um ihn gekümmert. Er war wie mein Bruder, nicht nur irgendein Nachbarsjunge. Er gehörte zur Familie.“
„Du kennst deinen Vater nicht.“, knurrt die Frau. Ihre Stimme macht mir Angst, doch zugleich verdoppelt sie meine Wut.
„Aber du kennst ihn wohl?!“, will ich wissen.
„Ich bin seine Schwester. Wenn ich ihn nicht kenne, wer dann?“
„Er hat mein wahres Beileid, einen Menschen wie dich zur Schwester zu haben.“, schnaube ich. „Ich will nach Hause fahren, morgen.“
Meinen letzten Satz ignoriert Dagmar vollkommen. Sie fährt fort.
„Dein Vater hat Schande über mich gebracht.“ Während sie spricht, beobachtet sie mich scharf, doch ich versuche, mich zusammenzureißen. „Über uns alle! Wäre er doch damals aus dem Koma nie mehr aufgewacht, dann hätte man ihn vergessen und niemals hätte jemand aus der Familie noch über seine Untat gesprochen. Dieser Mann ist es nicht wert, zu leben, er soll in der Hölle verkommen wie ein - “
Ich springe auf, so schnell, dass der Stuhl umkippt. „Halt endlich die Klappe!", brülle ich, „Mein Vater hat keine Schuld!"
"Oh, du hast keine Ahnung", knurrt sie mich an. "Er hat den Tod verdient."
"Du hast den Tod verdient!", schreie ich ihr ins Gesicht, "Niemand sonst, Dagmar!"
Sie starrt mich an. Und in ihrem Blick liegt etwas, was ich nicht richtig deuten kann. Fast wirkt ihr Blick triumphierend, und das macht mir in gewisser Weise ungeheure Angst. Sie lächelt plötzlich, als hätte ich soeben etwas gesagt, was sie zu hören gehofft hatte. „Du wünscht also, ich sei Tod.“
Mein Atem geht stoßweise, so aufgeregt bin ich. „Oh ja, das wünsche ich."
Das habe ich noch niemandem gesagt, niemandem. Aber ich weiß, dass Dagmar es verdient hat.
Ich mache kehrt und stürme die Treppe herauf, Tränen rinnen mir über die Wangen. Mein Vater ist unschuldig, das weiß ich genau.
Als ich in dieser Nacht im Bett liege, kann ich nicht schlafen. Der Wind heult um das Haus, ich höre das klappern der rostigen Fensterläden. In meinem Zimmer schleichen noch immer einige Katzen umher, ich habe es nicht geschafft, sie zu verscheuchen.
Ich habe Angst. Meine Tante hat mir Angst gemacht. Dieses Haus macht mir Angst. Die Katzen. Ich schließe die Augen, doch immer wenn ich es tue, sehe ich ihr Lächeln vor mir – das kalte, wartende Lächeln. Ihren Blick, mit dem sie mich gefragt hat, ob ich ihren Tod herbeiwünsche. Ich nehme mein Handy und schalte die Musik ein. Es ist schlechte Qualität und ich habe keine schönen Lieder, aber ich ertrage diese gespenstische Stille nicht. Dann, irgendwann, geht das Handy aus. Einfach so. Ich schüttele es, drücke Tasten, doch es macht nichts mehr. Am Akku kann es nicht liegen, der war voll gewesen. Seufzend lege ich es neben mein Kopfkissen, das beruhigt mich ein bisschen. Auch wenn ich hier im Notfall keinen Empfang hätte.
Ein Schrei.
Und gleich darauf ein dumpfer Schlag, auf den viele andere Folgen.
Stille.
Erstarrt und kerzengerade sitze ich im Bett.
Ich taste nach dem Lichtschalter, doch das Licht geht nicht an.
Verzweifelt knipse ich den Schalter an und wieder aus, aber es tut sich nichts.
Ich stehe auf und gehe im Dunkeln zum Schreibtisch, auf dem eine Taschenlampe steht. Dann öffne ich die Zimmertür. Alles finster.
„Tante Dagmar?“ rufe ich in die Finsternis. „Hallo? Alles in Ordnung?“
Kein Wort. Kein Geräusch. Mein Herz klopft mir bis zum Hals. Am liebsten hätte ich mich ins Bett verkrochen, aber ich musste nachsehen, was da los war. Vielleicht war meine Tante gestürzt und bewusstlos, brauchte einen Arzt. Ich nehme die Taschenlampe in die Faust und gehe an der Wand entlang zur Treppe. Leuchtende Katzenaugen sehen mich an. Bilde ich es mir ein, dass sie bedrohlich fauchen und alle nur mich fixieren?
Ich schüttele den Kopf, und die schaurigen Gedanken loszuwerden, die mir durch den Kopf jagen. Ich habe wohl zu viele Horrorfilme geschaut.
Als ich die Treppe hinabsteige, knarren die Stufen bei jedem Schritt. Noch immer heult der Wind ums Haus. „Dagmar?“ frage ich verzweifelt in die Stille hinein, doch wieder keine Antwort.
Ich habe immer mehr Angst. Soll ich umkehren? Nein, jetzt nicht mehr.
Ich habe das Erdgeschoss erreicht und stehe in der Diele, vor mir die große Eichentür, die zum riesigen Esszimmer führt. Hinter mir öffnet sich eine andere Tür und ich schreie auf. Eine Katze! Können Dagmars Katzen Türen öffnen?!
Ich umklammere die Taschenlampe fester und wende mich wieder der Eichentür zu, wobei ich die halb offen stehende Tür hinter mir jedoch nicht aus den Augen lassen kann. Ich stoße die Tür zum Esszimmer auf. Dunkelheit, man sieht rein gar nichts, nicht einmal die Hand vor Augen.
„Tante Dagmar?“ frage ich. Meine Stimme zittert vor Angst. Ich leuchte mit der Taschenlampe auf den Fußboden. Der riesige Tisch ist umgefallen, alle Stühle mit ihm. Ich leuchte höher.
In diesem Moment glaube ich, mir bleibt das Herz stehen, als ich in ihre kalten Augen Blicke. Tote Augen. Der Schrei, den ich nun ausstoße, ist lauter und panischer als alle zuvor.
Ich liege am Boden, sehe nichts mehr. Ich fange fast an zu weinen, aber ich nehme mich zusammen. Ich war zurückgewichen und gestolpert, die Taschenlampe war ausgegangen und liegt nun irgendwo am Fußboden herum. Nein, nein, es kann nicht sein, es kann nicht sein. Doch ich weiß, was ich gesehen habe, ihren blassen Körper, wie er da hing, über dem Tisch, den Strick um den Hals und die Augen weit aufgerissen. Am Kronleuchter hat sie es getan. Am Kronleuchter hat sie sich erhängt.
Panisch taste ich nach der Taschenlampe, aber ich finde sie nicht. Also taste ich mich weiter, in Richtung Diele, einfach weg von meiner erhängten Tante. Meine Bewegungen sind hektisch, so sehr, dass ich irgendetwas auf den Boden werfe. Es zerspringt in lauter Scherben.
Ich fühle die Türklinke unter meine Fingern, drücke sie auf und stürze in die Diele. Hinter mir schließe ich die Tür ganz fest und lehne mich keuchend dagegen. Meine Tante. Erhängt. Tod. Selbstmord. Oder habe ich mich getäuscht?! Nachsehen will ich kein zweites Mal.
Aber wohin jetzt?!
Meine Tante muss doch ein Telefon haben, oder etwa nicht? Ich denke fieberhaft nach. Da fällt es mir ein: ich habe eines gesehen, ja. Auf dem Beistelltisch im Esszimmer. Aber da werde ich nicht hingehen, ich werde diesen Raum nicht wieder betreten, unter keinen Umständen.
Plötzlich fällt mir unser Gespräch beim Abendessen ein. Ich habe ihr den Tod herbeigewünscht. Heißt das, dass ich ... Nein! Es ist nicht meine Schuld, es konnte gar nicht meine Schuld sein. Es durfte nicht so sein.
Ich versuche einen klaren Kopf zu bekommen. Warten. Warten, bis es hell wird, das wird das beste sein. Zu etwas anderem habe ich keinen Mut und keine Kraft.
Völlig ohne Licht irre ich die Treppenstufen nach oben, werde schneller, wenn ich daran denke, dass hinter mir völlige Dunkelheit herrscht und nur einige Meter weiter die Leiche von Dagmar im Esszimmer hängt. Ich falle fast hin, so hastig laufe ich hinauf, doch dann habe ich es geschafft. Ich drücke die Tür zu meinem Zimmer auf, in das fahles Mondlicht fällt.
Auf dem Bett sitzt meine Tante und starrt mich an.
Der Strick hat einen Abdruck auf ihrem Hals hinterlassen.