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Im fünften Stockwerk
Hänsel sagte zu Gretel "wir werden den Weg schon finden", aber sie fanden ihn nicht. Sie gingen die ganze Nacht und noch einen Tag von Morgen bis Abend, aber sie kamen aus dem Wald nicht heraus, und waren so hungrig, denn sie hatten nichts als die paar Beeren, die auf der Erde standen.
>Hänsel und Gretel< Gebrüder Grimm
Es war schon sehr spät. Jacks und Lisas Eltern glaubten, ihre beiden, zehn Jahre alten, Sprösslinge, seien längst in ihre warme Bettdecken, mit Superheldenmotiv, eingewickelt. Doch die Geschwister huschten leise in ihrem Zimmer herum und packten Dinge ein, die sie auf ihrer Reise benötigen würden. Sie hatten vor zu verschwinden. Sie konnten das Bild ihres Vaters, der des öfteren Nachts zu ihnen ins Bett stieg, und das ihrer Mutter, die sich tagtäglich lieber mit ihrem Alkohol vergnügte, nicht mehr ertragen. Vor einiger Zeit hatten Jack und Lisa schon aufgehört an die glücklichen Tage zu denken, und nun war der Zeitpunkt erreicht, an dem sie keine Hoffnung mehr verspürten.
Leise öffneten die Kinder die Wohnungstür und traten ins dunkle Treppenhaus des mehrstöckigen, vergammelten Gebäudes. Der Fahrstuhl war seit langem defekt und so mussten sie sich auf den anstrengenden Weg, die Treppe hinunter, machen. Die meisten der billigen Lampen, die in gleichen Abständen, an die Wand montiert waren, funktionierten nicht mehr. Dieser dunkle Weg nach unten, demotivierte die Kinder, und sie wussten, dass es schlimmer werden würde, denn sie waren kurz davor durch die Straßen von New York City zu irren, auf der Suche nach Erlösung. Als sie fünf Stockwerke bewältigt hatten, hielten sie an. Durch ein Fenster, am Ende des Flurs, schien das grelle Licht einer Neonreklame herein und beleuchtete etwas, was sich auf dem Boden, in gerader Linie und gleichen Abständen, bis zum Ende des Flurs fortsetzte. Lisa hatte Angst. Sie hatte immer Angst wenn es dunkel war, doch dieses Mal würde ihre Angst begründet sein.
Jack ging deswegen alleine den Flur entlang. Er war neugierig und stellte dann fest, dass die Dinge auf dem Boden Süßigkeiten waren. Kleine Häufchen von Gummibärchen lagen den Flur entlang. Die Kinder hatten seit einigen Tagen nichts mehr gegessen, da ihre Eltern es wohl nicht für nötig hielten. Deswegen kam ihnen diese kleine Mahlzeit gerade recht. Lisa fing an vom ersten Häufchen zu essen, während Jack weiter den Flur entlang lief, dem Licht entgegen. Zu spät erkannte er die offene Tür am Ende und als Lisa, durch einen kurzen Schrei aufgeschreckt, in seine Richtung blickte, sah sie nur wie eine schattige Hand den Jungen am Hals hielt und ihn dann mit erschreckender Wucht in das dortige Zimmer zog. Lisa war erstarrt vor Angst. Was war geschehen? Was sollte sie jetzt tun? Wimmernd saß sie noch immer auf dem miefenden Teppich des Flurs und hielt sich beide Hände vor den Mund. Nur kurz wischte sie sich die Tränen aus den Augen und als sie ihre Hände wieder senkte, sah sie die dunkle Gestalt, die nun vor dem Fenster stand. Sie hatte breite Schultern und die Arme hingen angespannt an ihrer Seite, während sie begann langsam den Flur hinunterzustampfen. Lisa fiel zurück, schaffte es dann trotz niederschmetternder Angst aufzustehen und die Stufen hinabzurennen. Sie konnte ein leises Schnaufen hinter sich wahrnehmen und rannte schließlich schneller als sie blicken konnte. Ihre Flucht nahm ein jähes Ende, als sie stolperte und mit dem Kopf hart auf einer Stufe aufschlug.
Ihr lief Blut in die Augen, als sie erwachte. Man hatte sie gefesselt und geknebelt. Sie schaute sich entsetzt um. Ihr Bruder lag neben ihr auf dem Boden des dunklen Raums, die nur von einigen schwachen Kerzen beleuchtet wurde. Aus einem weiteren Raum, am Ende des Zimmers, in dem die Geschwister sich befanden, drang ein helles, stechendes Licht. Lisa war sich sicher, dass sie auch ein Geräusch gehört hatte und als sie etwas genauer lauschte, konnte sie ein melodisches Pfeifen hören. Irgend jemand, irgend etwas fand die Anwesenheit der Kinder sehr erheiternd.
Das hilflose Mädchen versuchte gerade noch genauer hinzuhören, als Jack plötzlich erwachte. Er litt noch unter dem selben Schreck, dem er vor seiner Bewusstlosigkeit verfallen war und trat mit einem unbewussten Schritt gegen einen Holztisch. Eine Vase landete mit lautem Klirren auf dem Boden und das Pfeifen verstummte. Mit weit aufgerissenen Augen starrte Lisa zum Licht und erwartete bereits das Erscheinen ihres Entführers. Und tatsächlich zeichnete sich eine Gestalt vor dem Licht ab. Sie hatte ein Messer in der Hand und bewegte sich keuchend auf die beiden Kinder zu. Sie wollten schreien, doch kein Ton drang durch ihre Knebel. Die riesig wirkende Gestalt kam immer näher und trat schließlich in das gedämpfte Licht einer Kerze. Lisa und Jack erkannten, dass sie es nicht mit einem schleimigen Monster oder einem schwarzen Mann zu tun hatten. Eine faltige, alte und dreckige Frau hatte sie entführt. Trotz ihres augenscheinlich sehr hohen Alters, sah sie kräftig aus. Ihr Gesicht war dermaßen von Falten durchzogen, dass es wirkte als träge sie eine abstoßend aussehende Maske.
"Ah, ihr seid endlich wach. Dann kann ich ja das Gemüse ins Wasser werfen." Ihre Stimme klang rauh und kratzig. Sie drehte sich um und ging zurück in die Küche.
Jack war kurz erleichtert, doch schnell wurde ihm bewusst, dass die alte Frau gleich wiederkehren würde und er fing an zu wimmern, tat es seiner Schwester gleich. Aus der Küche drang unaufhörlich die schaurige Melodie des Pfeifens. Die Kinder hatten mittlerweile vergessen, was sie zum Abhauen gezwungen hatte und wären froh gewesen wieder bei ihren Eltern zu sein. Die Frau hatte irgend etwas vor und Jack und Lisa beteten, es nie zu erfahren.
Jedoch kam ihr Unheil unverzüglich zurück.
"Der Ofen ist vorgeheizt. Jetzt kommt das Frischfleisch.", krächzte die Frau und zerrte den hilflosen Jack in ein Nebenzimmer. Momente der Ungewissheit für Lisa. Was geschah dort? Sie zappelte wie ein Fisch auf dem Boden, war verzweifelt nichts tun zu können, als ein kantiger Splitter, der kaputten Vase ihr einen schmerzenden Schnitt in die Hand schlitzte. Dies verärgerte sie jedoch nicht. Ihr war die Möglichkeit bewusst, das Klebeband, mit dem sie gefesselt war, damit zu öffnen. Sie beeilte sich und selbst als dumpfe Schläge aus dem Nebenzimmer zu hören waren, stoppte sie nicht und schaffte es schließlich das Band, um ihre Hand, zu entfernen. Sie lies die Hände allerdings weiterhin hinter ihrem Rücken, denn die Frau betrat das Zimmer wieder, ohne Jack. Aber irgend etwas längliches war in ihrer Hand zu sehen. Lisa kniff die Augen zusammen und als sie sah was es war, konnte sie nicht mehr stillhalten. Zum Glück war die Frau wieder in der Küche verschwunden und Lisa hatte Zeit die Fesseln an ihren Füßen zu zerschneiden. Ihr Herz raste mit unfassbarer Geschwindigkeit. Sie wusste nun was mit Jack im anderen Raum geschehen war und sie war wild entschlossen nicht das gleiche Schicksal zu erleiden.
Gerade hatte sie die Fußfesseln gelöst, da stand völlig unverhofft die schattige Gestalt der Frau vor ihr. Ein kleiner Lichtschein verdeutlichte die tiefen Falten in ihrem Gesicht. Lisa riss sich zusammen und nahm ihre letzte, durch Angst erzeugte, Kraft zusammen, für einen festen Fußtritt in den Bauch der Mörderin ihres Bruders. Diese hatte nicht damit gerechnet und stolperte rückwärts, wo sie laut auf dem Boden aufschlug. Lisa nutzte diesen kurzen Moment, schaute sich schnell um entdeckte auf einem Tisch, zu ihrer Seite, eine Flasche mit Lampenpetroleum. Sie wusste was es war und schmiedete einen fast unfehlbaren Plan. Blitzschnell ergriff sie die Flasche, öffnete sie und begann das Petroleum auf die alte Frau zu schütten. Tränen liefen ihr dabei, in einem einzigen Strom, aus den Augen. Nicht weil sie Mitleid für diese alte Frau hatte. Sie konnte das Bild nicht mehr vergessen, dass von dem Tod ihres Bruders gezeugt hatte und während sie mit all ihrer angestauten Wut auf die Täterin, die petroleumgetränkt wieder auf den Beinen stand, zurannte, sah sie das Bild vor ihrem Auge. Den leblosen Arm, der tropfend über den Teppich getragen wurde und in der anderen Hand die Axt. Diese verdammte Frau hatte es verdient. Lisa prallte hart gegen ihre Brust. Mit aufgerissenem Mund taumelte die Frau zurück, ahnte nicht, dass sich dort eine brennende Kerze befand, die aus ihr eine lodernde Fackel machen würde. Mit einem lauten Zischen ging sie in Flammen auf und fing an mit ihrer gruseligen Stimme zu schreien. Ein langer, nicht endender Schrei, der weiter ertönte, als Lisa aus der Wohnung, die nun schon selbst in Flammen stand, rannte. Sie hörte nicht auf damit, rannte aus dem Gebäude. Es war Sonnenaufgang und selbst als ihr Feuerwehrwagen entgegenkamen hielt sie nicht an. Sie wollte niemandem mehr trauen.