Im Dunkel
Kapitel 1
Erwachen
Erwachen
1
Dunkelheit. Kälte.
Seine Knie schmerzten. Der rechte Arm war taub und begann zu kribbeln, nachdem er sich bewegte und die Blutzufuhr wieder hergestellt wurde.
Harter Untergrund. Schweißnasse Hände.
Langsam wich die Schlaftrunkenheit. Er kniff die Augen zusammen und begann allmählich seine Umgebung wahrzunehmen.
Weiße Fliesen. Verrostete Abflussrohre. Eine gleißend helle Neonröhre direkt über ihm. Er musste die Augen zusammenkneifen. Ein dumpfer Schmerz fuhr augenblicklich durch seinen Schädel.
Vielleicht ein Drink zu viel heute Nacht?
Peter fühlte sich schmutzig. Vor seinen Augen nahm seine Hand die vertraute Form an, der Dreck unter den Fingernägeln sprang ihm förmlich entgegen. Eine Schweißperle rann seine Schläfe hinab und kitzelte leicht über seine Haut. Er begann sich aufzurappeln und kreuzte die Beine, um sich im Schneidersitz zu positionieren. Langsam gewöhnten sich seine Augen an die gleißende Helligkeit der Neonröhre. Weiß gefliester Boden, weiß geflieste Wände, verrostete Abflussrohre, aus denen braun schmutziges Wasser tropfte, das sich in vereinzelten kleinen Pfützen ansammelte.
Er lehnte sich zurück und schloss einen Moment die Augen.
Eine Party? Ja, da war eine Party. Aber nicht gestern. Zu Hause vor dem Fernseher. Irgendeine Talkshow. Arbeitslose Frau von ebenfalls arbeitslosem Bruder geschwängert, oder sowas in der Art jedenfalls. Was war noch? Bin ich eingenickt? Nein, nein, ich bin ins Schlafzimmer gegangen. Ich hab mich ins Bett gelegt, den Wecker gestellt und sogar noch die verdammten Vorhänge zugezogen, weil Vollmond war und das ganze Zimmer ausgeleuchtet wurde. Und dann?
Er öffnete die Augen. Sein Verstand begann langsam – sehr langsam – in die Gänge zu kommen. Nochmals warf er einen Blick in den Raum. Die Seite, auf der er saß wurde komplett ausgeleuchtet, die weißen Fliesen verloren sich in der Dunkelheit auf der anderen Seite.
Okay, nochmal. Couch, Bett, Vorhänge zugezogen, eingepennt und willkommen in Jigsaw's Höhle.
Weder links noch rechts war eine Tür in die Wand eingelassen. Links oben, zwischen Wand und Decke, war ein kleiner, schwarzer Lautsprecher angebracht. Blaupunkt. Er wirkte, als wäre er aus einem Auto gestohlen worden. Keine Verschalung, nur die kleine, runde Membran. In der Wand direkt unter dem Lautsprecher waren einige einzelne Fliesen entfernt und ein Loch in den Gips geschlagen worden, das sich in der Dunkelheit verlor. Der Ausgang musste auf der anderen Seite liegen. Eine andere Möglichkeit gab es nicht.
Irgendetwas stimmte nicht. Nur ein Gefühl. Die Luft in diesem Raum zirkulierte nicht. Er fühlte sich wie in einem Vakuum, als wäre er von der gesamten Außenwelt abgeschnitten. Dennoch fühlte er sich beobachtet, als hätte er etwas geklaut und hätte Angst, hinter jeder Straßenecke könnte ein Polizeiwagen auf ihn warten, um ihm Handschellen anzulegen und ihn auf den Rücksitz zu verfrachten. Ein Klirren war zu vernehmen, als würden die Nachbarn mit einem Glas Wein anstoßen.
Angst.
Allein in einer heruntergekommenen Waschküche, der Ausgang im dunklen Bereich, keine zehn Meter von ihm entfernt... und dennoch konnte er sich nicht aufraffen, hinüber zu gehen und einfach den Raum zu verlassen.
„Hallo?“, fragte er leise, zurückhaltend. „Ist da jemand?“
Keine Antwort.
„Ey, wenn da jemand ist, dann sagen Sie bitte was, sonst krieg ich echt die Krise.“ Ein Schweißtropfen rann seine Nase hinunter. Ein Atmen. Er konnte deutlich hören, dass jemand hier in diesem Raum atmete. In der Dunkelheit. Jemand atmete schweigend in der Dunkelheit.
Scheiße, man, das kann doch nicht wahr sein. Was passiert denn hier, man?!
„Hören Sie, lassen Sie mich einfach den Raum verlassen, dann haben Sie hier wieder alles für sich. Ich hab nur 'nen Platz zum Schlafen gebraucht für heute Nacht. Tut mir wirklich leid, falls ich gestört haben sollte, aber wird sicher nicht wieder vorkommen – versprochen!“
Sich mit der Hand hinter sich an der Wand abstützend erhob er sich langsam mit weichen Knien. Seine Finger zitterten. Sein Gegenüber blieb verborgen. Was ihm allerdings um einiges mehr Sorgen bereitete, war die Tatsache, dass diese unbekannte Person ihn sehr wohl sehen konnte. Unter der gleißend hellen Neonröhre kam er sich vor wie auf dem Präsentierteller.
Ein lautes Knacken dröhnte aus dem Lautsprecher an der Wand, als würde jemand auf den Sprechen-Knopf am anderen Ende eines Funkgerätes drücken. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er die Wand hinauf, um sich sofort wieder zu besinnen und seine gesamte Aufmerksamkeit der unbekannten Person auf der gegenüberliegenden Seite zu widmen. Das Adrenalin in seinem Blut hatte ihn aufgeputscht. Eine Kanne Kaffee hätte keine bessere Wirkung erzielt.
„Hey! Sagen Sie doch wenigstens mal was!“ Der klägliche Versuch, seiner Stimme etwas Nachdruck zu verleihen und Standhaftigkeit auszustrahlen. Gescheitert.
Peter setzte den rechten Fuß einen Schritt nach vorne.
Einfach drauf los, dachte er. Vielleicht schläft dort ja nur einer. Irgendein Penner vielleicht.
Den linken Fuß vor den rechten. Eine Hand hielt ihn an seinem Knöchel. Er konnte den Fuß nicht vorziehen. Panisch vollzog er eine Pirouette und trat mit der rechten Fußsohle blind auf den Fußboden ein. Trat und trat und trat.
Keine Hand.
Ein Seil war um seinen linken Knöchel gebunden worden. Ein hellbraunes Naturfaserseil. Es führte zu einem rostigen Abwasserrohr und war dort mit einem simplen Doppelknoten festgebunden. Nichts, das ihn hätte aufhalten können, von hier wegzukommen. Er konnte den Umstand nicht erfassen. Trieb hier jemand einen Scherz mit ihm? Kannte er jemanden, der sich wirklich solch einen Witz mit ihm erlauben würde? Das wäre höchstens eine nette Idee für einen Junggesellenabschied, um die Fesseln der Ehe zu symbolisieren, aber nichts, um einen Freund reinzulegen. Definitiv nicht.
Nachdem er sich aus der kurzen Überlegung befreit hatte, bückte er sich, um den Knoten an seinem Fuß zu lösen. Hinter sich vernahm er weiter das leise, gleichmäßige Atmen.
Knack!
Wieder der Lautsprecher. Stille. Atmen.
Hier ziehen, hier ein bisschen drücken... Aaaah, ja, da haben wir's...
Immer noch beunruhigt, aber dankbar für diese kurze Ablenkung, drehte er sich um, ließ kurz seinen linken Fuß kreisen und stellte sich mit dem Rücken an die Wand.
Wird sicher ein beschissener Tag.
2
Fünfzehn Schritte. Etwa siebeneinhalb im Licht und siebeneinhalb durch die Dunkelheit. Ein Kinderspiel. Trotzdem blockierte Peters Verstand. Ein Instinkt wehrte sich vehement dagegen. Eine absurd unheimliche Situation. Eine kafkaeske Situation.
Er füllte seine Lungen mit Luft, schloss den Mund und hielt einen Moment den Atem an, um ihn anschließend druckvoll auszustoßen.
Okay, selbst wenn da irgendein Typ stehen, sitzen oder liegen sollte, wenn er mir etwas tun wollen würde, dann hätte er das sicher schon getan. Ob ich nun hier bin oder dort drüben, spielt keine Rolle. Vielleicht ist er bewaffnet. Na und? Bewaffnet oder nicht, den Vorteil über einen schlafenden Gegner hatte er vor fünfzehn Minuten und hat nichts getan, wieso sollte er dann jetzt was tun?
Mit den Händen strich er sein Sweatshirt glatt. Vergeblich.
Wie lange hatte er hier gelegen? War er bewusstlos gewesen oder hatte er geschlafen?
Seine sandfarbene Cargohose war mit bräunlichen Flecken übersät, dunkle Schweißflecken hatten sich unter seinen Achseln auf dem grauen Stoff gebildet. Mit der Hand fuhr er sich durch das Haar. Es war fettig. Reste von Haarwachs klebten auf seiner Handfläche, die leicht im Neonlicht glänzte. Die Haut seiner Unterarme sah blass aus. Allmählich legte sich die permanente Angst. Solange er sich hier in der Helligkeit befand, schien ihm nichts zu passieren. Sein Gegenüber blieb an Ort und Stelle.
Alles klar. Taschenkontrolle.
Er tastete seine Hose ab. Erst die Gesäßtasche links – leer. Dann die rechte – sein Portemonnaie. Peter klappte es auf: Personalausweis, Versichertenkarte, 35 Euro in Scheinen, 4,50 Euro in Kleingeld, eine Stempelkarte von seinem Stammfriseur (noch zwei Mal, dann würde er nur den halben Preis bezahlen), Videothekenausweis (Hab ich noch Filme zu Hause herumliegen?) und ein Passfoto von einer blonden Frau mit sommersprossigem Gesicht, dunklen, kastanienfarbenen Augen, sich wellendem, leicht rötlichem Haar, ein für immer auf einem Bild festgehaltenes Lachen, strahlend weiße Zähne und Grübchen über den Mundwinkeln.
Jenny.
Er klappte das Portemonnaie wieder zusammen und steckte es zurück in die Gesäßtasche.
Weiter.
In der rechten Hosentasche fand er seinen Schlüsselbund: Haus-, Garagentor-, Briefkasten- und Autoschlüssel. Peter packte ihn wieder weg.
Nichts, das er im Moment gebrauchen könnte. Kein Maschinengewehr mit Ersatzmagazin, keine Machete oder ein Schweizer Taschenmesser, nicht einmal ein mickriger Zahnstocher, den er jemandem ins Auge rammen könnte, sollte er angegriffen werden.
Einfach drauf los. Einen Fuß vor den anderen. Als Kind musstest du auch die Angst überwinden, auf die Schnauze zu fliegen, wenn du die Sache mit dem Laufen nicht auf die Reihe bekommen hättest, also los!
Er trat einen Schritt zurück, legte beide Handflächen auf die kalte Fliesenwand hinter sich und lief dann los. Entschlossenen Schrittes einen Fuß vor den anderen. Eins, zwei, drei. Sehr gut! Er spürte, dass das Licht der Neonröhre nicht mehr so kräftig strahlte. Vier, fünf, sechs. Dunkelheit direkt vor ihm.
Ein lautes, klirrendes Rasseln, als würde jemand mit dicken, schweren Stahlketten um sich schmeißen, dröhnte durch den Raum. Er blieb abrupt stehen. Streckte die Hände von sich, als würde er jemanden beschwichtigen wollen und legte den Rückwärtsgang ein. Es hörte sich an wie ein wild gewordener Pit Bull, der tollwütig und aggressiv an seiner metallenen Leine zerrte, sobald dieser den Postboten auf dem Fahrrad vorfahren sah. Aufgeregtes Rasseln, ein kurzes Dröhnen, dass sich anhörte, als würde jemand mit der Faust gegen die Wand schlagen, für einen Sekundenbruchteil Stille und wieder dieses aufgeregte, unheimliche Rasseln. Peter wich weiter zurück. Die Angst überkam ihn wieder. Seine Finger begannen von neuem zu zittern und Schweiß presste sich durch seine Poren. Die Augen weit aufgerissen und doch konnten sie nichts erblicken. Die Furcht vor dem Unbekannten übermannte ihn. Sein Rücken stieß an die Wand zurück. Für einen Moment überkam ihn ein Schock, dann ließ er sich auf den Boden sinken und stützte die Ellenbogen auf die Knie.
3
Nervös tasteten Peters Augen die Wand aus Dunkelheit ab, die wie Licht absorbierender Nebel den Raum in zwei Hälften zu teilen schien. Fast schon greifbar lag sie vor ihm und verhöhnte ihn. Keine Fesseln hielten ihn fest, niemand bedrohte ihn mit einer Waffe oder hielt ihn auf sonst irgendeine erdenkliche Weise hier fest, und dennoch konnte er sich nicht dazu aufraffen, einfach los zu laufen und diese verwahrloste Waschküche zu verlassen. Er fürchtete sich nicht vor der vor ihm liegenden Schwärze selbst, er fürchtete sich vor dem Unbekannten in ihr.
Gedanken überschlugen sich in Peters Verstand. Was, wenn kein Mensch dort lauerte? Was, wenn dort doch nur ein angeketteter Hund zurückgelassen wurde? Würde dann vielleicht der Besitzer in absehbarer Zeit auftauchen?
Dann müsste das schon ein verschissen riesiger Köter sein.
Die Geräuschkulisse, als er sich dem Etwas genähert hatte, ließ vermuten, dass es sich wohl um etwas größeres als einen Hund handelte. Vielleicht hat hier jemand sein Pony angekettet?
Egal, wie, er musste auf jeden Fall hier raus. Sein Zeitgefühl war im Eimer. In einem fensterlosen Raum war schwer abzuschätzen, ob inzwischen die Nacht angebrochen und ob er überhaupt bei Tag zu Bewusstsein gekommen war, zumal er nicht einmal eine Armbanduhr trug, die ihm wenigstens die Uhrzeit verraten hätte.
Der Umstand, dass er sich auch nicht daran erinnern konnte, wie er überhaupt hier gelandet war, trug nicht zu seiner Beruhigung bei. Wer wusste, dass er nicht zu Hause war? Niemand. Selbst, wenn jemand Bescheid wissen würde, dass er heute Nacht nicht in seine Wohnung kam, wer würde sich denn Sorgen machen? Die Antwort blieb die selbe: Niemand. Seit Jenny nicht mehr da war, hatte er die Kontrolle verloren, war aus dem Gleichgewicht geraten und kam selbst unter außerordentlicher Aufbringung seiner Bemühungen nicht mehr auf die richtige Spur. Sein gut bezahlter Job in der Marketing-Abteilung des Unternehmens, das der Vater seiner Verlobten führte, hatte ihn den letzten Nerv gekostet, nachdem sie ihre Sachen gepackt und ohne ein Wort zu sagen aus seinem Leben verschwunden war. Der letzte Ausweg, um endlich mit dem Leben abzuschließen, das ihn unter seiner niederschmetternden Last erdrückte, war den Job hinzuschmeißen und wieder von vorne anzufangen.
Auf der Suche nach einer Neueinstellung bekam er immer wieder die gleiche Absage: Überqualifiziert.
War es heut zu Tage einem Unternehmen nicht mehr von Nutzen, einen gut ausgebildeten Mitarbeiter selbst in einer niedrigen Position zu beschäftigen? Optimierung und Qualität standen nicht mehr an oberster Stelle. Sie mussten dem größten aller Ziele weichen, dem Profit.
Wochen trieb er sich erfolglos auf dem Arbeitsmarkt herum, bis ihn schließlich die Resignation erfasste. Er blätterte zwar noch durch die Stellenanzeigen in der Tageszeitung, jedoch wurden täglich weniger Angebote von ihm mit dem rosaroten Textmarker angestrichen. Er konnte sein Engagement wie eine Person, die am Horizont langsam zusammenschrumpfte, schwinden sehen.
Natürlich musste er irgendwie über die Runden kommen und schlug sich mit Gelegenheitsjobs durchs Leben. In einem heruntergekommenen Lokal in einer abgelegenen Seitenstraße spülte er für Lau das mit Essensresten behaftete Geschirr. Er heuerte sogar als Pizzabote an. Die stumpfsinnigen Tätigkeiten stellten ihn jedoch wenig zufrieden. Sie hatten recht, er war überqualifiziert.
Tagelang saß er in seiner Wohnung und verschlang Horrorromane und Thriller, verbrachte seine Zeit mit Talkshows und billigem Dosenbier, während der Aschenbecher brechend voll neben der Couch den Geruch von kalter Asche verbreitete. Die ehemals weißen Vorhänge vergilbten durch die nikotingeschwängerte Luft. Selbst das einzige Trost spendende Lebewesen Mickey hatte Jenny mitgenommen, als sie ihre sieben Sachen zusammen gesammelt hatte und von Dannen gezogen war. In der Abstellkammer standen noch um die zehn Katzenfutterdosen, deren Mindesthaltbarkeitsdatum inzwischen abgelaufen war. Das Bett wurde nicht mehr gemacht, der Müll nicht mehr heruntergetragen, die schmutzigen Teller, Tassen und Gläser nicht mehr abgewaschen und die einst liebevoll mit einem Auge fürs Detail eingerichtete Wohnung verkam zu einem Drecksloch.
4
Unruhig rieb er sich mit dem Daumen der rechten Hand über die Handfläche der linken. Seine Hände waren sanft. Nie hatte er körperlich harte Arbeit leisten müssen. Sein Weg führte ihn geradewegs von der Grundschule über das Gymnasium bis in die Universität und letztendlich in die Marketing-Abteilung des Vaters seiner Verlobten. Richard Gronwich. Was für ein Name! Es vermittelte den Eindruck, als wäre der Mann schon danach benannt worden, irgendwann eine große, anständige Firma zu leiten. Wer weiß, vielleicht war es ja auch so.
Peter hatte schon seine Zukunft vor Augen gehabt, seine Karriere. Was er Jenny alles hätte bieten können, wenn alles nach Plan verlaufen wäre. Einfamilienhaus via Finanzierung mit einem geleasten Neuwagen in der Garage. Sogar das Kinderzimmer hatte er sich schon ausgemalt gehabt. Aber nein, von einem Tag auf den anderen traf der Hammerschlag der Realität die gläserne Leinwand seiner Träume. Kein Sekundenkleber dieser Welt konnte den Schaden wieder richten. Eine neue Leinwand musste her.
Nun saß er hier, in Gedanken versunken, sein Puls hatte sich inzwischen beruhigt, sein Herz pochte gleichmäßig und das Adrenalin war gewichen. Er betrachtete nachdenklich seine schmutzigen Finger, hob den Kopf, um einen Blick in die Dunkelheit zu werfen und senkte ihn wieder.
Schisser! Verdammter Hosenscheißer! Steh auf und geh – fertig! Sonst gleicht dein Mundwerk auch dem Maul eines Flusspferds. Große Töne spucken kann jeder. Von wegen „Wenn ich mal in so einer Situation wäre“. Ja, ja, immer das selbe. Große Klappe, nichts dahinter. Kein Mensch kümmert sich um dich, du musst dir schon selber helfen, mein Freund.
Leise, flüsternd drang statisches Rauschen aus der Membran des Lautsprechers. Auf jeden Fall war sie angeschlossen. Ihre Kabelenden führten nicht ins Leere.
Mit den Händen am Boden abstützend erhob er sich und inspizierte nochmals den erleuchteten Teil der Waschküche. Links von ihm ragten zwei braunrote, oberschenkeldicke Rohre aus dem Boden und verschwanden wieder in der Wand. An einem der beiden war das Seil festgebunden, das vor etwa zwanzig Minuten noch sein Bein umklammert hatte. Rostiges Wasser tropfte konstant aus der Naht eines der beiden Rohre. Ununterbrochen illuminierte die Neonröhre über ihm den Raum mit sterilem, weißem Licht, das ihn unaufhörlich an ein Leichenschauhaus denken ließ. Rechts von Peter verzierte ein braungelblicher Fleck die Ecke, der wirkte, als handele es sich um Rückstände von Urin aus vergangenen Tagen. Ihm fiel das Loch unter dem Lautsprecher wieder auf. Ein Rechteck von der Größe eines Schuhkartons.
Er drehte sich nach links, das Atmen rechts von ihm blieb gleichmäßig. Die Augen, die an ihm hafteten, konnte er buchstäblich spüren. Langsam überquerte er die weißen Fliesen und versuchte schon drei Schritte, bevor er die Wand erreichte, einen Blick hinein zu werfen. Der Winkel war zu steil, sodass das Licht nicht hineinreichte. Auf Zehenspitzen streckte er den Arm aus.
Ja, da ist was.
Seine Fingerkuppen berührten eine glatte Oberfläche. Es fühlte sich kalt an. Fast wie Metall. Mit der Linken hielt er sich am Rand des Lochs fest und zog sich ein paar Zentimeter weiter nach oben, um die Kante des Gegenstandes greifen zu können.
Eine Box? Und hinter Tor Nummer eins verbirgt sich...! Na, was wohl?
Den Daumen ließ er am Rand der Box, die übrigen Finger legte er oben auf und zog. Krümel von Putz landeten vor seinen Füßen, die mitsamt der gelblichen Schatulle hinausgeschoben wurden.
Es wirkte wie eine stählerne, gelbe Lunch-Box. Oben ein kleiner Henkel, vorne ein Trageriemenverschluss, um sie geschlossen zu halten. In beiden Händen brachte er den Gegenstand zu seinem mittlerweile angestammten Platz in der Mitte der Wand und setzte sich mit ihr im Schoß auf den Boden.
Hast du da etwa einen versteckten Schatz gefunden? Oder vielleicht eine Waffe? Oh ja, eine Waffe wäre jetzt wohl das Beste, was dir passieren könnte, was?
Nervös schaute er kurz in die Schwärze vor ihm und wendete sich dann wieder dem Verschluss zu, den er durch zusammendrücken der beiden äußeren Knöpfe öffnete. An dem metallenen Henkel ließ sich die Schatulle öffnen. Etwas silbernes befand sich darin. Sein erster Gedanke war, dass es vielleicht wirklich eine Waffe war. Oben drauf lag eine Moderationskarte. Ein rechteckiger, weißer Zettel aus Pappe mit Computerschrift bedruckt:
Guten Appetit!
Kapitel 2
Kommunikation
1
Peter legte die Moderationskarte, die ihm einen guten Appetit wünschte, beiseite und griff nach dem in Aluminiumfolie gewickelten, quadratischen Päckchen, das darunter lag. Es fühlte sich weich an und gab unter seinen Fingern nach. Langsam wickelte er es auseinander.
Ein Sandwich! Ha!
Er legte die Stirn in Falten. Gedanken gingen ihm durch den Kopf. Ein Sandwich? Rechnet jemand damit, dass ich länger hier bleibe? Ist das geplant? Wieder stellte er sich die Frage, wie er überhaupt hier gelandet war. Die Antwort blieb er sich selbst schuldig. Also, was haben wir? Ein Kärtchen – Guten Appetit! - und ein Sandwich. Sieht relativ frisch aus. Er klappte die beiden Weißbrotscheiben auseinander. Salami, Käse, Frischkäseaufstrich, zwei Scheiben Tomate. Sein Magen grummelte leise. Scheiß drauf. Mit beiden Händen umklammert biss er tief hinein. Verdammt, gar nicht mal so schlecht...
Was wurde hier gespielt? Was hatte man mit ihm vor? Und vor allem, was hinderte ihn überhaupt daran, einfach zu verschwinden? Die alles entscheidende Frage: Wer hatte dieses leckere Sandwich zubereitet?
2
Nachdem er aufgegessen und sein revoltierender Magen sich ein wenig beruhigt hatte, knüllte er die Alufolie zu einer kleinen, silbrigen Kugel zusammen und warf sie in die gelbe Schatulle. Er schmatzte zweimal ostentativ und rieb sich wie nach verrichteter Arbeit die Hände.
Seine Augen wanderten zu dem weißen Kärtchen. Guten Appetit. Er nahm sie zwischen die Finger und riss sie in kleine Fetzen, die er ebenfalls in die gelbe Box schmiss. Mit einem metallischen Knall warf er den Deckel zu und gab ihr einen festen Stoß, sodass sie in die Ecke zu seiner Rechten schlitterte.
Seine Schläfen massierend fixierte er mit den Augen eine graubraune Fuge zwischen zwei weißen Fliesen am Boden. Er musste hier raus. Was blieb ihm übrig? Hier in diesem Raum verhungern? Nein, verhungern würde er nicht. Wie lange dauerte es, bis ein Mensch verhungerte? Einen Monat? Sein Problem würde die Wasserzufuhr sein. Wobei er sicher auch mit diesem ständig tröpfelnden Rostwasser auskommen konnte, sollte sich alles zu einer wahrhaften Extremsituation entwickeln.
Er spürte, wie Verzweiflung langsam, aber unabwendbar seinen Verstand befingerte. Konnte spüren, wie das ängstliche Männchen in seinem Kopf dem Überlebenskünstler in ihm wich. Die einzige Tatsache, die ihn davon abhielt, diesen Herrn an die Macht seines Verstandes zu lassen, war, dass er sich nicht in unmittelbarer Lebensgefahr befand.
Scheiß drauf, dachte er. Dir wurde beigebracht, dass du nicht den Kopf hängen lassen sollst. Aufgeben ist einfach nicht drin. Dein Vater hat dir gesagt, es gibt keine ausweglosen Situationen, es gibt immer einen Ausweg. Vergiss, das dort etwas lauert. Einfach drauf los. Angriff ist die beste Verteidigung.
Seine Finger hielten inne an seinen Schläfen. Sein Blick vermittelte Wahnsinn, geweitete Augen und heruntergezogene Augenbrauen. Ein fast schon widersprüchlicher Gesichtsausdruck. Weiterhin hatte er die schmutzige Fuge fixiert.
Widerlich, ging es ihm durch den Kopf. Verdammt widerlich. Wie kann man mich nur in so ein heruntergekommenes Drecksloch stecken?
Peter stand auf. Seine Knie knackten leise als er sie ausstreckte. Die ihm gegenüberliegende Dunkelheit schien ihn mit unsichtbaren Augen anzustarren. Ausdruckslos. Mystisch. Geheimnisvoll.
Wer hat Angst vorm Schwarzen Mann? Ein kurzes Grinsen huschte über seine trockenen Lippen. Er tat einen Schritt vorwärts. Die Hände zu Fäusten geballt. Du Arschloch! Komm nur her! Ich hab keine Angst, du verschissenes Arschloch!
Seinen ganzen Mut zusammennehmend trat er einen weiteren Schritt voran. Peter konnte auf seinem blassen Gesicht spüren, dass diese Schwärze etwas ausstrahlte – eine Art Wärme. Sein sich beschleunigender Puls dröhnte in seinen Ohren, vermischt mit der gleichmäßigen, flachen Atmung des unbekannten Etwas.
Etwas. Inzwischen bezeichnete er es nicht mehr als eine Person, nicht mehr als etwas menschliches. Sein Gehirn hatte die Vorstellung von einem wartenden Unbekannten in eine furchteinflößende Kreatur ohne bestimmte Konturen umgeformt.
Seine Konzentration ließ nach, seine Entschlossenheit begann wieder der Angst zu weichen. Das durfte er auf keinen Fall zulassen.
Mit einem Kampfesschrei und mit erhobenen Fäusten stürmte er los.
3
„Frauen!“, sagte Robert spöttisch. „Wer braucht denn bitte Frauen? Die fressen dir nur die Haare vom Kopf. Bist du Single, dann hast du dein Einkommen für dich alleine, du kannst kommen und gehen wann immer du willst. Regeln? Gibt’s keine! Niemand macht dir Vorschriften, erzählt dir, wo du deine schmutzigen Socken hinschmeißen darfst und wohin nicht. Du spülst dein Geschirr oder spülst dein Geschirr nicht. Scheißegal!“
Er nahm einen Schluck von seinem goldenen Bier. Kondensiertes Wasser rann außen am Glas runter und tropfte auf den Holztisch. Sie saßen in einer verrauchten Kneipe, der Nikotinnebel hing in der Luft und ließ Peters Blick trüb wirken. Robert war ein fest gebauter Mann, dunkle, schulterlange Haare und ein dunkler Teint. Immer einen Drei-Tage-Bart im Gesicht und einen witzigen Spruch auf den Lippen. Er wusste, wieso Robert sein bester Freund war. Sie glichen sich gegenseitig aus. Peter war kein witziges Kerlchen, er war in der Schule nie der beliebteste Typ oder der beste Sportler gewesen, aber er hatte Robert an seiner Seite. Alle nannten ihn Rob. Rob war einer der beliebtesten Schüler. In seiner Klasse war er außerdem der beste Fußballspieler gewesen. Er wurde immer zuerst gewählt, wenn es darum ging, dass sich zwei Schüler je eine Mannschaft zusammenstellen sollten. Peter kam dann auch irgendwann dran, wobei er jedoch hoffte in Robs Mannschaft gewählt zu werden. Meistens redete Rob dem Wähler gut zu, sodass dies dann auch der Fall war, obwohl er wusste, dass Peter in Sachen Sport eine absolut hoffnungslose Niete war.
Ihre Freundschaft hatte sich bewährt. Jahre später saßen sie immer noch zusammen in einer Räucherkammer von Kneipe und unterhielten sich über die nie langweilig werdenden Themen wie Frauen, Fußball oder das Leben selbst.
Um sie herum schallte die Kakophonie der ineinander verschmelzenden Worte und Sätze der anderen Gäste, die sich lautstark unterhielten.
Einen Tisch weiter saß ein grauhaariger Mann mit tiefen, dunklen Tränensäcken unter den Augen in einem blaurot karierten Holzfällerhemd und schaufelte ein Rumpsteak mit Pommes in sich hinein. Immer wieder warf er Peter einen bösen Blick zu, um sich dann wieder der Nahrungsaufnahme zu widmen.
„Ich weiß nicht“, antwortete Peter. „Inzwischen hatte ich, glaub ich, genug Freiraum. Vielleicht tut es mir ja sogar gut, wenn mich mal jemand zu Hause ein bisschen herumkommandiert und mir zeigt, wo ich meine dreckigen Socken hinzuschmeißen hab. Versteh mich nicht falsch, ich bin seit fünf Jahren Single und jedes Wochenende war toll, aber vielleicht werd ich einfach zu alt für den Scheiß.“
„Das heißt also, du willst dich freiwillig unter den Pantoffel stellen lassen?“, fragte Rob ungläubig und zeigte mit dem Zeigefinger der Hand, die das Bierglas umklammerte, auf ihn.
„Ich mein ja nur. Es kann ja schließlich nicht ewig so weitergehen. Das Leben ist nunmal keine Party und 'nen anständigen Job könnte ich auch brauchen.“ Peter konnte nur über die Fassungslosigkeit seines besten Freundes lächeln und griff nach seinem Glas Whiskey. Er nippte kurz daran und stellte es wieder auf den Untersetzer.
„Unfassbar!“, rief Rob aus. Niemanden schien zu interessieren, dass er sich gerade lautstark geäußert hatte. Sein Ausruf ging im Stimmengewirr unter. „Ich hab Jahre meines Lebens mit einem unbekannten Menschen verbracht. Hallo? Wo ist der alte Peter hin? Bitte, bitte, gib ihn mir wieder!“
Peter musste lachen. Er konnte nicht anders. „Okay, ich mach dir 'nen Vorschlag. Ich geb dir 'nen Hunderter, du besorgst dir 'ne Nutte und dann reden wir nochmal über deinen eigenartigen Plan hier.“
„Es ist kein Plan, Rob. Ich meine nur, dass, wenn sich die Gelegenheit ergeben sollte, dann ergreife ich sie diesmal vielleicht. Es ändert sich nichts. Am Wochenende werden wir trotzdem auf die Party gehen, wie geplant. Aber sollte mir dort meine Traumfrau über den Weg laufen – wer weiß? Vielleicht wird die nächste Party dann ausfallen.“
„Ich bin schockiert. Du machst mich fertig. Deine Einstellung ist nicht vertretbar, ehrlich Bruder.“
„Tut mir leid.“ Theatralisch schob Peter die Unterlippe vor und tat so, als würde er sich für das eben gesagte schämen. „Tut mir wirklich leid.“
„Und hast du schon einen anderen Job in Aussicht?“
„Naja, die Stellenanzeigen, die ich mir so angesehen hab, sind nicht gerade verlockend. Die meisten Firmen suchen wohl eher nach Leuten mit wenig Hirn, aber viel Ausdauer, um Laufburschenarbeit zu erledigen. Dann brauch ich im Copy Shop gar nicht erst kündigen. Vergiss es. Ich möchte etwas anspruchsvolleres machen. Für was war ich wohl an der Uni, wenn ich jetzt nicht einmal einen bescheuerten Job bekomme, der mich ein bisschen fordert – mental, mein ich.“
„Soweit ich weiß, suchen sie bei der Bank noch jemanden“, meinte Rob. „Im Zentrum tummeln sich immer eine Millionen Menschen rum, die brauchen dort sicher Personal.“
„Eine Bank? Ich bin viel zu willensschwach, um dem ganzen vielen Geld zu widerstehen.“ Peter grinste und nippte nochmal an seinem Jack Daniel's.
Mit einem mit Gläsern und Flaschen vollgepackten Tablett huschte die Bedienung an ihrem Tisch vorbei in den hinteren Teil der Kneipe. Er konnte sich den Blick auf ihren Hintern nicht verkneifen und sah in Robs grinsendes Gesicht, als er sich endlich losreißen konnte.
„Ha und nochmal ha“, gab Rob schadenfroh von sich und leckte den Rest Bierschaum von seiner Oberlippe. „Von wegen Pantoffel.“
Peter schüttelte lächelnd den Kopf.
Wahrscheinlich hat er recht, dachte er. Man kann sich nicht vornehmen seine Traumfrau kennen zu lernen. Man muss einfach warten.
Er beobachtete sie, als sie aus dem rückwärtigen Teil der Kneipe zurückkam. Diesmal war ihr Tablett leer und sie schwang es in der Hand neben ihrem rechten Oberschenkel. Ihre leicht rötlichen Haare glänzten, trotz der nikotingeschwängerten Luft. Er konnte ihre Sommersprossen im Gesicht erkennen und obwohl nur die Andeutung eines Lächelns um ihre Lippen spielte, konnte er sich vorstellen, wie strahlend ein wahrhaftes Lachen von ihr sein konnte. Selbst jetzt zeichneten sich leicht die Grübchen über ihren Mundwinkeln ab. Sie sah ihn einen kurzen Moment mit ihren dunklen, kastanienbraunen Augen an.
„Kann ich euch zwei noch etwas bringen?“, fragte sie mit lauter, aber immer noch lieblicher Stimme, die sich durch den Geräuschpegel schnitt, wie ein stumpfes, aber heißes Messer durch harte Butter. Sie lächelte die beiden an. Ihre Haut glänzte leicht in der schwummerigen Beleuchtung.
„Nein, danke, aber die Rechnung nehmen wir gerne“, antwortete Peter freundlich lächelnd. Für einen Sekundenbruchteil trafen sich ihre Blicke, bevor sie sich umdrehte und hinter der Theke verschwand, um den Kassenbeleg auszudrucken und ihre Getränke abzurechnen.
„Wow“, gab Rob von sich. „Ich nehm alles zurück. Das wär doch wohl deine Traumfrau.“
Er konnte seinen Blick nicht von ihr abwenden, während sie über die Kasse gebeugt die Zahlen eintippte.
Zwei Minuten später stand sie wieder am Ende des Tisches und hielt den Beleg in den Fingern. „Getrennt oder zusammen?“
Peter musste die Initiative ergreifen. „Zusammen.“
„Dann macht das achtunddreißig fünfzig.“
Während er den Geldbeutel aus seiner rechten Gesäßtasche fummelte, fiel ihm auf, dass der Mann im Holzfällerhemd am gegenüberliegenden Tisch wie gebannt zusah. Peter fummelte zwei Zwanziger heraus und gab sie ihr.
„Stimmt so.“
„Danke“, sagte sie und machte einen leichten Knicks. Dann machte sie sich wieder geschäftig an die Arbeit und verschwand wieder im hinteren Teil der Kneipe.
„Peter, du hast ihr gerade eins fünfzig Trinkgeld gegeben. Wenn du geizig wirken wolltest, du hast dein Ziel erreicht.“ Rob klatschte sich mit der Handfläche theatralisch auf die Stirn.
Peter verkniff sich eine Antwort und presste die Lippen zusammen. Er griff nach der Rechnung und wollte sie in die Hosentasche stecken, als ihm auffiel, dass etwas handschriftlliches auf der Rückseite stand.
Ruf mich an, wenn du Lust hast mal was essen zu gehen
Jenny
Ganz unten stand ihre Telefonnummer.
„Ha!“, gab er triumphierend von sich. „Sowas nennt man Erfolg, mein Freund!“
„Ja, als sie das geschrieben hat, wusste sie noch nicht, dass du so ein verdammter Geizkragen bist.“
Sie tranken aus und warfen sich dann ihre Jacken über die Schultern. Im Gehen ließ Peter einen letzten Blick durch den vernebelten Raum schweifen und stellte fest, dass er weiterhin von dem Mann mit den grauen Haaren und dem Holzfällerhemd angestarrt wurde.
4
Die Fäuste über dem Kopf schwingend und rebellisch schreiend in der Absicht bedrohlich zu wirken, stürmte Peter in die Dunkelheit. Kaum hatte er den rechten Fuß über die Schwelle zwischen Licht und Schwärze gesetzt, vernahm er ein kurzes, metallisches Rasseln und bekam einen harten Schlag auf die Brust. Es fühlte sich an, als hätte ihn jemand mit einem Vorschlaghammer getroffen. Die Luft, die er noch nicht in seinen Kampfesschrei investiert hatte, wurde ihm aus den Lungen gepresst. Er stöhnte kurz auf, spürte wie seine Füße den Bodenkontakt verloren und segelte drei Meter rückwärts in Richtung Wand. Sein Rücken schlug hart auf den weißen Fliesen auf, was den Rest Sauerstoff aus ihm herauspresste. Peter rutschte mit dem Gesicht nach oben über den Boden und knallte schmerzhaft mit der Schädeldecke an die harten Fliesen. Sein Sehfeld wurde einen Moment unscharf. Blinzelnd Versuchte er bei Bewusstsein zu bleiben und das dunkle Schneegestöber zu vertreiben. Vergeblich. Seitlich vereinnahmten schwarze Punkte sein Blickfeld. Die Schwärze verschluckte zuerst die weiß geflieste Decke und schließlich auch die gleißend helle Neonröhre. Ohnmacht.
5
Unentschlossen tigerte Peter durch seine Wohnung.
Bücher stapelten sich in den Ecken seines Wohnzimmers, wenn man es als solches bezeichnen konnte. Er wohnte in einer relativ kleinen Zwei-Zimmer-Wohnung, wobei er keine klare Grenze zwischen Schlaf- und Wohnzimmer zog. Es stand zwar ein Bett im Raum nebenan, meistens schlief er jedoch dort, wo ihm gerade die Augen zufielen. Eine braune, abgewetzte Ledercouch nahm den größten Teil gegenüber eines alten, längst überholten Röhrenfernsehers ein. Wenn man genau hinsah, konnte man die Konturen von Peters Hintern sehen, an der Stelle, an der er meistens saß und fern sah oder Schundromane las.
Er setzte sich an den alten Mahagonischreibtisch und befummelte immer wieder die Rechnung mit der handschriftlichen Notiz. Jenny.
Ruf sie an, meinte der mutige Teil seines Verstandes. Ruf sie an, sie hat dir ja schließlich ihre Nummer gegeben. Sie will, dass du sie anrufst. Zeig mal, dass du Eier hast.
Peter faltete den kleinen Kassenbon zusammen und faltete ihn wieder auseinander, las sich nochmal die Botschaft durch und warf einen Blick auf sein schnurloses Telefon, das in der Ladestation auf dem Schreibtisch steckte.
Ich hab wohl einen guten Eindruck bei ihr hinterlassen. Einen kurzen, guten Eindruck. Vielleicht ist sie von mir gelangweilt, wenn sie mich erstmal richtig kennenlernt.
Schwachsinn! So ein Langweiler bist du gar nicht. Lass deinen Charme spielen. Sei locker! Sei einfach du selbst!
Hin und her gerissen griff er nach dem Telefon.
Bleib ganz cool, sagte er sich. Ganz cool bleiben. Hör dich jetzt bloß nicht kriecherisch an. Feste Stimme und bedachte Wortwahl. Nicht stottern. Bloß nicht stottern.
Peter räusperte sich lautstark. Wie lange war es her, dass er ein ernsthaftes Date und eine Frau ausnahmsweise nicht in einer Disco oder einer Bar kennengelernt hatte? Drei oder vielleicht vier Jahre? Und wann war er das letzte Mal so nervös, als er mit einer Frau telefonieren musste?
Aber sie ist wirklich einschüchternd. Ich meine, was will sie denn bitte mit einem Kerl wie mir?
Rechtfertigungen über Rechtfertigungen. Lass Taten sprechen. Ruf jetzt an, verdammt noch mal!
Er tippte ihre Nummer ein. Jede Ziffer gab ein hohes Piepsen von sich. Sein Herzschlag beschleunigte sich. Es erinnerte ihn ein wenig an die erste Steigung bei einer Achterbahnfahrt. Nervosität und Aufregung, weil man genau wusste, dass man gleich mit über hundert Stundenkilometern über eine simple Metallkonstruktion hinwegrasen wird und die Kontrolle nicht in den eigenen Händen liegt.
Ein letzter Moment des Zögerns und dann drückte er auf das grüne Telefon. Eine schnelle Abfolge von elektronischen Piepstönen, während die eingetippte Nummer angewählt wurde und dann das Freizeichen.
Er hoffte ein wenig, dass sie nicht abnehmen würde. Andererseits wollte er unbedingt, dass sie an ihr Telefon ging.
„Hallo?“ Ihre liebliche Stimme, die das Freizeichen beendete und sein Herz wieder eine Taktrate höher schlagen ließ.
„Hallo“, gab er zurück. Oh mein Gott, wie stell ich mich denn vor? Sie kennt doch gar nicht meinen Namen! Sein Verstand arbeitete auf Hochtouren. Ein simpler Vorgang wie sich vor zu stellen wurde zum mentalen Kraftakt. „Ich bin Peter. Du hast mir im Pub deine Nummer gegeben, weißt du das noch?“
Weißt du das noch?, echote es durch seinen Kopf. Was für eine dämliche Frage! Wahrscheinlich gab sie jedem Dritten ihre Nummer...
So ein Bullshit! Sie ist nicht so. Wart ab.
„Ja, klar“, antwortete Jenny fröhlich. „Schön, dass du anrufst. Eigentlich hätte ich nicht damit gerechnet.“
„Ach, wieso denn nicht?“, fragte er ungläubig.
„Ich weiß auch nicht. Es soll Menschen geben, die haben gegenüber Kellnerinnen Vorurteile.“
Peter musste leise lachen.
„Keine Angst, ich bin vollkommen unvoreingenommen“, gab er bemüht freundlich zurück. Er konnte spüren, wie die Verkrampftheit von ihm abfiel. Er hatte gehofft, dass sie das Heft in die Hand nehmen würde. Inzwischen schien das Gespräch eine gewisse Eigendynamik zu entwickeln. Sehr gut.
Mittlerweile stand er vor seinem Schreibtisch und lehnte sich mit der rechten Hand auf die Arbeitsfläche, während er mit der linken locker das Telefon an sein Ohr hielt. Das rechte Bein hatte er über das linke geschlagen. Aus irgendeinem Grund wollte er gelassen wirken, obwohl ihn nicht mal jemand beobachten konnte. Er tippte mit dem Zeigefinger lässig an den Lampenschirm seiner Schreibtischleuchte, die prompt mit metallischem Klirren umfiel. Peter zuckte zusammen und versuchte ruhig zu bleiben.
„Was machst du am Samstag?“, wollte Jenny wissen.
Gut, sie hat nichts gehört. Glück gehabt.
„Am Samstag hab ich noch nichts vor“, antwortete er erleichtert. „Kennst du den Italiener in der Stadtmitte direkt neben dem Schuhgeschäft?“
„Da bin ich, glaube ich, schon ein paar Mal dran vorbeigelaufen. Sieht aber teuer aus.“
„Stimmt. Dann ist es ja perfekt. Sollen wir uns dort treffen? So gegen...“
„Acht?“, beendete sie seinen Satz.
„Alles klar, Samstagabend, acht Uhr beim Italiener.“
„Dann sehen wir uns dort. Bis dann.“
„Bis dann“, beendete Peter und legte auf.
Er konnte sich nicht beherrschen und warf das Telefon auf die Couch.
„Jackpot, Baby, Jackpot!“, rief er aus und vollführte mit erhobener Faust einen Siegestanz.
6
Seine Pupillen verengten sich, als er die Augen aufschlug und das weiße Neonlicht ihn blendete. Angesichts seines durchgeschwitzten Sweatshirts hatte die Temperatur in der verwahrlosten Waschküche zugenommen. Schweiß stand ihm auf der Stirn. Sein Kopf pochte an der Stelle, an der er mit der Wand zusammengestoßen war.
Wie sieht's aus? Haben Sie ein paar Paracetamol für mich?
Es dauerte einen Augenblick bis er seine Orientierung wieder hatte und sich langsam aufsetzen konnte, ohne wieder bewusstlos zu werden. Irgendetwas hatte ihn verdammt hart auf der Brust getroffen. Irgendetwas in der Dunkelheit. Etwas kräftiges.
Er musste seine Theorie nochmal überdenken. Was lauerte dort? Etwas menschliches? Etwas nicht menschliches? Für einen Moment hielt er die Luft an und konnte nur seinen eigenen Puls und die leise, flache Atmung hören, die aus der Schwärze drang. Zischend entleerte er seine brennende Lunge.
Niemand suchte nach ihm. Er konnte diesen Raum nicht verlassen. Er hatte keine Nahrung. Mit einem Schlag wurde ihm klar, dass er hier sterben würde.
Der Lautsprecher an der linken Wand gab ein kurzes, leises Klicken von sich und beschallte den Raum dann mit schwachem, statischem Rauschen. Misstrauisch wanderten Peters Augen zwischen der Schwärze vor ihm und der Membran über ihm hin und her.
Er versuchte alles miteinander in Verbindung zu bringen. Die Lunch-Box mit dem Kärtchen und dem Sandwich, den Lautsprecher, die Dunkelheit und das darin lauernde Etwas. Es ergab einfach keinen Sinn.
Ist er vielleicht Opfer einer terroristischen Gruppierung geworden, die ihn hier gefangen hielt und eine neue Foltermethode an ihm testete?
Terroristen hätten ihm wahrscheinlich längst ein Blatt Papier in die Hand gedrückt, eine Kamera vor ihm aufgebaut und ihn gezwungen einen Text vorzulesen, während ein maskierter Mann eine Tageszeitung hochhielt, um zu beweisen, dass es sich um eine aktuelle Aufnahme handelte. Hier waren sicher keine Terroristen am Werk. Außerdem würde er sicher kein geeignetes Druckmittel darstellen. Keine Familienangehörigen und niemand der sich um ihn Sorgen machen würde. Sein Verschwinden würde überhaupt nicht auffallen. Die Regierung würde so etwas als Kollateralschaden in Bezug auf die Terrorismusbekämpfung verbuchen und die Akte wäre abgeschlossen und archiviert worden.
Was blieb übrig? Ging es um Geld? Wohl eher nicht, wenn er sich in Erinnerung rief, wie sein letzter Kontostand ausgesehen hatte.
War er Teil eines Experiments geworden? Das hörte sich schon plausibler an. Ein Sozialexperiment vielleicht? Verhalten eines abgebrannten Mannes in völliger Einsamkeit konfrontiert mit der urtümlichen Angst vor dem geheimnisvollen Unbekannten. Lächerlich!
Das permanente Rauschen aus dem Lautsprecher setzte sich langsam in seinem Unterbewusstsein ab und entwickelte sich zu einem Hintergrundgeräusch, womit es sich zu dem ständig aus dem Leck geschlagenen Abwasserrohr tröpfelnden Rostwasser und der flachen, unheimlichen Atmung des Unbekannten gesellte.
Peter fuhr sich mit der rechten Hand über das Kinn. Er hatte inzwischen einen ausgewachsenen Drei-Tage-Bart im Gesicht. Wie lange war er schon hier unten? Wie lange war er diesmal bewusstlos gewesen? Er wusste nicht welcher Tag heute war. Sicher wäre ein Kalender hilfreich gewesen, aber ohne Fenster, durch die er ausmachen konnte, ob die Sonne am Himmel stand oder der Mond sein wachsames Auge auf die Erde warf, wäre er genau so nutzlos wie das Nachdenken über den Grund seiner Entführung. Er bezeichnete es einfach als Entführung.
Er konnte nicht freiwillig gehen und wusste nicht, weshalb er hier war, geschweige denn, wie er hierher gekommen war. Er definierte das Wort Entführung über den ungewollten Aufenthalt an einem Ort, den man nicht verlassen kann, wenn man möchte.
Also wurde er – aus welchem Grund auch immer – entführt. Das brachte ihn zwar kein Stück weiter zur Lösung seines Problems, er empfand es allerdings als beruhigend, wenn er der ganzen Situation einen Namen oder zumindest eine Bedeutung zuschreiben konnte. Keine Rettung in Sicht.
Da musst du dich wohl alleine durchschlagen, Kumpel.
7
Er konnte quasi fühlen wie die Zeit an ihm vorbeifloss. Auf den Fersen sitzend wippte er vor und zurück wie das Pendel einer Standuhr. Die Oberseite seines rechten Unterarms juckte. Er machte eine kleine rötliche Stelle aus und kratzte energisch. Es sah aus wie ein Insektenstich. Vielleicht von einem Moskito.
Nachdem er den Juckreiz besiegt hatte, spürte er einen leichten Druck auf seiner Blase.
Oh, nein, nicht auch noch das, ging es ihm durch den Kopf. Pinkeln geht ja vielleicht noch, was mach ich denn, wenn ich ein Ei legen muss?
Er sah sich kurz um. Links die Abwasserrohre, die er nicht anpinkeln wollte, falls er doch noch das rostbraune Wasser trinken musste, was schon schlimm genug war, rechts der urinfarbene Fleck in der Ecke.
Ich bin wohl nicht der erste, der seinem Drang hier nachgeben muss, assoziierte sein Verstand. Ein interessanter Gedanke, wie er fand. Eventuell war er wirklich nicht der erste, der seine Blase hier entleeren musste. Was, wenn er nur einer von vielen war? Es soll Wahnsinnige geben, die nur zum Vergnügen Menschen entführten, um sie zu quälen und sterben zu lassen. Ist er in die Hände eines irren Mörders geraten?
Ein beunruhigendes Gefühl ergriff ihn.
„Ich hab Ihnen nichts getan!“, schrie er aus einem Impuls heraus. „Wenn Sie ein Problem mit dem System haben, schön und gut, aber lassen Sie mich bitte da raus!“
Keine Reaktion. Peter saß weiterhin auf den Fersen, hielt kurz inne und wippte dann wieder vor und zurück, während der Druck in seiner Harnröhre stieg.
Wenn mich nur jemand sehen könnte, dachte er. Wie jämmerlich und erbärmlich ich hier sitze. Aber wie würden sich andere wohl verhalten. Genau so jämmerlich und erbärmlich, da verwette ich meinen Arsch drauf. Jeder kann seine Fresse aufreißen, was er tun würde, wenn er mal in eine solche Situation geraten sollte, aber erst wenn es soweit ist, sieht man, wie viel hinter den Worten wirklich steckt.
Das brachte es so ziemlich auf den Punkt. Hatte nicht jeder schon einmal mit dem Gedanken gespielt, entführt zu werden und sich wie John Rambo den Weg in die Freiheit zu kämpfen. Die Realität sah leider anders aus. Die Realität war viel furchteinflößender.
Es wurde Zeit. Wenn er sich nicht in die Hose machen wollte, musste er jetzt Wasser lassen. Ohne Rücksicht auf Verluste.
Keine falsche Scham, Kumpel, nichts wofür du dich schämen müsstest.
Peter erhob sich und blickte in die gelbliche Ecke zu seiner Rechten. Er trat zwei Schritte nach rechts und vernahm ein leises, elektronisches Summen aus der Dunkelheit. Es hörte sich an wie ein ferngesteuertes Spielzeugauto in einigen Metern Entfernung. Was war das?
Er konnte es momentan nicht einordnen. Sein Verstand konnte keine Verbindung zwischen dem Geräusch und irgendetwas anderem herstellen. Die höchste Priorität hatte eindeutig seine Blase im Augenblick.
Er stellte sich mit der Brust zur Ecke, zog den Reißverschluss seiner Cargohose herunter und nahm seinen Penis zwischen die Finger.
Einfach laufen lassen.
Er musste dringen pinkeln, aber es kam nichts. Peter schloss die Augen und stellte sich einen laut rauschenden Wasserfall vor. Ein weißer Schwall Wasser, das gischtend in einem Fluss landete.
Komm schon. Komm schon!
Beunruhigt blickte er hinter sich, wohl wissend, dass er beobachtet wurde.
Nein, konzentrier dich jetzt, verdammt!
Mit den Augen fixierte er die Wand direkt vor sich. Zuerst tröpfelte der Urin schwach aus ihm heraus, schnell entwickelte sich der Rinnsal jedoch zu einem druckvollen, dunkel gelben Strahl.
8
Weiterhin wurde der Raum mit dem statischen Rauschen aus dem Lautsprecher beschallt, das Atmen aus der Dunkelheit mischte sich unter die Geräuschkulisse wie das konstant aus dem Abwasserrohr tröpfelnde Wasser zu Peters Linken, während sein gleichmäßiger Puls wie eine Buschtrommel in seinen Ohren dröhnte.
Das Rauschen aus der Membran wurde wieder durch ein kurzes Knacken unterbrochen, als ob jemand die Sprechentaste am anderen Ende eines Funkgerätes betätigte.
„Kann mich jemand hören?“, fragte er in den Raum hinein. Er sprach weder leise noch mit gehobener Stimme. Es wirkte, als wolle er sich mit seinem verborgenen Gegenüber unterhalten.
Unerwartet antwortete ihm jemand. Eine männliche Roboterstimme. Sie hörte sich synthetisch an. Wie die Anweisungen aus einem Navigationsgerät in einem Auto.
„Ich kann Sie verstehen.“ Nach jedem Wort legte die Stimme eine kurze Pause ein, als ob nach dem nächsten geeigneten Wort gesucht werden musste. Dem Satz fehlte jegliche Betonung – vollkommene Monotonie.
Aufgeregt sprang Peter auf und trat zwei Schritte auf den Lautsprecher zu. Er war hellwach und bei vollem Bewusstsein. Oder halluzinierte er? Nein, er halluzinierte nicht.
„Wer sind Sie?“, fragte er mit hoffnungsvoller Stimme.
„Diese Information ist nicht verfügbar“, drang es mit der selben monotonen Stimme aus dem Lautsprecher. „Wissen Sie, wieso Sie hier sind?“
Peter musste einen Moment inne halten und legte die Stirn in Falten, angesichts dieser seltsamen Frage.
„Nein, aber-“
„Sehr gut“, unterbrach ihn die Roboterstimme abgehackt. „Kennen Sie Ihren Namen?“
„Natürlich kenne ich meinen Namen!“, rief er verwirrt. „Was soll denn das? Holen Sie mich hier raus! Ich will verdammt nochmal gehen!“
„Diese Option ist nicht verfügbar.“
Wie vor den Kopf gestoßen taumelte er einen Schritt zurück.
„Welche Option ist denn verfügbar?“, wollte er wissen.
„Diese Information ist nicht verfügbar.“
„Ich glaube, wir drehen uns hier im Kreis“, sagte Peter mehr zu sich selbst.
„Da haben Sie vermutlich recht“, wurde ihm gefühlsarm zugestimmt. Die Synthetik der Stimme beraubte ihr jegliche Menschlichkeit. Er konnte sie zwar einem männlichen Sprecher zuordnen, auf Grund der tiefen Tonlage, aber dennoch klang sie nicht human.
Es wurde wieder still. Nur das statische Rauschen, das tröpfelnde Wasser und die beunruhigende Atmung im Hintergrund.
Unbewusst kratzte er sich heftig den rechten Unterarm an der Stelle des Moskitostichs. Rote Streifen zogen sich über die Haut.
Denk nach, Kumpel, welche Fragen kannst du stellen?
„Okay, spreche ich mit einem Menschen oder mit einem Computer?“
„Diese Information ist nicht verfügbar.“
„Ja ja, diese Information ist nicht verfügbar“, spottete Peter gehässig. „Ich will Antworten!“
Die synthetische Stimme reagierte nicht. Neben sich vernahm er ein metallisches Schaben. Er trat einen Schritt nach links. Peter war der Dunkelheit ziemlich nahe gekommen ohne es zu bemerken. Das Etwas gab ein kurzes, aggressiv wirkendes Knurren von sich. Gebannt starrte er in das Nichts aus Schwärze.
„Was ist dort drüben?“, fragte er mit in Richtung Lautsprecher erhobenem Kopf und zeigte mit der rechten Hand in die Dunkelheit.
„Ein stoff- und energiewechselndes, homöostasierendes, im Wachstum begriffenes Lebewesen“, war die monotone Antwort.
„Homöostasierend?“
„Es reguliert und organisiert sich selbst.“
„Aha.“ Peter konnte nichts mit der Information anfangen. Er wusste zuvor auch schon, dass sich hinter der Schwelle zur Dunkelheit etwas lebendes befand. „Um was genau handelt es sich bei dem Lebewesen?“
„Das Lebewesen ist zu Stoffwechsel, Evolution, Fortpflanzung und Wachstum fähig“, kam die Antwort wie aus einer Enzyklopädie abgelesen. „Außerdem ist es empfänglich für jegliche Art von Reizbarkeit.“
„Es ist also reizbar“, wiederholte Peter. „Heißt das, dass es schnell aggressiv wird?“
„Es ist empfänglich für jegliche Art von Reizbarkeit“, gab der Lautsprecher mit der gleichen Monotonie wie zuvor von sich.
„Welche Reize?“, wollte er wissen. Er musste beharrlich sein, dass wurde ihm inzwischen klar. Er musste so präzise fragen wie möglich.
„Hitze, Kälte, Druck, Düfte, Geschmack, Licht, Schmerz, Schallwellen...“
„Schon gut, ich hab verstanden“, unterbrach Peter die zwischen den einzelnen Worten stockende Aufzählung.
Was kannst du damit anfangen? Bringt dich das weiter?
Wieder schabten unbewusst die Fingernägel seiner linken Hand über seinen rechten Unterarm.
9
Er musste die alles entscheidende Frage stellen.
„Kann ich diesen Raum verlassen, wenn ich möchte?“
„Nein.“ Eine absolute Antwort, die mit trockener, synthetischer Stimme gegeben wurde und die keinen Spielraum für irgendwelche Interpretationen ließ.
Verzweiflung packte ihn, gemischt mit kaum zu kontrollierender Wut. Aber er durfte nicht ausrasten. Er musste sich beherrschen. Welches Resultat ein Gefühlsausbruch zur Folge hatte, hatte er gespürt, als er völlig von Sinnen in die Schwärze gestürzt war. Stunden oder vielleicht Tage war er bewusstlos auf dem schmutzigen Boden gelegen.
Ein Bart war ihm gewachsen. Er hasste es, sich nicht rasieren zu können. Peter mochte es, wenn sein Gesicht glatt wie ein Babyhintern war. Bartstoppeln konnte er auf den Tod nicht ausstehen.
Tod. Schlechte Wortwahl.
Die gesamte Situation kam ihm surreal vor, vollkommen realitätsfern und absurd. Solche Dinge sah man in schlechten Horrorfilmen, aber nicht im echten Leben. Ihm wurde noch nie aus erster Hand von einer Entführung erzählt. Meistens – wenn überhaupt – hörte man solche Geschichten von jemandem, der die Geschichte von jemand anderem gehört hatte, der sie wiederum von jemand anderem gehört hatte und so weiter. Es hatte etwas von Flüsterpost. Am Ende bekam man eine vollkommen andere Story zu hören, als die ursprüngliche Fassung.
Jetzt hier zu sein und ein derartiges Erlebnis am eigenen Leib zu spüren zu bekommen war unfassbar. Vor allem musste er immer wieder daran denken, dass wirklich niemand ihn vermissen würde. Gut, vielleicht in zwei, drei Wochen, wenn er seine Wohnung nicht mehr verließ und seine Rechnungen nicht mehr bezahlen würde. Zuerst würden sie Mahnungen schicken, vielleicht mit einem Inkassoverfahren drohen, was sich dann auch nochmal einige Zeit hinziehen würde, während sein Briefkasten vor lauter ungeöffneten Briefen überquellen würde. Bis schließlich jemand persönlich bei ihm auftauchen würde, würde dann nochmal einiges an Zeit ins Land ziehen. Wahrscheinlich dauerte es dann weitere Wochen bis sie misstrauisch wurden, dass er wirklich nie zu Hause war, wenn sie aufkreuzten. Es war ausweglos.
„Du sitzt tief in der Scheiße, mein Freund“, flüsterte Peter. Er senkte den Blick und trat einige Schritte zurück, um sich wieder an die Wand zu setzen. Es war sinnlos mit einer Maschine zu sprechen. Sie konnte ihm nicht die Antworten geben, die er verlangte, sie konnte keine Querverbindungen herstellen und Zusammenhänge erfassen, geschweige denn, einfühlsam wirken.
Er könnte wirklich etwas Mitgefühl gebrauchen. Das Gefühl der Vereinsamung schien sich wie ein Krebsgeschwür in ihm aufzubauen und zu wachsen.
Wieder dieses elektronische Summen, als er sich durch den Raum bewegte.
Was zum Teufel ist denn das?
Mit gerunzelter Stirn versuchte er irgendetwas in der Dunkelheit auszumachen. Sie war jedoch vollkommen undurchdringlich für seine Augen.
Er stemmte die Hände in die Hüften und trat einen Schritt rückwärts. Wieder dieses Summen. Stille.
Um das ganze Phänomen nochmal zu testen, wiederholte er den Vorgang. Diesmal ging er vorwärts. Es summte leise wie eine Fliege, die in einem stillen Zimmer herumflog.
„Hmm.“ Er rieb sich nachdenklich das stoppelige Kinn.
Mit vierzehn oder fünfzehn Jahren hatte er kleine Spielzeugautos aus Lego mit einem kleinen, batteriebetriebenen Motor zusammengebaut, die sich genauso summend angehört hatten. Verschiedene Bilder, die er mit diesem Geräusch assoziierte gingen ihm durch den Kopf. Aber keines passte zu seiner aktuellen Situation. Er konnte sich einfach keinen Reim darauf machen. Die Lösung schien greifbar nah, doch sie entglitt immer wieder seinen Fingern.
Streng dein Hirn an, verdammt!
Er sah kleine Roboter vor seinem geistigen Auge, die summend ihre Arme hoben, er sah sich vor dem Spiegel, mit einem brummenden Rasierapparat in der Hand, aber keines dieser Puzzleteilchen wollte sich in das Gesamtbild einfügen lassen.
„Dir fehlen die Randbedingungen“, sagt er. „Wenn du ein Puzzle hast, dann versuchst du zuerst den Rand zusammenzufügen und dann machst du dich an den Rest.“
Aber was waren die Randbedingungen?
Gute Frage.
Neuer Versuch. Wieder stellte er sich vor der Dunkelheit in Position, um einen Blick auf die Geräuschquelle zu werfen und vielleicht auch das Wesen auszumachen, dass ihm diesen harten Schlag vor die Brust verpasst hatte. Mit zusammengekniffenen Augen spähte er voraus, konnte aber nichts sehen. Rein gar nichts. Ein lautes Knurren und Rasseln ließ ihn wieder zurückschrecken und verwies ihn zurück auf seinen Platz. Es war eine deutliche Aussage: Bleib auf deiner Seite!
10
Er saß auf der gelben, metallenen Lunch-Box und grübelte vor sich hin. Immer wieder gab der Lautsprecher ein kurzes Knacken von sich und verfiel dann zurück in statisches Rauschen. Vor ihm schien sich ebenfalls nichts zu verändern. Weiter atmete die Kreatur leise und flach und versuchte ihn mit Knurren auf seiner Seite dingfest zu machen.
Bellende Hunde beißen nicht, heißt es doch immer, sagte ihm der optimistische Teil seines Verstandes, andererseits erinnerte ihn der Pessimist daran, dass er es doch sicher nicht am eigenen Leib herausfinden wollen würde. Peter musste leider zustimmen. Er saß in einer Patt-Situation fest.
Außerdem wurde ihm unmissverständlich klar gemacht, dass er den Raum nicht verlassen konnte. Er glaubte der synthetischen Stimme. Es blieben keine Zweifel, hier unten würde er sterben.
Peter kratzte sich entnervt den rechten Unterarm. Ein Blick verriet ihm, dass sich der Moskitostich durch das ständige Kratzen mittlerweile entzündet hatte und zu einem kleinen Hügelchen angeschwollen war. Rote Schlieren zogen sich über seine blasse Haut, die er sich mit den inzwischen zu beachtlicher Länge angewachsenen Fingernägeln zugefügt hatte.
Selbst Schuld, sagte er sich. Hättest du mehr aus deinem Leben gemacht, könntest du wenigstens darauf hoffen, dass dich jemand vermissen würde, wenn du spurlos verschwindest, aber so ist die Situation wohl leider hoffnungslos. Tut mir leid, Kumpel. Es war schön mit dir.
Galgenhumor, das Letzte, das er jetzt gebrauchen konnte. Trotzdem konnte er sich die Andeutung eines Lächelns nicht verkneifen. Resignation stand ihm ins Gesicht geschrieben.
Das permanente Jucken machte ihn noch wahnsinnig. Er hob den Unterarm an den Mund und biss so fest er konnte, ohne dass es ihm zu starke Schmerzen bereitete, in die entzündete Stelle. Er musste das Gift herausbekommen, damit sich die Stelle beruhigen und heilen konnte. Peter legte seine trockenen Lippen auf die Haut und saugte so fest er konnte. Er hatte nicht das Gefühl, dass es helfen würde, also gab er es auf und fuhr sich noch ein paar Mal mit den schmutzigen Fingernägeln darüber, was eine Heilung sicher nicht fördern würde.
Inzwischen wurden auch seine Augenlider schwer. Langsam, aber unausweichlich bahnte sich die Müdigkeit an. Er konnte unmöglich hier schlafen. Wie sollte er sich hier hinlegen, die Augen schließen und hoffen, jemals wieder aufzuwachen? Nein, er konnte unmöglich schlafen.
Wie lange war er schon auf den Beinen? Er hatte keinen blassen Schimmer. Die Phasen seiner Ohnmacht konnte er ebenfalls nicht einschätzen. Er hatte noch keine Möglichkeit gehabt, sich zu erholen und auszuruhen, neue Energie zu schöpfen.
„Hey, ihr Penner!“, rief er wahllos in den Raum. „Ich hau mich jetzt auf's Ohr, ihr könnt mich mal!“
Mit vorgestrecktem Kinn hob er den Mittelfinger in Richtung Dunkelheit.
Kapitel 3
Schlaf
Schlaf
1
Peter konnte sich keinen unbequemeren Ort zum Schlafen vorstellen, als diesen weißen, verdammt harten Fliesboden. Zuerst hatte er versucht mit dem Gesicht zur Wand auf der rechten Schulter zu schlafen, was ihm nach gefühlten zehn Sekunden – in Wahrheit waren es wohl eher zehn Minuten – dazu veranlasste, sich auf den Rücken zu drehen.
In dieser Position konnte er zwar seinen Rücken entlasten, sein Hinterkopf begann nach kurzer Zeit jedoch zu pochen. Er schob seine rechte Hand zwischen Boden und Kopfhaut. Nach ein paar Minuten verlor er das Gefühl in ihr, drehte sie um und prompt schmerzten die Knöchel, die sich in einer Kerbe zwischen zwei Fliesen eingefunden hatten.
Es war zum Verzweifeln. Wie er sich drehte und wandte, er fand keine geeignete Position, um endlich zur Ruhe zu kommen. Die flache Atmung, die er trotz seinem Ärger weiterhin vernahm, war wenig hilfreich. Mittlerweile hatte er sich allerdings insofern daran gewöhnt, dass er nicht in ständiger Angst vor dem lauernden Etwas lebte, da er wusste, dass ihm nichts passieren würde, solange er sich nur auf seinem Terrain bewegte. Er hoffte es zumindest.
Er setzte sich auf, atmete tief durch und wollte schon fast aufgeben.
Ohne Kopfkissen wird das nichts.
Schließlich zog er sein Sweatshirt über den Kopf, knüllte es zusammen und bettete seine Wange auf der federweichen Baumwolle, die ihm vorkam wie eine Wolke im Gegensatz zu den harten, weißen Fliesen. Und obwohl sein Oberkörper frei war, schwitzte er weiterhin aufgrund der Hitze in diesem Raum. Er kratzte noch schnell über seinen Unterarm, der mittlerweile die Farbe eines Feuermelders angenommen hatte und schloss dann die Augen.
Es war unglaublich. Die gleichmäßige Atmung des unbekannten Wesens schien ihn in den Schlaf zu wiegen. Erst als er die Augen schloss, fiel ihm auf, wie erschöpft er eigentlich war.
2
Nachdem Peter die Augen geschlossen hatte, registrierte sein Körper den Schlafmangel und ergriff sofort die Initiative. Innerhalb weniger Minuten sanken sein Puls, seine Atemfrequenz und sein Blutdruck, während er in den sogenannten NREM-Schlaf fiel.
Später begann sein Gehirn wieder aktiv zu werden, seine Herz- und Atemfrequenz stiegen wieder an, genau so sein Blutdruck. Hätte ein Arzt seine Gehirnaktivitäten aufgezeichnet, dann hätte er ein ähnliches Muster erkennen können, als ob Peter wach gewesen wäre. Einzig alleine seine Muskulatur wurde paralysiert, als er in den REM-Schlaf hinüber glitt, sodass seine motorischen Fähigkeiten gelähmt blieben. Peter begann zu träumen.
3
Er ist umgeben von kristallinen, goldschimmernden Wänden. Die Höhle wird ausgeleuchtet, es ist hell, jedoch kann er nirgendwo eine Lichtquelle ausmachen. Er blickt zur Decke, die ebenfalls aus diesen goldenen Kristallen besteht. In der Mitte der Höhle steht eine hölzerne, mit Moos bedeckte Truhe, die ihm bis etwa zu den Knien reicht, von der Länge eines Gitarrenkoffers.
Peter dreht sich im Kreis, kann jedoch keinen Aus- oder Eingang erkennen. Wie ist er hier her gekommen?
Er will etwas rufen. Sein Mund öffnet sich und seine Stimmbänder scheinen einen Schrei zu produzieren, aber kein Ton verlässt seine Kehle. Mit dem Handballen reibt er sich das rechte Ohr und versucht es noch einmal, doch er ist weiterhin stumm. Das Bild von drei Affen geht ihm durch den Kopf. Einer hält sich die Ohren zu, einer den Mund und der dritte Affe die Augen. Wenigstens kann er sehen.
Mit dem rechten Fuß scharrt er über den sandigen Boden. Kein Geräusch. Vollkommene Stille.
Er blickt die vom goldenen Schimmer beleuchtete Truhe in der Mitte der Höhle an. Es scheint darauf hinauszulaufen, dass er sie wohl öffnen muss. Gedanken überfluten sein Gehirn, sodass er keinen einzigen zu fassen bekommt. Es kommt ihm vor, als wolle er sich auf eine einzige Stimme konzentrieren, inmitten einer Menschenmasse, die wild durcheinander diskutiert. Fast so, als wolle er mit einem Löffel Spaghetti essen.
Bedächtig geht er auf die braune Kiste zu. An ihrer Vorderseite prangt zwar ein Vorhängeschloss, jedoch ist es bereits geöffnet. Er nimmt es aus der metallenen Öse und schmeißt es hinter sich. Kein dumpfer Aufprall dringt an seine Ohren. Nur diese unheimliche Stille.
Vorsichtig schiebt Peter seine Finger in die Kerbe zwischen Deckel und unterem Kasten und zieht. Das grün graue Moos rutscht nach hinten weg und landet im Sand. Mit den Augen tastet er jeden Winkel des leeren Innenraums ab. Was hatte er erwartet?
Er geht einige Schritte zurück bis sein Rücken an die kristalline Wand stößt und lässt sich zu Boden sinken. Die Augen hat er fest an die leere Truhe geheftet.
Plötzlich schließen sich Finger von innen um den oberen Rand des unteren Quaders. Bräunliche, schmutzige Finger. Der Dreck wirkt wie geronnenes Blut. Eine zweite Hand kommt zum Vorschein, als würde sich jemand über eine Felskante ziehen wollen. Der rechte Arm schießt nach oben und klammert sich am Holz fest. Er sieht aus wie verdorbenes Hackfleisch. Grau, aber immer noch ist die ehemals rötliche Farbe zu erkennen. Einige Stellen der Haut sind aufgeplatzt und gelber Eiter vermischt mit hellrotem Blut drückt sich auf die gräuliche Haut heraus. Auch der zweite Arm klammert sich nun am Äußeren der Truhe fest. Ein Gesicht kommt über der inzwischen mit Blut und Eiter verschmierten Kante zum Vorschein.
Fassungslos sieht Peter sich das Schauspiel an. Bräunliche Haare, kurz geschnitten, ein buschiger Drei-Tage-Bart um den Mund bis hoch zu den Koteletten, dunkle, ausdruckslose Augen.
Unmöglich, schießt es Peter durch den Kopf. Unmöglich, unmöglich!
Er sieht in sein eigenes Gesicht. Er selbst klettert aus dieser vermoderten Kiste. Eine heruntergekommene, schwache Version seiner Selbst. Aber diese Boshaftigkeit in seinem Gesichtsausdruck. Seinem anderen Ich.
Peter kann sich nicht bewegen. Er ist wie gelähmt, wie paralysiert. Selbst das Aufstehen scheint ihm in diesem Moment eine unüberwindbare Hürde zu sein. Er will den Blick abwenden, doch die Faszination des Schauspiels lässt ihn nicht aus seinem Bann entweichen.
Da steht er. Er selbst. Blutüberströmt, sein rechter Arm mit kleinen, aufgeplatzten Wunden übersät, aus denen Eiter und helles Blut rinnt, hängt schlaff an der Seite herunter. Die Finger der rechten Hand sind blauschwarz gefärbt, als wären sie von seinem Blutkreislauf abgeschnitten worden.
Peter spürt, wie sein Magen beginnt zu revoltieren. Er muss sich übergeben. Erbrochenes kriecht heiß seine Speiseröhre hinauf und sammelt sich zähflüssig in seiner Mundhöhle. Er hebt seinen rechten Arm und will sich die Hand vor den mit Kotze gefüllten Mund halten, doch da ist keine Hand. Er wedelt mit der Handfläche vor seinen Augen herum, doch er sieht sie nicht. Sein Blick trifft weiterhin ungestört die kristalline, golden schimmernde Wand.
Wie eine Fontäne spritzt Erbrochenes zwischen seinen zusammengepressten Lippen heraus und landet stumm auf dem sandigen Untergrund.
Mein Arm!, versucht er zu rufen, doch kein Ton verlässt seinen Körper. Scheiße, mein Arm! Wo ist mein Arm?!
Das Letzte, das er sieht, ist, wie sein Klon, wie er selbst, sich ins Gesicht lacht. Ein geräuschloses Lachen mit einem mit Dreck und Blut beschmierten Gesicht. Er steht vor der Truhe und leckt sich genüsslich den Eiter von seinem rechten Unterarm.
4
Immer wieder warf er einen unruhigen Blick auf die große Uhr, die an der Vorderseite des Glockenturms im Stadtzentrum prangte und alle anderen Gebäude zu überblicken schien. Er marschierte die kopfsteingepflasterte Seitenstraße vor dem Italiener auf und ab.
Menschenmassen wuselten wie Ameisen durch die Straßen, vollgepackt mit Einkaufstüten von verschiedenen Fashion-Shops. Samstagabend und die Leute hatten nichts besseres zu tun als Shoppen zu gehen.
Inzwischen war es fünfzehn Minuten vor acht. Peter war eine halbe Stunde zu früh da gewesen. Das lag wahrscheinlich daran, dass er schon seit einer halben Ewigkeit kein richtiges Date mehr hatte. Er versuchte sich daran zu erinnern, wann er das letzte Mal so richtig mit einer Frau zum Essen aus gewesen war, aber die Erinnerung schien so tief in seinem Gehirn vergraben zu sein, dass er sie einfach nicht zu greifen vermochte.
Hin und wieder brachte er eine Frau in sein bescheidenes Zuhause mit, aber meistens blieben sie für die Nacht und verschwanden zusammen mit allem, was aus ihnen hätte werden können, wortlos in die große, weite Welt.
Seine letzte Beziehung mit Sandy hatte ein ganzes Jahr überdauert. Zu Weihnachten bekam er dann sein Geschenk von ihr.
„Ich bin mir nicht sicher, ob das mit uns beiden etwas Vollwertiges werden kann“, hatte sie an Heilig Abend gesagt. Schon als sie mit leeren Händen vor seiner Haustür gestanden war, war er misstrauisch geworden. Peter war gerade dabei gewesen einen Truthahn zuzubereiten, den Tisch zu schmücken und eine Flasche Chardonnay zu öffnen. Zwei Kerzen umzingelten eine rote Rose auf dem Essenstisch und Weihnachtsmusik beschallte leise den Raum aus seiner No-Name-Stereo-Anlage. „Weißt du, ich hab es wirklich probiert, aber ich glaube nicht, dass wir beide für einander geschaffen sind und es gibt so viele Menschen dort draußen und wir sind doch noch so jung. Wir sollten vielleicht erst einmal Erfahrungen sammeln. Lebenserfahrung, Peter. Mit wie vielen Frauen warst du denn schon zusammen?“ Sie wollte keine Antwort auf diese Frage, das hatte er gewusst. „Lass uns in Kontakt bleiben, vielleicht wird aus uns beiden nochmal was, aber momentan bin ich für eine feste Bindung einfach noch nicht bereit.“
Es war ein eher einseitiges Gespräch gewesen. Peter hatte sich nicht dazu geäußert. Er stand nur da, hatte die Fleischgabel in der Hand, sich die Kochschürze um die Hüfte gebunden und hörte zu. Dann hatte Sandy sich umgedreht und war verschwunden.
Seelenruhig hatte er die beiden Kerzen aus gepustet, den Truthahn zu Ende zubereitet und sich einen schönen Heilig Abend vor dem Fernseher gemacht. Immerhin hatte er Sandy nichts teures zu Weihnachten gekauft. Welch ein Trost.
Das Eigenartige an diesem Abend war jedoch, dass es ihn nicht wirklich getroffen hatte. Sie hatten eine tolle Beziehung – zumindest aus seiner Sicht – aber trotzdem bedauerte er ihren Entschluss nicht. Er fühlte sich weder gut noch schlecht, er fühlte sich auf eine gewisse Weise neutral. Es fühlte sich an, als wäre er nur ein Betrachter und kein Betroffener.
Glücklicherweise hatte er vorgesorgt und sich ein Sixpack gekauft, sodass der Abend schnell an ihm vorbeizog.
Punkt zwanzig Uhr kam Jenny in einem mitternachtsblauen, knielangen Kleid um die Ecke und lächelte ihn an. Zuerst wusste er nicht, was er mit seinen Händen anfangen sollte, dann breitete er die Arme aus und umarmte sie kurz.
„Wie geht es dir?“, fragte sie ihn.
Gut, sie schien nicht schüchtern zu sein. Sie tat ihm einen großen Gefallen, indem sie das Wort zuerst ergriff und die Unterhaltung in Gang brachte.
„Sehr gut, danke“, spielte er den Ball zurück. „Und dir? Gut siehst du übrigens aus.“
„Danke“, erwiderte sie leicht errötend. „Ja, mir geht’s auch gut. Ich stand stundenlang zu Hause rum und hab mir überlegt, was ich bitte anziehen soll.“ Sie lachte. Es hörte sich in seinen Ohren wunderbar an. „Tut mir leid, ich bin etwas aufgeregt.“
Ein Stein fiel ihm vom Herzen. Sein Körper entspannte sich etwas. „Ich auch – und wie! Aber ich glaube, wir schaffen das schon.“
„Ich bin zuversichtlich“, sagte Jenny, während sie ihren Arm bei ihm einhakte. „Gehen wir rein?“
Jenny sah Peter über die Flamme einer Kerze hinweg an. Im Hintergrund spielte leise und melodisch ein Klavier. Hin und wieder huschte ein Kellner mit einer roten Lendenschürze und einem vollgepackten Tablett zwischen den Tischen hindurch. Peter musste immer wieder an Arbeiterbienen denken, wenn er einen von ihnen sah.
Ein paar Tische weiter saß ein glücklich wirkendes Paar und unterhielt sich leise miteinander. Anscheinend hatte er ihr etwas lustiges erzählt, weil sie zu lachen begann und sich die Serviette vor den Mund hielt, was ihr Lachen wiederum kaum zu dämpfen vermochte. Glücklich wirkend, weil man schließlich nie wissen konnte, was wirklich hinter dieser nach außen zur Schau gestellten Fassade verborgen lag. Vielleicht schlug er sie im sicheren Schutz der eigenen vier Wände. Wer weiß? Er war ein gutaussehender junger Mann, um die Mitte zwanzig, vielleicht betrog er seine Frau auch. Peter dachte nochmal darüber nach, betrachtete die Frau und kam zu dem Schluss, dass wohl eher sie ihn betrog, wenn er ihr gutes Aussehen berücksichtigte.
Seine Gedanken schweiften ab. Er sollte sich wohl eher auf das eigene Gespräch konzentrieren.
„Was machst du eigentlich beruflich, Jenny? Arbeitest du nebenbei im Pub oder bist du immer dort?“ Im Nachhinein hatte sich die Frage dann doch etwas forsch in seinen Ohren angehört. Trotzdem sah sie ihn verständnisvoll lächelnd an.
„Naja“, sagte sie und machte eine kurze Pause, während sie die Hände faltete und auf ihren Teller blickte, auf dem ihre zusammengefaltete Serviette und ihr überkreuztes Besteck lag. „Eigentlich drängt mich mein Vater, dass ich unbedingt in seiner Firma anfangen soll. Aber um ehrlich zu sein, habe ich nicht die geringste Lust unter seinen Fuchteln zu arbeiten. Glaub mir, es ist wirklich nicht einfach einen Kontrollfreak als Vater zu haben, aber als Chef? Nein, danke. Ich will mir selber etwas aufbauen, will mein Leben selber auf die Reihe bekommen und etwas Geld verdienen. Das Kellnern ist nur eine vorübergehende Lösung. Ich weiß, ich weiß, das sagen sie alle.“
„Nein, das ist eine sehr gute Einstellung“, sagte Peter. „ Ich meine, warum einfach, wenn es auch schwer geht?“
Sie musste lachen und sah ihm in die Augen. „Was ist mit dir?“
„Oh, ich... ich hab vielleicht so ein ähnliches Problem. Momentan arbeite ich in einem Copy Shop – übergangsweise natürlich. Aber ich suche gerade noch eine Stelle, die mich anspricht.“
„Ich kann gerne mal meinen Vater fragen, ob er noch eine Stelle für dich frei hat. Ein Anruf und das Ding ist gebongt.“
„Was für eine Firma ist das denn?“, wollte Peter wissen. Er war interessiert. Der Fisch hatte den Köder geschluckt, jetzt musste sie ihn nur noch aus dem Wasser ziehen. Zumindest kam er sich so vor.
„Interdisziplinär, würde ich mal sagen“, antwortete Jenny. „Deswegen bin ich mir ja auch so sicher, dass er eine Stelle für dich hätte. Hauptsächlich geht es um Computersoftware, aber auch andere Themengebiete wie zum Beispiel technologische, futuristische oder Genforschung. Er finanziert viele Forschungsprojekte. Die einzige Bedingung, die mein Vater stellt, ist, dass unter seinem Dach geforscht wird, sodass er alles im Auge behalten kann. Ich sage ja, er ist ein Kontrollfreak. Aber wie auch immer, er braucht andauernd Leute, die die organisatorischen oder administrativen Aufgaben übernehmen. Ich bin sicher, dass du dort irgendwo einen Platz finden würdest.“
„Hört sich auf jeden Fall interessant an“, meinte Peter. „Meinst du wirklich, dass er dort jemanden gebrauchen kann, der wirklich keine Ahnung von dem ganzen Kram hat?“
Sie musste lachen. „Glaubst du denn, dass mein Vater irgendeine Ahnung von dem Kram hat?“
Er konnte sich gut vorstellen, wie er in einem eigenen Büro sitzt, sich die Papiere, die er noch zu bearbeiten hatte, in einer Ecke des Schreibtischs stapelten und er pausenlos mit den Fingern in die Tastatur seines Computers hackt. Termine platzieren, Meetings organisieren, Hintergrundinformationen und Zusammenfassungen erstellen, hin und wieder selbst zu einem Meeting gehen, alles natürlich auf Kosten der Firma. Vielleicht würde er sie bitten, wirklich ihren Vater zu fragen, ob er eine Stelle für ihn frei hatte, es konnte schließlich nicht schaden, sich das Ganze in den Worten des Firmenleiters nochmal anzuhören. Soweit er wusste, wurde man als Angestellter einer forschungsorientierten Organisation nicht einmal so schlecht bezahlt.
Seine Vorstellung kippte um. Weg von den beruflichen Aspekten zu den privaten Vorzügen, die ihm ein gut bezahlter Job bescheren würden. Mit der monatlichen finanziellen Spritze einer solchen Anstellung könnte er endlich aus seinem kleinen, verkommenen Loch in eine geräumigere, frisch renovierte Drei-Zimmer-Wohnung ziehen. Seinen kleinen Röhrenfernseher, der in der rechten, unteren Ecke seit einer Weile Regenbogenfarben anzeigte, da er eine Zeit lang neben einem großen Lautsprecher stand, könnte er gegen einen nigel nagelneuen Plasma TV eintauschen, den er sich natürlich an die Wand seines neuen Domizils hängen würde. Und sein Auto, das momentan nicht existierte, würde er gegen einen Mercedes oder einen BMW eintauschen, was wohl ein sehr guter Tausch wäre, auch wenn er vielleicht etwas draufzahlen musste.
Sein Blick schweifte durch das Restaurant. Die Fenster waren mit weinroten Seidenvorhängen beschmückt, auf jedem Tisch für zwei Personen brannte eine Kerze. Er konnte so viele glückliche Paare sehen. Unglaublich, dass er mit Jenny einfach in der Masse verschwand und nicht alleine hier saß, um sich an einem Schweinekotelett gütlich zu tun.
Rechts von ihm saß jedoch jemand alleine an einem Tisch. Ein älterer Herr mit grau silbernem Haar, dunklen Tränensäcken unter den Augen und einem bösen, sondierenden Blick. Er trug ein blaurotes Holzfällerhemd, was sich so gar nicht in die Umgebung schmiegen wollte, zwischen Männern, die Sakkos und Frauen, die Abendkleider trugen. Eine unheimliche Unruhe schien seine Augen befallen zu haben. Immer wieder huschte sein Blick von links nach rechts, wobei er immer wieder für den Bruchteil einer Sekunde an Peter festzukleben schien.
Er dachte nicht weiter darüber nach und widmete sich wieder voll und ganz seiner bezaubernden Begleitung.
„Ist was?“, fragte sie ihn neugierig lächelnd.
„Nein, nein, alles in Ordnung“, antwortete er. „Ich war nur etwas in Gedanken.“
Sie sah ihn erwartungsvoll mit ihren kastanienfarbenen Augen an. Wahrscheinlich wartete sie darauf, dass er etwas sagte und den Abend vorantrieb. Wenn er sie so betrachtete, musste er wieder an die neue Wohnung, den neuen Fernseher und das neue Auto denken, dass ihm ein neuer, besserer Job verschaffen konnte. Er musste daran denken, wie es wohl wäre, dies alles mit ihr zu teilen. Peter kam zu dem Schluss, dass es wundervoll wäre. Was sollte er mit dem ganzen Zeug, wenn er keine Frau an seiner Seite hatte, die ihn liebte, geschweige denn, die er liebte. Und die Zuneigung, die er zu ihr empfand, konnte er wohl kaum leugnen.
Sie verbrachten noch eine viertel Stunde in dem italienischen Restaurant und machten sich dann auf den Weg zu ihr, um noch eine Falsche Wein zu öffnen und ein wenig miteinander zu plaudern. Die Jacke, die er auf dem Weg trug, sollte nicht das einzige Kleidungsstück sein, das er bei ihr an diesem Abend zu Hause ausziehen würde.
Kapitel 4
Krebsvorsorgeuntersuchung
Krebsvorsorgeuntersuchung
1
Rob und Peter saßen auf der ledernen Couch vor dem riesigen Flachbildschirm, auf dem sie sich das Samstagabend-Fußballspiel ansahen. Der gläserne Couchtisch war mit Schalen voll Paprika-Chips und leeren Bierflaschen vollgestellt. Rob paffte eine dicke Zigarre, die er zwischen seinen wurstigen Fingern hielt, während er mit der anderen immer wieder das Bier zu seinem Mund führte und am Flaschenhals nuckelte wie ein Baby an seinem Schnuller. Dicke, bläulich graue Rauchschwaden schwebten über ihren Köpfen und schienen wie eingefroren in der Luft zu hängen.
Peter warf Robert einen Blick von der Seite zu und konnte nur über den inzwischen zu beachtlicher Größe angewachsenen Bierbauch staunen. Was war aus der Zeit geworden, als Rob noch sportlich und dynamisch selbst über das Fußballfeld gesprintet war und alle dachten, er hätte eine glorreiche Sportlerkarriere vor sich? Das Leben verteilte die Karten eben ungerecht, wie er immer wieder feststellen musste. Er zündete sich eine Marlboro an und legte das Feuerzeug zusammen mit der Zigarettenpackung vor sich auf den Tisch.
Es war schon eigenartig, wie zwanzig kleine Männchen einem winzigen, weißen Ball hinterherrannten und zwei kleine Männer versuchten ihre Tore zu verteidigen. Alles zum Vergnügen der Massen. Trotzdem sah er sich jede Woche mit Rob das Spiel an.
Durch die weißen Vorhänge an den Fenstern schimmerte inzwischen das Abendrot in das Zimmer. Peter war zufrieden mit seinem Leben. Momentan lief alles wie am Schnürchen. Er hatte endlich einen angemessen vergüteten Arbeitsplatz gefunden, der ihn forderte wie er es sich gewünscht hatte, er war glücklich mit seiner Frau und an den Wochenenden hatte er seinen besten Freund an seiner Seite, der ihn besuchen kam, ohne dass sie sich überhaupt absprechen mussten.
Aus der Küche vernahm er das geschäftige Treiben des Kochens. Kochtöpfe klapperten stählern aneinander, hin und wieder zischte siedendes Fett in einer Pfanne, rauschendes Wasser, das in Gefäße gefüllt wurde, vielleicht um Nudeln abzukochen. Die Atmosphäre, die ihn umgab, ließ ihn sich zu Hause fühlen.
Jenny streckte den Kopf durch den Türrahmen, der zur Küche führte. „Jungs, braucht ihr noch was?“
„Alles in Ordnung, Schatz“, rief er ihr zu und lächelte sie kurz an, um sich dann wieder dem Spiel zuzuwenden. Jenny verschwand zurück in die Küche.
„Mannometer“, gab Rob von sich. „So eine Frau wünscht sich doch wohl jeder, mein Freund. Du guckst dir Sportsendungen an, während sie in der Küche kocht. Und sie scheint dabei auch noch glücklich zu sein! Verrat mir dein Geheimnis, bitte!“
Peter sah seinen Freund belustigt an. „Wenn jeder wüsste, wie es funktioniert, dann wäre es doch nichts Besonderes mehr, oder?“
„Stimmt auch wieder“, antwortete Rob. „Ich verrate es auch keinem, versprochen.“
Wenn Peter ehrlich gewesen wäre, hätte er ihm gesagt, dass er selbst nicht wusste, wie das alles zu Stande gekommen war. Nachdem Peter sich zum ersten Mal mit Jenny damals bei dem Italiener getroffen hatte, sie zusammen gegessen hatten und die Anspannung Schicht um Schicht von ihm abgefallen war, hatte sich ein Puzzleteilchen nach dem anderen zusammengefügt. Schließlich waren sie zum ersten Mal im Bett gelandet, dann ein weiteres Mal und nach dem dritten Mal ist Jenny dann mehrere Tage bei ihm in seiner kleinen, mit Büchern vollgestopften Wohnung geblieben. Das ganze Durcheinander schien ihr nichts auszumachen.
Einige Wochen später hatte sie dann wirklich mit ihrem Vater telefoniert und nachgefragt, ob er noch eine Stelle in seiner Forschungsfirma frei hätte, um Peter irgendwo unterzubringen. Und ja, er hatte tatsächlich eine Stelle für ihn frei. Natürlich konnte Peter nicht in der Forschung arbeiten, allerdings schien er wie geschaffen für eine eher bürokratische Position.
Richard Gronwich teilte ihn der Abteilung für futuristische Architektur zu. Natürlich wusste Peter nicht, in welchen Bereichen die Firma noch forschte. Er konnte hier und dort vielleicht etwas aufschnappen, an sich waren die einzelnen Abteilungen allerdings voneinander abgegrenzt, sodass Informationen nicht unter den Beteiligten ausgetauscht werden konnten – allerhöchstens auf dem Parkplatz nach Feierabend.
Im Bereich der Forschung bedeuteten Informationen Profit. Jedes Patent, das die Firma anmelden konnte, sicherte die Arbeitsplätze der Mitarbeiter, was wiederum dazu führte, dass jeder die Sache mit dem Informationsaustausch ziemlich ernst nahm, schließlich wollte niemand hier seinen Arbeitsplatz verlieren.
Peter wusste von einer Abteilung, die in Richtung Aerodynamische Optimierung arbeitete und von einer anderen, die sich mit Stammzellenforschung beschäftigte, wobei Richard – ja, er hatte darum gebeten, dass Peter ihn mit Vornamen ansprach, da er ja schließlich mit seiner Tochter liiert war – meinte, dass das ein Fass ohne Boden wäre. Die Abteilung würde vielleicht einmal in einem Jahrzehnt einen Erfolg verbuchen können.
Peters Abteilung beschäftigte sich hauptsächlich mit der bereits erwähnten futuristischen Architektur. Manche Wissenschaftler arbeiten theoretisch an einer unterseeischen Stadt, andere tüfteln an einer schwimmenden Stadt. Der aufregende Punkt dabei war, dass die Stadt wie ein Schiff die Anker lichten und sich auf dem Meer fortbewegen könnte, sodass sich die Bewohner in der Theorie dreihundertfünfundsechzig Tage im Jahr in Sonne suhlen könnten. Wahrscheinlich waren sie noch ellenlang davon entfernt, diese Stadt in der Realität umzusetzen, jedoch meldete seine Abteilung immer wieder kleinere Patente an. Letzten Monat hatten seine Wissenschaftler beispielsweise einen Außenbordantrieb entwickelt, womit die Stadt in ihrer Position um wenige Grade manövriert werden könnte. Patent angemeldet, Profit verbucht. Welche Firmen auch immer an solchen Erfindungen interessiert sein sollten.
Andere Projekte in Peters Bereich fokussierten nicht die unruhige, den größten Teil der Erde einnehmende Wasseroberfläche oder die weitestgehend unerforschte Tiefe des Ozeans, sie konzentrierten sich auf Gebäude, die weiter in die Höhe wachsen sollten. In Zeiten der Überbevölkerung mussten Neubauten nicht breit sein, sondern hoch.
Peter hatte sich selbst mit Hilfe von Google etwas schlau gemacht. Anscheinend nutzten einige Wissenschaftler aus seinem Team eine Vorlage des britischen Architekten Norman Foster. Dieser erdachte einen Turm mit hundertfünfzig Stockwerken und einer Höhe von achthundert Metern. Jedes Stockwerk sollte wiederum aus fünf Blöcken mit je dreißig Etagen bestehen. Das Gebäude taufte er auf den Namen Millenniumturm. Der Turm böte Platz für zweitausend Bewohner in verschiedenen Wohnungen und sage und schreibe siebzehntausend Angestellte in Büros im Inneren des Gebäudes. Außerdem könnten Restaurants, Einkaufszentren, Sport- und Erholungsanlagen und auch Kinos untergebracht werden. Die Bewohner müssten also nicht einmal den Turm verlassen, um einkaufen zu gehen oder sich die neuesten Filme auf einer großen Leinwand anzusehen. Die Bezeichnung senkrechte Stadt war wohl treffender. Hierbei handelte es sich um ein wahres Mammutprojekt. Ständig stand einer der Männer in einem weißen Kittel in seinem Büro und präsentierte Peter ein neues Patent. Hier konnte jede Menge Geld herausgeholt werden, dass wusste er.
Wenn man all das bedachte, dann konnte man sich ja denken, wieso Richard Gronwich nur die teuersten Anzüge trug, die auf dem Markt erhältlich waren. Unfassbar, dass Peter mit der Tochter dieses Mannes zusammen war. Wahrscheinlich hatte er mehr Geld auf dem Konto als Gott. Wer weiß?
„Jungs!“, rief Jenny aus der Küche. „Ich hoffe mal, dass ihr Hunger habt!“
Rob grinste Peter an und nahm noch einen Schluck von seinem Bier. „In welch einer Welt du doch lebst“, stellte Rob mit erhobenen Augenbrauen fest und drückte seine Zigarre im Aschenbecher aus.
„Ach, halt die Klappe“, gab Peter zurück. „Komm, Essen fassen.“
2
Am Abend lag Peter mit Jenny im Bett. Sie hatte ihren mit rötlich braunem Haar umspielten Kopf auf seinen rechten Oberarm gelegt, während er ihr mit den Fingern der linken Hand durch das Haar kämmte. Immer wieder musste er daran denken, wie schön sie doch war.
Er wusste, dass er ziemlich heftige Gefühle für sie empfand. Nur hatte noch keiner von ihnen die magischen drei Worte ausgesprochen. Irgendwie hatten sie noch nie den richtigen Zeitpunkt abpassen können, um sich ihre Liebe zueinander zu gestehen. Andererseits war es auch nicht nötig, es in Worte zu fassen, schließlich wussten sie beide, was der andere empfand.
„Du weißt, dass du morgen einen Termin hast?“, fragte sie ihn. „Hast du deinen Wecker gestellt?“
Er dachte kurz darüber nach. Morgen war Montag. Ihm fiel beim besten Willen nicht ein, welchen Termin er haben sollte. Er würde morgen um neun Uhr zur Arbeit gehen – wie immer. Um siebzehn Uhr Feierabend und dann nach Hause. Aber irgendwelche außerberuflichen Termine? Nein, da war nichts.
„Welchen Termin denn?“, hakte er nach.
„Die Vorsorgeuntersuchung“, antwortete sie und versuchte ihn über ihre Stirn hinweg anzusehen, indem sie die Augenbrauen hob und sich halbwegs den Kopf nach hinten verrenkte. „Ich war doch letzte Woche schon, du bist diese Woche dran.“
Peter runzelte die Stirn. „Wirklich? Ich hab das gar nicht mitbekommen.“
„Schatz, wir haben doch darüber gesprochen. Vorletzte Woche erst. Du hast ein Gedächtnis wie ein Sieb.“ Sie gab ein kurzes schmunzeln von sich und kuschelte sich dann wieder in eine bequemere Position mit dem Hinterkopf in seiner Ellenbeuge. „Also, morgen Abend um sechs bei Dr. Gold. Vergiss es nicht wieder.“ Sie stupste ihn mit einem Finger liebevoll in die Seite, woraufhin er zusammenfuhr.
„Oh, warte ab“, grunzte er grinsend und fiel wie ein Bär über sie her, um sie an allen möglichen Stellen zu kitzeln. Vor lauter Kichern bekam sie kaum noch Luft und gab ein halb vom Kichern ersticktes „Aufhören, aufhören, aufhören“ von sich.
3
Peter hasste Ärzte. Er konnte sie auf den Tod nicht ausstehen. Alles was sie seiner Meinung nach konnten oder wollten, war schneiden, spritzen, tasten und reden. Heilung? Fehlanzeige. Schlächter waren es in seinen Augen. Sie wollten schneiden. Weniger invasive Eingriffe kamen schließlich nie in Frage. Vielleicht hatte er auch einfach Angst vor ihnen und wollte ihnen diese Rolle zuschreiben. Er war sich nicht sicher.
Jenny hatte ihn jedoch gedrängt zur Krebsvorsorge zu gehen, schließlich kann man nicht vorsichtig genug sein, wobei er mit seinen sechsundzwanzig Jahren bezweifelte, dass sich in ihm irgendwo ein bösartiges Geschwür herumtummelte. Er hatte schließlich nicht den geringsten Anflug von irgendwelchen Schmerzen. Aber was sagten die Ärzte immer wieder? Wenn man erst zum Arzt geht, wenn es weh tut, dann ist es meistens schon zu spät. Vorbeugen ist besser als heilen.
Höchstwahrscheinlich hatte er nur Angst davor, dass wirklich etwas bei ihm gefunden wurde, auch wenn alles dagegen sprach. Man geht mit einem kleinen Wehwehchen zum Onkel Doktor und kommt mit einer alle Zukunftspläne zerstörenden Diagnose wieder raus. War es nicht in jedem Film so, wenn die Hauptperson zum Arzt ging?
Peter hatte schweißnasse Hände, die er immer wieder an seiner Jeans abwischte. Er konnte Dr. Gold unmöglich die Hand schütteln, wenn er dieses Problem nicht in den Griff bekam.
Um sich die Zeit zu vertreiben, griff er nach einem der Magazine, die auf einem kleinen Beistelltisch zu seiner Rechten lagen. Standard-Heftchen über irgendwelche medizinischen Probleme, um den Patienten noch mehr unnötige, kostspielige Untersuchungen einzureden. Weißer Hautkrebs, der nur durch professionelle Dermatologen erkannt werden kann. Ja, klar, ging es ihm durch den Kopf. Wieder so eine Krankheit, die den Menschen Angst einjagen soll und die Krankenkassenbeiträge in die Höhe treiben wird.
Im Wartezimmer der Praxis saßen drei weitere Menschen. Ein älterer, grauhaariger Mann, der immer wieder hüstelte, saß ihm gegenüber. Tiefe, dunkle Tränensäcke schmückten seine Augen. Er trug ein gelbes Hemd und hielt eine Zeitschrift in den Händen, während er seinen Blick immer wieder durch den Warteraum schweifen ließ, was Peter an einen Soldaten erinnerte, der ständig auf der Hut war, falls er angegriffen wurde. Ein ungutes Gefühl schien ihm in der Brust zu sitzen, als er diesen Mann betrachtete.
Zwei Plätze weiter rechts saß eine junge Frau, die ununterbrochen ihr Handy an ihr rechtes Ohr hielt und anscheinend nur das Wort „Ja“ kannte, das sie immer wieder wiederholte. Sie trug einen schwarzen Blazer und eine geschäftsmäßige, schwarze Hose. Business-Bekleidung. Eine silberne Kette mit einem Diamantenanhänger lag um ihren Hals, der das gesamte Farbspektrum des Lichts reflektierte.
In der rechten, hinteren Ecke saß ein etwa sechzehnjähriger Junge, der seine In-ear-Kopfhörer offensichtlich voll aufgedreht hatte und mit dem Kopf zum Rhythmus der Musik vor und zurück wippte. Leise konnte Peter die hohen Töne des Liedes vernehmen. Irgendein Hip-Hop-Kram, was sonst?
Zu Peters Linken öffnete sich die Türe und ein hochgewachsener Mann in weißem Kittel erschien im Türrahmen. Um den Hals hatte er sein Stethoskop gelegt und blickte freundlich in den Warteraum. Er ließ einmal seine Augen umherwandern, wahrscheinlich, um die Patienten zu zählen, schien mit der Anzahl zufrieden zu sein und warf dann einen Blick auf die rechteckige, dünne Krankenakte, die er in der linken Hand hielt. Sein dunkelbraunes Haar fiel ihm in die Stirn, woraufhin er sich schnell mit der Rechten über den Kopf fuhr und seine Frisur unordentlich an allen Seiten ab stand.
„Guten Abend“, warf er in den Raum. Die Business-Frau war weiterhin mit ihrem Telefon beschäftigt, der grauhaarige Mann hob kurz seinen Blick vom Magazin, der Junge mit den Kopfhörern war weiter mit seiner Musik beschäftigt. „Peter Voss?“
„Hier“, outete er sich und stand auf. „Guten Abend.“
„Guten Abend“, wiederholte der Doktor nochmal und streckte ihm die Hand hin. Schnell wischte Peter nochmal mit der Handfläche über seine Jeans und drückte dann zu. „Ich bin Dr. Gold. Komm Sie rein.“
4
„Ich bin der Meinung, dass es nicht so angenehm ist, sich vor einem Fremden seiner Bekleidung zu entledigen“, meinte Dr. Gold. „Deswegen dürfen Sie gerne Marcus sagen. Der Doktortitel bleibt trotzdem bestehen, auch wenn man ihn nicht ausspricht.“
Peter musste lächeln. „Dann nennen Sie mich doch bitte Peter.“
„Sehr gut“, gab Dr. Gold zurück. „Setzen Sie sich doch.“ Er deutete mit der Hand auf einen Stuhl neben dem Schreibtisch. Der Raum war erfüllt von dem Geruch von Desinfektionsmitteln, der Peter Kopfschmerzen bereitete. Noch so ein Grund, weshalb er Ärzte nicht leiden konnte. Wie konnte man nur den ganzen Tag in so einem Gestank arbeiten? Dr. Gold warf nochmal einen kurzen Blick auf Peters Krankenakte, die noch sehr dünn war, da er zum ersten Mal zur Untersuchung hierher kam. „Sie sind also wegen einer Vorsorgeuntersuchung hier?“
„Soweit ich weiß, schon“, antwortete Peter. „Um ehrlich zu sein, hat meine Frau mich dazu gedrängt, eine machen zu lassen. Ich wusste gestern Abend nicht mal mehr, dass ich einen Termin hatte.“
Marcus Gold lachte kurz. „Gar kein Problem. Keiner geht gerne zum Arzt. Sowas verdrängt man nur allzu oft – leider. Aber keine Sorge, es geht relativ schnell, dann haben Sie es auch schon wieder hinter sich, Peter.“
In der Ecke hinter Peter stand eine Untersuchungsliege, daneben einige medizinische Gerätschaften, die er nicht kannte. Neben dem Computer auf dem Schreibtisch verzierte ein Mikroskop die Arbeitsfläche. Ein großes Panoramafenster mit heruntergelassenen Jalousien ließ dünne Streifen von Sonnenlicht in das Behandlungszimmer fallen.
„Haben Sie bisher irgendwelche Beschwerden gehabt?“, fragte Dr. Gold.
„Nichts, dass sich bemerkbar gemacht hat.“
Dr. Gold nickte und tippte etwas in seinen Computer ein. „Kommen Sie beruflich mit irgendwelchen Schadstoffen in Berührung? Gase, Staub, Sporen oder etwas in der Art?“
„Nein. Nur Papier und die Tasten meines PC's.“
Wieder ein Nicken und die Finger des Doktors tippten in die Tastatur. „Wie sieht es mit familiären Dispositionen aus? Irgendwelche Erkrankungen der Eltern?“
„Nein, auch nichts“, antwortete Peter.
Dr. Gold nickte wieder und war augenscheinlich in Gedanken versunken. „Wie sieht es mit Ihren Nahrungsgewohnheiten aus? Fast Food, vegan, vegetarisch?“
Peter musste lachen. „Fleischfresser, würde ich mal behaupten. Hin und wieder rutscht auch ein Salatblatt dazwischen, dann aber mehr aus Versehen, als wirklich geplant.“
Marcus Gold grinste und wandte sich dann wieder seinem Computer zu, um erneut in die Tasten zu hacken. „Rauchen Sie?“
„Ab und an.“ Peter dachte kurz nach. „Je nach dem, ob ich unter Stress stehe oder wenn ich was trinke.“
„Gelegenheitsraucher also“, stellte Dr. Gold fest und tippte anscheinend das in seinen PC. „Trinken Sie viel?“
„Nein, nein, nur in Gesellschaft.“ Peter hob abwehrend die Hände, als wäre ihm etwas unterstellt worden.
„Sehr gut.“ Gold klatschte in die Hände. „Dann wollen wir Sie mal untersuchen. Machen Sie sich dann bitte untenrum frei.“
Für einen Moment erstarrte Peter. Er hasste das. Und dann wunderten sich die Ärzte, dass man erst kam, wenn der Markt schon vorbei war und die Schmerzen von einem Besitz ergriffen hatten.
Aber was blieb ihm anderes übrig? Sich wie ein kleines Kind dagegen zu wehren? Die Arme verschränken und mit vorgeschobener Unterlippe den Kopf schütteln? Wohl eher nicht.
Peter stand auf und fummelte nervös an seinem Gürtel herum. Er zog den Dorn aus dem dritten Loch des eng sitzenden Gürtels und zog den Reißverschluss seiner Jeans herunter, bevor er den Hosenknopf öffnete und die Jeans bis zu den Knöcheln hinunterschob.
Dr. Gold machte sich gar nicht erst die Mühe, sich zu erheben. Er blieb auf seinem Stuhl sitzen und beugte sich zu Peters Genitalien vor. Er konnte spüren wie sich die warmen Finger des Doktors um seinen Hodensack schlossen und ihn abtasteten. Hin und wieder gab der Arzt ein kurzes, zufrieden klingendes Murren von sich und wandte sich dann einer anderen Stelle zu.
„So weit, so gut“, sagte Marcus Gold und sah lächelnd zu ihm auf. „Könnten Sie einmal für mich husten?“
Oh Gott, dachte Peter, aber hustete zweimal rasch hintereinander.
„Ausgezeichnet! Sie dürfen Ihre Hose wieder hochziehen.“
„Danke“, sagte Peter leicht errötet.
„Ich konnte keine Knoten oder Verhärtungen im Gewebe oder angeschwollene Lymphknoten entdecken, scheint so weit in Ordnung zu sein. Heben Sie dann bitte die Arme auf Schulterhöhe.“
Peter streckte beide Arme aus, als wolle er im Schwimmbad vom Zehn-Meter-Turm springen. Dr. Gold tastete seine Achselhöhlen ab und nickte wieder zufrieden. „In Ordnung.“
„War's das?“, fragte Peter mit erleichterter Stimme.
„Kommt darauf an, ob Sie noch eine Prostatauntersuchung über sich ergehen lassen möchten“, kam die Antwort, als hätte Gold schon darauf gewartet, diesen Satz aussprechen zu dürfen.
„Das muss wirklich nicht sein“, sagte Peter lächelnd. „Ausgang bleibt Ausgang.“
„Dann brauchen wir nur noch eine Speichel-, eine Blut- und eine Urinprobe“, stellte Gold fest und brachte einen kleinen Plastikbecher, eine Ampulle mit dem passenden Aufsatz, um Peters Blut anzuzapfen, und ein Wattestäbchen in einem Glasröhrchen unter dem Tisch zum Vorschein. Er griff nach dem Wattestäbchen und zog es aus dem Glasröhrchen. „Öffnen Sie bitte den Mund, Peter.“
Er tat wie ihm geheißen und spürte wie das Wattestäbchen die Innenseite seiner rechten Wange hoch und runter geschoben wurde. Anschließend verpackte Dr. Gold es wieder und legte das Röhrchen beiseite. Er legte ihm ein dünnes Band um den Oberarm, direkt über der Ellenbeuge, und zog es fest.
„Ballen Sie die Hand ein paar Mal zur Faust und öffnen Sie sie dann wieder.“
Auch dieser Anweisung folgte Peter. Seine Adern traten hervor und Dr. Gold hatte sich anscheinend bereits eine ausgesucht, die er nun mit dem Nadelaufsatz perforierte und dann die Ampulle drauf steckte. Blut strömte hinein. Nachdem sie gefüllt war, klebte er ein kleines, beschriftetes Etikett darauf und legte sie in einen Umschlag. Im Anschluss bekam er noch schnell ein Pflaster auf die Einstichstelle, bevor ihm der kleine Plastikbecher von Gold in die Hand gedrückt wurde.
„Rechts im Gang finden Sie eine Toilette“, sagte Gold und grinste ihn an. Peter hätte wetten können, dass ein kleiner Funke Schadenfreude in diesem Blick lag. Sicher sein konnte er sich natürlich nicht. Also nahm er den Becher und verschwand damit auf der Toilette. Zum Glück musste er sowieso dringend.
„Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag, Marcus“, sagte Peter, während er ihm den mit Urin gefüllten Becher in die Hand drückte und ihm die andere schüttelte. Er war heilfroh, endlich hier raus zu kommen.
„Wünsche ich Ihnen auch, Peter, vielleicht sieht man sich demnächst ja mal wieder“, sagte Dr. Gold grinsend und wandte sich seinem Computer zu, sodass sich Peter dezent durch die Türe schieben konnte, die er behutsam hinter sich schloss.
Hoffentlich nicht, dachte er noch.
Im Wartezimmer saßen nur noch zwei Personen. Die Business-Frau, die immer noch ihr Handy an ihr Ohr drückte, und der Teenager-Junge, der immer noch mit dem Kopf zur Musik vor und zurück wippte.
Der grauhaarige Mann mit den dunklen Tränensäcken unter den Augen war verschwunden. Peter hatte ein ungutes Gefühl, beachtete es aber nicht weiter. Vielleicht hatte er es auch einfach leid gehabt zu warten.
5
Zu Hause angekommen, ließ sich Peter erst einmal auf die Couch fallen. Er legte den Kopf in den Nacken und sah zur Decke. Was für ein Tag! Und es war erst Montag. Vier lange Tage lagen noch vor ihm. Das Ende der Woche schien ihm noch so unendlich weit entfernt.
Jenny war noch nicht daheim, was eigenartig war, denn sie hatten beide um siebzehn Uhr Feierabend gehabt und inzwischen war halb acht. Er machte sich weiter keine Gedanken und schaltete den Fernseher an.
Talkshows, Talkshows, Talkshows. Er zappte durch die Kanäle, hielt kurz inne, weil er dachte, er hätte eine Komödie erwischt, doch siehe da, eine Talkshow. Der normale TV-Konsument wurde ja praktisch dazu gezwungen, sich Pay TV anzuschaffen, wenn er ein einigermaßen niveauvolles Fernsehprogramm haben und nicht an akuter Verblödung sterben wollte.
Gerade als er den Fernseher ausschaltete, kam Jenny durch die Haustüre.
Kapitel 5
Ein „Ich liebe dich“ zum Valentinstag
Ein „Ich liebe dich“ zum Valentinstag
1
Das laute Knacken aus dem Lautsprecher dröhnte wie ein Gewehrschuss durch die Stille der Waschküche und riss Peter aus dem Schlaf. Mit klopfendem Herzen richtete er sich auf und sah sich um.
Die Hoffnung, dass alles nur ein schlechter Alptraum war, wurde mit einem Schlag zu Nichte gemacht. Immer noch saß er in diesem Drecksloch fest. Immer noch tröpfelte stetig das Rostwasser aus den Abflussrohren auf die weißen Fliesen. Das statische Rauschen überdeckte größtenteils die konstante, flache Atmung des im Dunkeln verborgenen Lebewesens.
Er rieb sich den Schlaf aus den Augen und fuhr sich mit der Zunge über seine trockenen Lippen. Sie fühlten sich an wie raues Schmirgelpapier. Der Geschmack in seinem Mund erinnerte ihn an den Geruch von ungewaschenen Schweißfüßen. Peter musste unbedingt etwas trinken. Inzwischen meldete sich auch sein Magen wieder grummelnd zu Wort. Sein Körper gierte nach einer Dosis Nikotin.
Er beschloss, sich zuerst um das Verlangen zu kümmern, das er befriedigen konnte. Auch wenn er bei dem Gedanken daran angewidert das Gesicht verziehen musste, als hätte er in eine saure Zitrone gebissen.
Peter stand auf und schnappte sich das Sweatshirt, das er als Kopfkissen benutzt hatte. Wie lange hatte er geschlafen? Er konnte nicht einmal ahnen, wie lange er inzwischen hier gefangen war. Wahrscheinlich war es auch nicht wichtig. Zeit ist relativ. Hatte Einstein nicht gesagt, dass Zeit nur das war, was man an der Uhr ablas? Er hatte keine Uhr, also spielte Zeit wohl auch keine Rolle. In einer einzigen fließenden Bewegung zog er sich das Sweatshirt über den Kopf und bewegte sich dann auf die Abflussrohre zu, was wieder von diesem summenden Geräusch begleitet wurde.
Mittlerweile machte er sich keine Gedanken mehr darüber, was es sein könnte. Es war ihm gleichgültig. Er wollte nur hier raus. Aber zuerst musste er seinen Durst stillen.
Sich seinen rechten Unterarm kratzend ging er vor den Rohren – an einem hing immer noch schlaff das Seil herab – in die Knie und befingerte die feuchte Naht, aus der fortwährend braunes Wasser tropfte.
Das oberschenkeldicke, oxidierte Rohr führte aus dem Boden in die Wand, wobei dreißig Zentimeter Platz war zwischen Naht und Boden. Er hielt seine zu einer Schale geformten Hände darunter und fühlte das kalte Wasser auf seine Handflächen tropfen.
Tropf, tropf, tropf.
Das hatte keinen Sinn. Bis seine Hände gefüllt wären, müsste er eine gefühlte halbe Stunde so dasitzen.
Er dreht sich um und legte sich auf den Rücken, um sich dann mit den Füßen nach oben zu schieben, damit sein Gesicht sich unter der Naht befand. Seinen Hinterkopf positionierte er direkt in der kleinen, rostbraunen Pfütze unter dem Rohr, sodass der Rinnsal Tropfen für Tropfen in seinem Mund landete. Es war ungefähr so, als wolle man seinen unsagbaren Durst mit einer Pipette stillen. Das kalte Wasser fühlte sich wunderbar auf seiner ledrigen Zunge an. Das Elixier des Lebens.
Peter schloss die Augen und genoss den Augenblick. Kleine Spritzer landeten auf der Innenseite seiner Wange, als die Tropfen auf seiner Zunge aufschlugen. Köstlich.
Doch es genügte einfach nicht. Zu wenig gelang in seinen Mund. Er schmatzte kurz, wobei seine Zähne knirschten, durch das schmutzig sandige Wasser.
Er dreht sich um und presste seine Lippen in die Pfütze, auf der er gerade gelegen war. Verzweifelt saugte er es in sich auf. Seine Mundhöhle füllte sich mit dem metallischen Geschmack, als hätte er eine Eisenstange abgeleckt. Er saugte weiter, als wollte er jemandem einen Knutschfleck verpassen.
2
Sein Kinn und seine Lippen glänzten vor Feuchtigkeit im kalten Neonlicht. Den Rücken an die Wand gelehnt, die Beine angewinkelt und sich unaufhörlich den rechten Unterarm kratzend saß er in Gedanken versunken da.
Aus der Dunkelheit drang das flüsternde Atmen, unterbrochen von einem kurzen Knurren, das sich anhörte wie ein drohender Hund. Ein menschliches, explosionsartiges Husten zerriss die Stille. Peter blickte auf. Stille. Sein Gegenüber verfiel wieder in seine gleichmäßige, flache Atmung.
Er betrachtete seinen rechten Unterarm. Die Haut war inzwischen blass wie Kopierpapier und wirkte wie kaltes Wachs. Rote Schlieren zogen sich senkrecht darüber. Der kleine Hügel, den er zuerst für einen Moskitostich gehalten hatte, war inzwischen aufgeplatzt und blutete leicht. Gelber, schleimiger Eiter trat aus der kleinen Öffnung aus. Er drückte seitlich ein wenig in die Haut und weiterer Eiter presste sich durch die kleine Öffnung an die Oberfläche. Es erinnerte ihn an einen Pickel. Einen Pickel von der Größe eines halbierten Golfballs.
Angewidert verzog er das Gesicht und beschloss, sich von der Stelle fern zu halten und nicht weiter zu kratzen oder zu drücken. Vielleicht hatte sich die Stelle durch die schmutzige Umgebung in der er sich befand infiziert. Ihm blieb auch nichts erspart.
3
„Wissen Sie, wieso Sie hier sind?“; unterbrach die kalte, künstliche Stimme aus dem Lautsprecher die Stille.
„Nein“, antwortete Peter, ohne den Kopf zu heben, fast schon mit gelangweilter, eher resignierter Stimme.
„Wissen Sie, wie Sie heißen?“
„Peter Voss, du Arschloch“, sagte er immer noch gleichgültig.
„Wissen Sie, wann Sie geboren wurden?“, wollte die Navigationsgeräte-Stimme wissen.
Peter runzelte die Stirn. Er dachte kurz darüber nach. „Natürlich weiß ich, wann ich geboren wurde:“
„Wann wurden Sie geboren?“
Er griff in seine rechte Gesäßtasche und zog seinen Geldbeutel heraus, den er öffnete und seinen Ausweis zwischen die Finger nahm.
„Januar“, las er vor. „Neunzehnhundertsechsundachtzig.“
„Sehr gut“, gab die kalte Stimme als Antwort. Er konnte sich nicht helfen, es hörte sich auf gewisse Weise befriedigt an, auch wenn keinerlei Emotion in der Tonlage zu erkennen war. „Wissen Sie, wie Ihre Verlobte heißt?“
Wieder dachte er kurz nach. „Jenny Gronwich“, sagte er schließlich. Gleich danach fragte er sich, ob es vielleicht ein Fehler war, ihren Namen auszusprechen. Schließlich hatte sie einen reichen Vater. Was, wenn diese Entführer eigentlich gar nicht ihn wollten, sondern sie? „Wie wär's, wenn du mir ein paar Fragen beantwortest? Bin ich ein verdammtes Versuchskaninchen für dich? Wer bist du überhaupt? Verdammt noch mal, ich will gehen!“
„Diese Option ist nicht verfügbar“, blieb die Antwort, die er umgehend wieder vorgehalten bekam. „Haben Sie irgendwelche Schmerzen?“
Peter wusste nicht, wohin dieses ganze Gespräch, wenn man es überhaupt als solches bezeichnen konnte, da es wohl eher einem Verhör glich, führen sollte. Er sah hinauf zu dem Lautsprecher und überlegte, ob er überhaupt noch auf irgendwelche Fragen antworten sollte. Aber er musste mit jemandem sprechen, selbst, wenn es nur eine Maschine war, mit der er sich unterhielt. Irgendjemand musste höchstwahrscheinlich diese Fragen irgendwo in einen Computer eintippen. Es konnte kaum sein, dass solch komplexe Unterhaltungen von einer Maschine alleine geführt werden konnten. Oder war die Technik etwa schon so weit? Er wusste es nicht. Er kannte nichts vergleichbares, außer vielleicht die Sprachsteuerung in seinem Handy.
„Mein Arm verkümmert hier unten“, rief er und hielt seinen rechten Unterarm in Richtung Lautsprecher hoch, obwohl er nicht wusste, ob er beobachtet wurde. „Ich brauche Antibiotika oder sowas, verdammt.“
„Sehr gut“, antwortete die Stimme. „Diese Option ist nicht verfügbar.“
Was war gerade passiert? Er hatte den Eindruck, als hätten sich die beiden Sätze aus dem Lautsprecher beinahe überschnitten. Er hatte seine Antwort mit einer Bitte kombiniert. Damit schien das System wohl nicht zurechtzukommen. Ihm kam eine Idee.
„Spreche ich mit einem Menschen oder mit einem Computerprogramm?“, wollte er wissen.
Kurze Stille.
„Sie sprechen mit einem Menschen“, war die Antwort.
„Heißt das, ich wurde entführt?“ Wut ergriff von ihm Besitz. Er wollte etwas zusammenschlagen. Er wollte den oder die Verantwortlichen zusammenschlagen. Nur hatte er ja schon am eigenen Leib erfahren müssen, was passierte, wenn er die Schwelle zur Dunkelheit überschritt. An nichts konnte er seinen Zorn auslassen.
„Sie sind freiwillig hier“, sagte die Roboterstimme.
Die Wut verblasste wieder. „Dann will ich jetzt gehen!“
„Diese Option ist nicht verfügbar.“
4
Freiwillig? Wieso sollte er sich freiwillig in so einem Drecksloch einsperren lassen? Wenn er wirklich freiwillig hier wäre, wieso kann er sich dann nicht mehr daran erinnern, wie er hierher gekommen war? Nein, er war nicht freiwillig hier. Da war er sich ziemlich sicher. Ziemlich sicher.
Ein Teil seines Verstandes versuchte trotzdem mit dieser Information zu arbeiten. Was hätte ihn dazu veranlassen können hierher zu kommen? Sich in einen Raum einsperren zu lassen mit einem furchteinflößenden Etwas? Wenn er freiwillig hier war, dann nur unter Vorspiegelung falscher Tatsachen, da war er sich sicher. Es war ihm bestimmt nicht gesagt worden, dass er ohne Nahrung und Trinkwasser seiner Freiheit beraubt werden würde. Es war ihm bestimmt nicht gesagt worden, dass er nicht gehen konnte, wenn ihm die Situation über den Kopf wachsen sollte.
Sein Gehirn schien vor lauter Gedanken fast zu platzen. Geistesabwesend kratzte er sich wieder ununterbrochen den rechten Unterarm.
Es war ihm zu hundert Prozent auch nicht gesagt worden, dass das ganze nicht abgebrochen wurde, sobald er ärztliche Hilfe benötigen würde, was momentan ja wohl der Fall war, wenn er sich nur seinen eiternden, rechten Arm ansah. Er hatte das ungute Gefühl, dass sich die Infektion weiter ausbreiten wird, wenn sich nicht darum gekümmert wurde. Er brauchte Hilfe. Er musste hier raus.
Hatte man ihm vielleicht Geld angeboten, wenn er an irgendeiner Studie oder einem Experiment teilnehmen würde? War er wirklich so willensschwach, dass er für Geld so etwas tun würde? So etwas. Er fand nicht einmal die richtige Bezeichnung für seine Situation. Alles schien so verschwommen.
Gedankengänge überschlugen sich. Peter kam sich vor, als hätte jemand seinen Entwurf zu einem tausendseitigen Roman vom Tisch gefegt und nun musste er die Seiten wieder in die richtige Reihenfolge bringen. Es war zum verzweifeln. Die Seiten glitten ihm immer wieder aus den Fingern und er musste von vorne anfangen.
Eine andere Frage beschäftigte ihn auch. Als die Stimme ihn nach seinem Geburtsdatum gefragt hatte, wollte er antworten. Stattdessen machte er eine vage Aussage, dass er es natürlich kennen würde. Aber dennoch musste er seinen Ausweis herausholen, um sich daran zu erinnern. Wieso erinnerte er sich nicht an sein Geburtsdatum? Lag es an der Dehydrierung? Lag es daran, dass er einfach zu wenig gegessen hatte und sein Gehirn nicht mehr richtig arbeitete?
Seine Finger begannen zu zittern. Um sich zu beruhigen, klemmte er sich die Hände unter seine verschwitzten Achseln und stand mit verschränkten Armen da.
Wenn er sich nicht mehr an sein Geburtsdatum erinnern konnte, war es dann so abwegig, dass er sich nicht mehr daran erinnern konnte, freiwillig hierher gekommen zu sein?
5
Vielleicht sollte ich mich einfach hinlegen und sterben, dachte Peter. Vielleicht ist der einzige Ausweg der Tod. Wie schlimm kann es schon werden? Verdursten... Ist Verdursten eigentlich schmerzhaft?
Die Temperatur schien weiter anzusteigen. Nur ganz leicht, doch er konnte es deutlich spüren. Schweißperlen standen ihm auf der Stirn.
Er blickte nach rechts und sah sich die gelbe Pfütze seines Urins in der Ecke an. Die würde er sich für den Notfall aufsparen.
Ein dünner Rinnsal seines Urins war in die Mitte des Raumes geflossen, während er geschlafen hatte. Wahrscheinlich war dort irgendwo ein Abfluss in den Boden eingelassen, schließlich befand er sich in einer alten Waschküche. Das bedeutete aber auch, dass der Boden zur Mitte des Raumes hin abfiel. Peter wusste nicht, ob ihm diese Information auf irgendeine Weise behilflich sein könnte, aber es konnte nicht schaden, so viel wie möglich über seine Zelle zu wissen.
Zelle. So bezeichnete er es inzwischen in seinen Gedanken. Egal, wo er sich befand. Ohne die Möglichkeit zu gehen, wäre jeder Ort eine Zelle gewesen.
Heute ist definitiv nicht dein Tag, Kumpel. Die Kavallerie taucht nicht in letzter Sekunde auf und holt dich aus deinem Schlamassel, sorry. Du hast eine ganze Hand voll mieser Karten bekommen, vielleicht solltest du das Spielen lieber den Profis überlassen. Wobei man dir natürlich zu Gute halten muss, dass du nicht freiwillig spielst. Aber hey, Hauptsache ist doch, dass du immer noch am Leben bist. Alles was sie dir noch nehmen können, ist dein Leben. Also Kopf hoch, Soldat, keiner kann deine Familie als Geiseln nehmen oder deinen Hund als Druckmittel gegen dich verwenden – selbst wenn du irgendetwas hättest, das man aus dir herauspressen könnte.
Peter musste lachen. Ohne Grund, einfach so. Vielleicht über die Absurdität oder die absolute Ausweglosigkeit seiner Situation. Er wusste es nicht. Es tat ihm einfach gut, lauthals zu lachen.
Aggressiv kratzte er seinen rechten Unterarm, während er auf seiner Seite der Zelle auf und ab lief, begleitet von dem gleichmäßigen Summen auf der anderen Seite.
„Tötet mich doch einfach“, rief er. „Tötet mich, dann habt ihr's hinter euch, ihr Penner!“
„Diese Option ist nicht verfügbar“, kam prompt die Antwort.
Wieder musste er lachen wie ein Wahnsinniger. Mit beiden Händen fuhr er sich durch die Haare, sodass sie wild von seinem Kopf ab standen.
„Ihr sagt mir nicht, wieso ich hier bin. Ihr sagt mir nicht, was ihr von mir wollt. Ihr sagt mir überhaupt nichts. Was kann ich für euch tun? Nichts? Na gut, dann mache ich eben nichts. Und du, du gehirnamputiertes Etwas!“ Er drehte sich in Richtung Dunkelheit. „Sag doch mal was. Sprich mit mir! Verdammt noch mal! Was ist denn los mit dir? Bist du stumm? Kannst du nicht reden? Arschloch!“
Er hatte sich ziemlich weit vorgebeugt, sodass er gerade noch im weißen Licht blieb. Er drehte sich um und ging auf die beiden Abwasserrohre zu, bückte sich und löste den Knoten, mit dem das Seil befestigt war. Um die Festigkeit zu überprüfen, zog er es kurz stramm und ließ eine Seite wieder zu Boden fallen.
„Zeig mal, was du drauf hast, du Penner“, sagte er leise und warf eine Seite des Seils hinüber ins Dunkel, während er das andere Ende um sein rechtes Handgelenk gewickelt hatte und sich mit der Hand daran festklammerte.
Ein heftiger Ruck zog ihn einen Schritt nach vorne. Das Seil spannte sich. Es wirkte fast so, als würde er mit jemandem ein Tauziehen veranstalten. Peter spürte, wie die Fasern ihm in die Haut schnitten, während sein Gegenüber immer fester zog. Seine Muskeln spannten sich. Die Blutzufuhr zu seinen Fingern wurde abgeschnitten, wodurch sie sich ganz taub anfühlten. Auf Höhe zwischen Bauch und Brust hielt er es so fest er konnte in Händen.
„Verdammt“, presste er zwischen den Lippen hervor und zog mit angehaltener Luft noch etwas stärker.
Es hatte keinen Sinn. Er musste zwei Schritte vorwärts stolpern, als ein weiterer Ruck durch das vollkommen straffe Seil fuhr. Zitternd schwebte es wie gespannter Draht in der Luft.
Peters Kräfte ließen nach, er musste aufgeben. Keine Chance. Sein Gegenüber war entweder ein Bodybuilder oder eine Maschine, anders konnte er es sich nicht erklären. Gut, er war ein schmächtiger Bursche, aber bisher hatten sich viele von seiner Erscheinung täuschen lassen. Keineswegs war er ein Schwächling.
Schnell ließ er seine rechte Hand in einer rührenden Bewegung rotieren, sodass sich das Seil abwickeln konnte. Blut erreichte wieder seine Finger, die sich anfühlten, als würden tausende kleine Ameisen über sie hinwegkrabbeln.
Er nahm gerade noch wahr, wie sein Ende des Seils in der Dunkelheit verschwand und das Lebewesen ein zufriedenes Knurren von sich gab, gefolgt von einem schleimigen Husten. Fassungslos stand er da und versuchte wieder irgendetwas in der Schwärze zu erkennen. Nichts.
6
Wieder machte sich das Gefühl von Hoffnungslosigkeit in ihm breit. Man hatte ihn zum Sterben hierher gebracht. Es kann keinen anderen Grund geben.
Mit dem Rücken zur Wand ließ er das Passfoto aus seinem Geldbeutel, dass Jennys für alle Ewigkeit festgehaltenes Lachen zeigte, zwischen seinen Fingern hin und her wandern. Er versuchte sich daran zu erinnern, was er mit ihr erlebt hatte. Versuchte die schönen Momentaufnahmen aus seinem Gedächtnis hervorzuholen, doch er bekam sie nicht zu greifen. Als wären die Erinnerungen blockiert oder zu weit entfernt.
Er wusste, dass sie sich in einem Restaurant das erste Mal verabredet hatten, er wusste, dass sie sich sofort locker miteinander unterhalten konnten, und doch konnte sein Gehirn nicht das passende Bild dazu wiedergeben.
Verlor er den Verstand? Es schien so. Ein einziger Strudel aus unzusammenhängenden Satzfetzen und abgerissenen Bildstreifen wirbelte durch seinen Kopf. Er fühlte sich wie ein Cocktail-Shaker.
Hinzu kam der Hunger. Sein knurrender Magen schickte ihm eine eindeutige, unmissverständliche Botschaft, die er leider nicht angemessen erwidern konnte.
Das mittlerweile unterschwellige statische Rauschen des Lautsprechers nahm er schon fast nicht mehr wahr. Zumindest nicht auf bewusster Ebene. Er hatte beschlossen, dass es sinnlos war, sich mit der Stimme zu unterhalten. Vielleicht bildete er sie sich auch nur ein. Vielleicht waren manche Optionen oder Informationen nicht verfügbar, weil sein eigener Kopf diese Stimme produzierte, der ihm natürlich nicht sagen konnte, was hier gespielt wurde. Er wusste es nicht. Konnte er sich denn überhaupt in irgendeiner Sache sicher sein? Wahrscheinlich nicht.
Immer wieder betrachtete er Jennys sommersprossiges Gesicht. Ihre leuchtenden, braunen Augen und ihr welliges, rötliches Haar.
Hatte er sie verdient? Womöglich nicht. Trotzdem war sie seine Frau gewesen und das Leben hatte sie ihm wieder weggenommen. Sadismus in seiner reinsten Form. Es war, als würde ihm in diesem Moment jemand ein saftiges Steak vor die Nase halten, das er nicht bekommen würde.
Bei dem Gedanken daran lief ihm das Wasser im Mund zusammen. Er musste schwer schlucken.
Die gelbe, stählerne Lunch-Box war bis auf den silbernen Alufolienball und das zerrissene Kärtchen leer. Hätte er sich das Sandwich doch besser noch eine Weile aufgehoben. Peter konnte ja nicht ahnen, wie lange er hier festsitzen würde. Im Nachhinein konnte er sagen, dass es wohl das beste Sandwich war, das er je gegessen hatte. Als Henkersmahlzeit hätte er sich trotzdem etwas gehaltvolleres gewünscht. Bratkartoffeln mit paniertem Schweineschnitzel und Götterspeise als Dessert vielleicht.
Lecker.
7
Peter fuhr seinen Rechner runter. Die Dokumentation der Wochenergebnisse war abgabefertig. Er hatte alles hinbekommen, was er sich für den Tag vorgenommen hatte.
Schnell klaubte er einige Dokumente vom Schreibtisch, griff neben seinen Bürostuhl, um seinen Aktenkoffer hervorzuholen und warf sie hinein. Anschließend schloss er die Laschen mit einem doppelten Klick und warf sich sein Jackett über.
Auf dem Weg aus dem Gebäude verabschiedete er sich bei einigen Leuten, die ihm im langen Gang begegneten. Alle liefen sie geschäftig an ihm vorbei. Manche hielten Stapel von Papier in den Händen, andere quasselten in ihre Handys und andere waren wahrscheinlich unterwegs zur Toilette, so wie sie den Gang entlang schlenderten.
Vor dem Aufzug musste er einige Minuten warten, bevor sich die Türen mit einem kurzen Bing öffneten. Schnell drückte er die Taste mit der Aufschrift EG für Erdgeschoss. Zum Glück hatte er die Kabine für sich alleine. Er genoss die Stille nach einem arbeitsreichen Tag. Auf dem Weg nach Hause musste er noch etwas besorgen, weswegen er sich extra eine Notiz in seinem Wochenkalender gemacht hatte. Das kurze Gefühl der Schwerelosigkeit in seinem Magen, als sich der Aufzug in Bewegung setzte und schon war er unten.
Querfeldein durch die Empfangshalle warf er immer wieder einem Kollegen ein kurzes „Hi“ oder „Schönen Feierabend“ zu und niemandem konnte seine überwältigend gute Laune entgehen. Die Sonne war bereits im Begriff unterzugehen und erstrahlte goldrot über dem Horizont, während er den Schlüssel zu seinem geleasten BMW aus seiner Hosentasche kramte.
Unterwegs besorgte er zwei Flaschen Champagner und legte einen kurzen Zwischenstopp bei einem pompös ausgeschmückten Blumenladen ein, schließlich war heute Valentinstag und die Blumenverkäufer mussten diese kurze Hochkonjunktur voll ausnutzen.
Peter ließ sich zwanzig rote Rosen zu einem Strauß zusammenbinden und mit glitzerndem Staub bestreuen. Er konnte nicht dem Drang widerstehen, kurz seine Nase hineinzuhalten.
Sehr schön, dachte er. Perfekt.
Schnell ging er zurück zu seinem Wagen, legte die Blumen auf den Beifahrersitz und ließ kurz den Motor aufheulen, bevor er sich auf den Weg nach Hause machte. Jenny würde wahrscheinlich schon auf ihn warten.
Den BMW parkte er im Hof vor der Garage und schaltete den Motor aus. Er griff rechts zum Handschuhfach und holte ein kleines, viereckiges Kästchen heraus. Er konnte es nicht glauben, dass dieser winzige, blaue Gegenstand von so großer Bedeutung sein würde. Aber dennoch, die Endorphine, die momentan seinen Körper durchfluteten, ließen in ihm nicht den kleinsten, negativen Gedanken aufkeimen. Es war zu perfekt. Sie waren zu perfekt.
Die Aktentasche ließ er im Auto, griff sich aber den Strauß und die beiden Flaschen Champagner. Das kleine Kästchen hatte Peter in die Innentasche seines Jacketts gesteckt. Hoffentlich würde sie die Ausbeulung des Stoffs nicht bemerken. Aber das war die geringste seiner Sorgen.
Zufrieden lächelnd ging er den schmalen Pfad Richtung Haustür entlang – fast schon hüpfend. Wieder musste er den Schlüsselbund aus der Hosentasche fummeln, was mit den Flaschen und dem Blumenstrauß in den Händen gar nicht mal so einfach war.
Nachdem auch diese Hürde bewältigt war und er endlich sein trautes Heim betrat, stand Jenny bereits in Ausgehbekleidung vor ihm im Flur ihrer bescheidenen, doch liebevoll eingerichteten Wohnung.
„Und?“, fragte sie ihn.
„Du siehst wunderschön aus“, antwortete er und gab ihr einen kurzen, aber liebevollen Kuss. Er konnte ihren Lip Gloss schmecken. Kirschgeschmack. „Für dich.“
Peter hielt ihr den Rosenstrauß hin und lächelte sie an. Sie wusste, dass er etwas vor hatte. Nur wusste sie nicht genau was. Wahrscheinlich rechnete sie damit, dass sie fein essen gehen würden, da heute Valentinstag war, der Tag der Liebenden.
„Schatz, was ist denn heute los mit dir?“, fragte sie lachend und nahm den Strauß in die Hände.
„Nichts“, gab er neckisch zurück und machte ein überzogen ahnungsloses Gesicht. „Heute ist Valentinstag. Darf man seiner Traumfrau keinen schönen Abend machen?“
Sie sah ihn erwartungsvoll an, doch er war schon wieder dabei in die Küche zu hasten und die beiden Champagner-Flaschen in den Kühlschrank zu stellen, damit er am Abend trinkbar sein würde, wenn sie wiederkamen. Er warf einen kurzen Blick auf die Uhr, befühlte kurz seine Brust, um zu sehen, ob das kleine Kästchen noch da war und nahm sie dann an der Hand.
„Komm, wir gehen“, sagte Peter knapp und zog sie sanft hinter sich her.
Vor der Auffahrt wartete bereits das Taxi, das er auf der Arbeit für genau siebzehn Uhr dreißig bestellt hatte. Glücklicherweise war es heute pünktlich da. Er konnte an ihrem Blick ablesen, dass sie beeindruckt war, wie gut er alles organisiert hatte und sie fragte sich bestimmt, worauf das ganze hinauslaufen sollte.
„Sie wissen, wo Sie hinfahren müssen?“, sagte Peter zum Taxifahrer. „Aber psst! Nichts verraten!“
„Ja, Sir, ich weiß wohin“, kam die Antwort. Der Afroamerikaner hinter dem Steuer warf einen Blick in den Rückspiegel und musste angesichts des glücklichen Paares lächeln. Solche Gäste waren ihm die liebsten. Eindeutig eine positive Seite seines Jobs.
Fünfzehn Minuten und zehn Euro Trinkgeld später stiegen sie an einem Taxistand im Stadtzentrum aus. Über die Dächer ragte der majestätische Glockenturm mit seiner riesigen Uhr, die mittlerweile fünfzehn Minuten vor sechs anzeigte. Er hatte sich ein wenig verkalkuliert, was den Zeitplan betraf, sodass sie wahrscheinlich zehn Minuten zu früh dort sein würden. Höchstwahrscheinlich machte er sich jedoch zu viele Sorgen und der Tisch würde schon für sie bereit stehen, auch wenn sie etwas früher kamen.
Unter all den Menschen, die ihnen auf dem Weg zu ihrem Ziel über die kopfsteingepflasterten Straßen begegneten, war Jenny definitiv die schönste. Peter konnte nicht fassen, dass er sie an seiner Seite hatte und das noch nach vier wundervollen Jahren Beziehung.
Sie blieb abrupt stehen, als Jenny das italienische Restaurant erblickte, in dem sie sich das erste Mal getroffen und näher kennengelernt hatten.
„Peter“, flüsterte sie. Sie schien von der Situation überwältigt und gerührt zu sein. Gleichzeitig erinnerte Jenny sich wahrscheinlich daran, wie sie ihn das erste Mal hier stehen sah.
Peter drehte sich lächelnd zu ihr um.
„Na, was meinst du?“, fragte er und schloss sie in die Arme. „Die passende Location für heute Abend?“
Jenny sah ihn mit ihren leuchtenden Augen an, in denen sich die Lichter der Reklametafeln um sie herum spiegelten. „Ja, vollkommen.“
„Ich liebe dich“, flüsterte Peter und wollte sie küssen.
„Ich liebe dich auch.“ Und sie erwiderte seinen Kuss.
Um genau achtzehn Uhr acht machte Peter Voss seiner Geliebten Jenny Gronwich einen Heiratsantrag.
Kapitel 6
Es werde Licht
1
Es werde Licht
1
Peter kam zu dem Schluss, dass er wohl am besten aufgeben sollte.
Aufgeben? Hast du denn schon gekämpft? Du solltest dich mit Händen und Füßen dagegen wehren. Als Kind hattest du vielleicht Rob an deiner Seite, der dich beschützt hat, aber jetzt? Jetzt musst du selbst zurecht kommen.
Rob. Jenny hatte ihn zwar verlassen, seine Eltern waren bei einem Autounfall vor einigen Jahren gestorben, aber Rob würde ihn doch sicher irgendwann besuchen kommen wollen. Wenn Peter nicht zu Hause war, nicht auf dem Handy erreicht werden konnte und auch nicht zurückrief, dann würde sich Rob doch bestimmt Sorgen um ihn machen. Irgendwann.
Sein Freund hatte wahrscheinlich selbst viel um die Ohren. Wenn Peter Pech hatte, dann kam er wochenlang nicht zu Besuch und meldete sich auch nicht.
Denk positiv, Kumpel. Er steht vor deiner Haustür, klingelt, du öffnest nicht, er versucht dich auf dem Handy zu erreichen, du gehst nicht dran und Rob wird misstrauisch. Ein oder zwei Tage später ruft er bestimmt die Polizei.
Wenn Peter davon ausging, dass durch wen auch immer die Polizei verständigt wurde, wie lange würden sie brauchen, bis sie ihn hier fanden? Er wusste selbst nicht, wo er war. Keine Fenster, durch die er seine Umgebung ausmachen oder um Hilfe rufen konnte. Bisher hatte sich auch keiner seiner Entführer gezeigt. Alles blieb verschwommen.
Peter wanderte begleitet durch das sirrende Geräusch auf der anderen Seite über die weißen Fliesen und kratzte sich energisch über den rechten Unterarm, obwohl er wusste, dass er besser die Finger davon gelassen hätte. Der dickflüssige, gelbe Eiter quoll aus der blutigen Öffnung, die inzwischen die Größe einer Ein-Cent-Münze angenommen hatte. Der kleine Hügel war zwar geschrumpft, die Wunde wurde jedoch immer größer. Von ihr ausgehend mäanderten rote Linien auf der blassen, wächsernen Haut seinen Arm hinauf bis zu seinem Bizeps und hinunter zu seinen Fingerknöcheln. Es sah wirklich nicht gut aus, das konnte er sogar ohne Doktortitel sagen.
Immer wieder wurde die flache Atmung, die aus der Dunkelheit drang von einem kurzen Knurren oder einem menschenähnlichen, schleimigen Husten unterbrochen.
2
„Ladys and Gentlemen!“, rief er der Dunkelheit mit der Stimme eines Fernsehmoderators zu. „Darf ich vorstellen? Peter Voss!“ Er verbeugte sich tief mit ausgestrecktem Arm. „Heute heiße ich Sie herzlich willkommen zur One-Man-Show des Terrors. Wollten Sie schon immer sehen, wie ein Mann in eine Ecke pinkelt? Vor lauter Durst schmutziges Wasser trinkt, das höchstwahrscheinlich aus einer Toilette stammt? Na, da hoffen wir doch mal, dass Mister Scheißhaus keinen Durchfall hatte!“ Er lachte theatralisch, wodurch seine trockenen Lippen an einigen Stellen aufplatzten. „Die Frage, die sich mir stellt, ist, wie kann Peter Voss von hier verschwinden? Oh, eventuell fühlt er sich ja wohl in seiner Umgebung, meinen Sie? Na, da muss ich Ihnen doch tunlichst widersprechen! Vielleicht sollten seine compadres, die hier die Strippen ziehen, das Licht auf der anderen Seite anschalten, damit auch nichts den Augen unserer werten Zuschauer vorenthalten bleibt!“
„Diese Option ist verfügbar“, drang es mit blecherner Stimme aus dem Lautsprecher. Peter zuckte zusammen und konnte sich für einen Moment nicht entscheiden, wohin er seine Augen wenden sollte, als rechts von ihm kurze, helle Blitze die Dunkelheit durchzuckten. Die Neonröhre erstrahlte in gleißend hellem Licht und Peter fuhr entsetzt zurück.
3
Fasziniert betrachtete Jenny den Diamanten an ihrem Finger. Sie drehte ihre Hand hin und her, um ihn von allen Seiten begutachten zu können.
„Wundervoll, Peter“, murmelte sie vor sich hin.
„Freut mich, dass er dir gefällt“, erwiderte er und gab ihr einen kurzen Kuss. „Sollen wir uns was vom Chinesen kommen lassen?“
Immer noch in die Betrachtung ihrer Hand vertieft, nickte sie kurz und lächelte ihn dann an. „Der war doch sicher sündhaft teuer?“
„Naja, du bist es mir eben wert.“ Er grinste sie an und schnappte sich das Telefon.
„Da fällt mir ein, dass ich morgen Vormittag bei meinem Vater bin“, sagte Jenny. „Er will mich wegen einem neuen Projekt sprechen. Wenn es so interessant ist, wie mein Vater es beschrieben hat, dann arbeiten wir beide vielleicht bald unter dem selben Dach.“
„Wirklich? Ich dachte immer, du willst auf keinen Fall für Richard arbeiten?“
„Naja“, sagte sie. „Menschen ändern sich eben.“
Peter wählte die Nummer des Chinesen und bestellte Chop Suey für Jenny und gebackene Ente mit Reis für sich.
4
Ihm gegenüber saß eindeutig etwas menschliches. Es wirkte, als hätte jemand achtzig Kilogramm Hackfleisch in die Form eines Menschen gepresst und dann zum Leben erweckt. Das Wesen – der Mensch – saß auf dem Boden, unter ihm eine riesige Blutlache. Peter konnte Augen, Nase und Mund erkennen, in einem Gesicht, dessen Haut abgezogen worden war. Er konnte die einzelnen faserigen Muskelstränge erkennen, wenn er genau hinsah. Sie wirkten wie ineinander verflochtene, rote Fäden. Um die Augen herum machten die einzelnen Muskelstränge einen Bogen und führten hinunter bis zum Kiefer. Hätte er sich mit der menschlichen Anatomie besser ausgekannt, hätte Peter die einzelnen Muskeln mit den richtigen Namen bezeichnen können. Das Wesen – der Mensch – erinnerte ihn an die Ausstellung Körperwelten, bei der konservierte, gehäutete Exponate des menschlichen Körpers in verschiedenen Positionen dargestellt wurden. Der einzige Unterschied bestand darin, dass das Ausstellungsstück vor seinen Augen lebte. Er konnte sehen, wie sich schnell die von Sehnen, Venen und Arterien überzogene Brust hob und wieder senkte, passend zu der flachen Atmung der Gestalt. Es erinnerte ihn an eine Szene aus Hollow Man, in der sich Kevin Bacon Schicht um Schicht in einen Unsichtbaren verwandelte und man für einen Moment den Körper ohne Haut- und Fettschicht erblicken konnte.
Die Beine hatte das Wesen – der Mensch – angewinkelt, ungefähr wie Peter, als er an die Wand gelehnt dagesessen war. Die Augen blickten ihn böse an, was vielleicht auch nur daran lag, dass es – der Mensch – keine Augenlider besaß, die geschlossen werden konnten.
Um die Muskelstränge der Hand- und Fußgelenke waren dicke, schwere Eisenfesseln geschlossen, deren stählerne Kettenglieder in der Wand verankert waren, was dem Wesen – dem Menschen – wenig Spielraum für Bewegung ließ. Nun konnte Peter auch das laute, metallische Rasseln, das er immer wieder vernommen hatte, zuordnen. Das Metall der Fesseln hatte die rostbraune Farbe von geronnenem Blut. Selbst hinter dem menschlichen Wesen waren die weißen Fliesen mit blutigen Schlieren beschmiert. Eine Szene direkt aus der Hölle.
Peter spürte ein Kratzen im Hals. Angewidert wollte er den Blick abwenden, doch er war zu fasziniert von der Darstellung, die sich ihm darbot. Das Kratzen entwickelte sich zu Nadelstichen und er musste vornübergebeugt husten. Sein Bauch zog sich zusammen. Der Hustenreiz ließ nach, kurz bevor sich fast übergeben musste. Tränen standen ihm in den Augen und sein Gesicht war rot angelaufen.
Sein Gegenüber schien ihn anzugrinsen. Peter konnte es nicht genau beurteilen, da ihm die Konturen fehlten, die ein menschliches Gesicht eben ausmachten.
An der gegenüberliegenden Wand befand sich links eine viereckige, silberne Platte, die etwa zwei Meter hoch und eineinhalb Meter breit war. Das musste die Türe sein. Nur konnte er keinen Griff finden. Augenscheinlich ließ sie sich nur von außen öffnen. Es wirkte fast, wie der Zugang zu einem Safe in einer Bank, die er aus Filmen kannte. Nur befand er sich innerhalb des Safes. Jedenfalls sah sie schwer aus, sodass die Hoffnung, dass er sie eintreten könnte, gar nicht erst in ihm aufkeimte. Die Ketten, die den Gehäuteten festhielten, schienen allerdings lang genug zu sein, damit er bis zur Tür gelangen konnte, denn blutige Handabdrücke übersäten das helle Silber des Metalls.
In der rechten, oberen Ecke war eine kleine, schwarze Kamera angebracht worden, womit sich das ständig summende Geräusch erklären ließ, das er wahrgenommen hatte, wenn er sich bewegte. Auch jetzt sah ihn die Linse sondierend an.
Big Brother is watching you, schoss es ihm unwillkürlich durch den Kopf.
5
Peter bewegte sich von links nach rechts durch den Raum und wieder zurück. Die Linse der Kamera und der Blick des gehäuteten Mannes folgten ihm. Wieso er wusste, dass es ein Mann war? Aufgrund des rot fleischigen Penis, bei dessen Anblick sich Peters Nackenhaare sträubten.
„Kannst du sprechen?“, fragte er die Gestalt und ging in die Hocke, wobei seine Knie ein leises Knacken von sich gaben. „Wie heißt du? Wer bist du?“
Verzweiflung stand seinem Gegenüber ins fleischige Gesicht geschrieben. Anscheinend konnte er nicht sprechen. Auch wenn die Fesseln ihn davon abhielten Peter anzugreifen, blieb er dennoch auf Abstand. Den schmerzhaften Schlag gegen seine Brust hatte er nicht vergessen.
„Scheint wohl sinnlos zu sein, mit dir zu reden“, sagte Peter und erhob sich wieder. „Wir beide sitzen wohl in der selben Scheiße. Und ich sag dir was, es stinkt bis zum Himmel. Hast du irgendeine Ahnung, was hier gespielt wird?“
Peter konnte die Andeutung eines Kopfschüttelns erkennen. Die Gestalt verstand ihn also. Die offenliegenden Fasern der Bauchmuskulatur kontraktierten, als der Unbekannte laut und schleimig hustete.
Auch Peter verspürte immer wieder ein Kratzen in seinem Rachen, das er durch schweres Schlucken vertrieb. Der Juckreiz seines rechten Unterarms hatte sich inzwischen gelegt, ersetzt wurde dieser aber durch einen brennenden Schmerz um die kleine Wunde herum. Die entzündeten Wundränder sahen ausgefranst aus, fast wie die Zacken eines Reißverschlusses. Die roten Linien die sich über seine Haut zogen machten Peter ernsthafte Sorgen. Irgendwo hatte er mal was über Blutvergiftung gelesen, die sich durch solche Symptome bemerkbar machte. Hatte er vielleicht Fieber?
Peter legte seine linke Handfläche auf seine Stirn, konnte aber nicht feststellen, ob sie warm war. Wieder verspürte er Nadelstiche in seinem Rachen und musste laut bellend husten. Sein Kopf pochte und mit jedem Husten quoll ein kleiner Schwall Blut und Eiter aus der Wunde an seinem Arm. Was passierte nur mit ihm?
Wieder sah er sich die im Neonlicht rot glänzende Gestalt an, die ihn zufrieden zu beobachten schien. Schmerzen schien der Unbekannte nicht zu haben, soweit Peter das beurteilen konnte. Er saß einfach da und beobachtete. Beobachtete wie Peter immer kränker wurde.
„Was passiert mit mir?“, fragte er leise, aber deutlich.
„Der Zerfall“, antwortete die Roboterstimme aus dem Lautsprecher. „Bakterien setzen Enzyme frei, die organische Verbindungen proportional in immer kleinere Einheiten zerteilen. Letztendlich bleiben Wasser, Kohlenstoffdioxid, Harnstoff und Phosphat.“
Ungläubig sah er zu der Membran auf, deren Mitte mit dem Logo Blaupunkt geschmückt war.
„Ich brauche Hilfe“, sagte er, fast flehend.
„Diese Option ist nicht verfügbar“, war die Antwort. Kalt. Monoton. Unumstößlich.
6
Als er am Nachmittag nach Hause kam, sein Jackett und seine Aktentasche im Flur an die Garderobe hing und er sich eine Dose Cola aus dem Kühlschrank geholt hatte, war irgendetwas anders. Es war weniger ein Gefühl, als eine Veränderung, die ihm zwar auffiel, die er aber nicht erkennen konnte.
Vor dem Fenster regneten braune Blätter von den Bäumen, während ein kalter Herbstwind daran rüttelte. Der selbe Wind, der Peters Haar durcheinander gebracht hatte, das nun wild auf seinem Kopf thronte.
Die Ruhe genießend nippte er an seiner Cola und lehnte sich auf der Couch zurück. Er lauschte dem Geräusch der pochenden Fenster, gegen die sich die immerwährenden Böen schmissen.
Jenny war noch nicht zu Hause, was an sich nicht ungewöhnlich war, denn er hatte heute nur fünfzehn Minuten für den Heimweg gebraucht. Der Verkehr war mau, die Ampeln waren grün gewesen und er musste keine Zwischenstopps einlegen, um irgendwelche Besorgungen zu machen.
Die einzige Frage, die er sich stellte, war, was er mit der Zeit, die er nun für sich hatte, anfangen sollte. Der schwarze Bildschirm des Plasma TV's schien ihn anzustarren und ihn aufzufordern, ihm endlich etwas Aufmerksamkeit zu widmen. Doch Peter wollte sich das Nachmittagsprogramm nicht antun. Wenn er heruntergekommene Familien sehen wollte, die sich gegenseitig beschuldigten, den jeweils anderen betrogen zu haben, dann konnte er drei Straßen weiter an irgendeiner x-beliebigen Türe klopfen und würde genau das dort sehen.
Für einen Moment huschte ihm der Gedanke durch den Kopf, ins Schlafzimmer zu gehen und sich einen runterzuholen. Schnell vertrieb er ihn wieder, schob ihn beiseite wie einen im Weg liegenden Gegenstand.
Jenny und er hatten ein gutes Sexleben und sollte er wirklich rübergehen, um an sich rumzuspielen, würde er sich nur vorkommen, als würde er sie betrügen. Wäre ihr Sex schlecht gewesen oder einfach nur rar, dann hätte er es sich selbst vielleicht auf irgendeine Weise rechtfertigen können. Aber so? Nein, besser nicht.
Schließlich erhob er sich von der Couch und wanderte durch das Wohnzimmer. Auf der Kommode unter dem Fenster standen einige Bilder von Peter und ihr. Eine dünne Schicht Staub bedeckte jeden Rahmen.
Eines der Bilder zeigte sie zur Anfangszeit ihrer Beziehung. Sie hielt einen überdimensionalen Teddybären in den Armen und verzog das Gesicht zu einer lustigen Grimasse mit herausgestreckter Zunge und zusammengekniffenen Augen, während Peter mit dem Plüschtier zu flirten schien. Bei der Erinnerung daran musste er augenblicklich grinsen. Sie waren jung, glücklich verliebt und ihnen schien die Welt zu Füßen zu liegen. Was wollten sie mehr?
Wieder beschlich ihn das Gefühl, dass irgendetwas anders war. Irgendetwas.
Es kam ihm vor, als kämen alte Freunde zu Besuch und er bemerkte, dass sich etwas an ihnen verändert hatte. Nur kam er nicht darauf. Bis schließlich einer sagte, dass seine Frisur neu war und sich der Nebel hinter seiner Stirn sofort lichtete. Das Aha-Erlebnis ließ noch auf sich warten.
Er fuhr mit dem Zeigefinger über die staubige Lackierung der Kommode, da fiel ihm ein Streifen und ein kleiner Punkt im grauen Staub auf, die von der Halterung auf der Rückseite eines Bildes stammten, das hier gestanden hatte. Jemand hatte es weggenommen. Jenny? Jenny. Wer auch sonst?
Irritiert sah er sich im Wohnzimmer um, immer noch die Dose Cola in der Hand. Hatte sich noch etwas verändert? Fehlte noch mehr?
Peter wanderte umher und begutachtete jede Oberfläche, die mit Gegenständen ausgeschmückt worden war. Es schien nichts weiter entfernt worden zu sein.
Langsam bewegte er sich in Richtung Schlafzimmer. Das Bett war gemacht, doch die Kleiderschranktüren standen offen. Er ging näher heran und warf einen Blick hinein. Die Bügel hingen leer an der verchromten Eisenstange und bewegten sich noch ganz leicht hin und her, als wäre ein leichtes Lüftchen hindurchgefahren. Jennys gesamte Garderobe war verschwunden. Die Abendkleider, die Shirts, die Pullover, auch die Schuhe, die unten im Kleiderschrank gestanden hatten – alles weg. Er spürte die Aufregung, die seinen Körper durchflutete. Eine Ahnung, die er auf keinen Fall wahrhaben wollte.
Peter stellte die Dose in seiner Hand auf den Nachttisch und eilte wieder ins Wohnzimmer, um sich das Handy aus der Tasche seines Jacketts zu holen. Er wählte Jennys Nummer und bekam für einen Moment das Freizeichen, dass durch die Stimme am anderen Ende unterbrochen wurde. Für den Bruchteil einer Sekunde atmete er erleichtert auf, weil er dachte, es wäre Jenny.
„The person you have called is temporarily not available.“
7
Er riss den Ärmel seines Sweatshirts ab und wickelte ihn um seinen rechten Unterarm. Ein behelfsmäßiger Druckverband. Die eiternde Wunde hatte inzwischen ausgesehen, als wäre er mit einer Pistole angeschossen worden. Sorgen bereitete ihm allerdings der Juckreiz, der nun auch an seinem linken Arm begann. Peter versuchte wirklich, sich zu beherrschen, aber er musste kratzen. Das Jucken war unerträglich.
Der fleischige, mit Muskelsträngen überzogene Mann sah ihn weiterhin einfach nur an und blieb bis auf ein vereinzeltes Husten oder Knurren hin und wieder stumm. Und obwohl ihm die eisernen Fesseln ein wenig Spielraum ließen, bewegte er sich nicht von der Stelle.
Peter hatte ihn aus sicherer Entfernung betrachtet und konnte vereinzelte Stellen auf dem Körper entdecken, an denen er von Haut bedeckte wurde. Auf der Schädeldecke befand sich beispielsweise ein rötlich beiger Fleck, der eindeutig Haut war. Als er die menschliche Kreatur das erste Mal erblickt hatte, war ihm dieser Fleck von der Größe einer CD nicht aufgefallen. War die Haut erst entstanden? Er wusste es nicht. Konnte sich nicht sicher sein. Diese surreale Situation schien sein Denken zu beeinträchtigen.
Auch über dem Bizeps des rechten Arms sah er beige Haut, die den rosaroten Muskel teilweise bedeckte.
Der Mann ohne Haut (fast ohne Haut) hustete wieder schleimig, sodass sich seine Bauchmuskulatur zuckend kontraktierte. Seine Brust hob und senkte sich schnell, aber langsamer als zu Anfang. Als könnte er mittlerweile mehr Luft in seine Lungen saugen. Er bewegte sich leicht, wahrscheinlich, um sich in eine bequemere Position zu bringen, wobei die metallenen Kettenglieder leise klirrten.
Peters Magen grummelte trotz dem Stress, dem er ausgesetzt war, leise vor sich hin. Immer wieder leckte er sich über die gerissenen, trockenen Lippen. Er hatte den Geschmack von Eisen im Mund, als ob sein Zahnfleisch blutete. Seinen Bart konnte er inzwischen um die Finger zwirbeln. Und die Wärme im Raum machte ihm zu schaffen. Peter hatte das Gefühl, dass ihm der Schweiß in Flüssen an den Schläfen hinablief.
„Kann mal jemand die Klimaanlage einschalten?“, fragte Peter laut.
„Diese Option ist nicht verfügbar“, antwortete die synthetische Stimme. Entnervt sah er den Lautsprecher an.
„Fickt euch!“, rief er. „Wie lange wollt ihr mich hier eigentlich festhalten?“
„Der Prozess benötigt voraussichtlich noch sechzehn Stunden.“
„Sechzehn Stunden?“, fragte Peter. „Und dann? Lasst ihr mich dann einfach hier rausspazieren? Oder tötet ihr mich? Oder lasst ihr mich hier unten vergammeln?“
„Ihr Körper reguliert sich selbst“, antwortete die männliche Stimme.
„Was soll das denn schon wieder heißen?“
„Diese Information ist nicht verfügbar.“
„Ah, ihr habt eurer komischen Computerstimme also nicht auf jede Frage eine Antwort eingebläut“, stellte er fest. „Sehr gut! Hauptsache ist doch, dass ich weiß, was hier gespielt wird.“
„Ja“, war die Antwort, die er bekam.
„Ja?“ Er spürte wie Zorn in ihm hochkochte. „Ja? Sagt mal, wollt ihr mich eigentlich verarschen? Wieso überhaupt ich? Wieso nicht irgendein anderes Arschloch? Da draußen laufen so viele Obdachlose rum! Wieso nicht einer von denen?“
„Das Versuchsobjekt muss hundert Prozent vitale Körperfunktionen aufweisen“, antwortete die Computerstimme. „Vorbelastung durch Umwelteinflüsse, Krankheiten oder Beeinträchtigungen durch Behinderungen dürfen nicht gegeben sein.“
„Was heißt Umwelteinflüsse? Ich war genau so der Welt ausgesetzt wie jeder andere auch!“
„Das ist vertretbar.“
Der fleischige Mann und die Kamera in der Ecke beobachteten ihn, während er auf und ab lief. Während er sprach, bewegte er seine linke Hand vor seinem Körper, die rechte hing schlaff an seiner Seite.
„Vertretbar“, spie er spöttisch aus. „Sechzehn Stunden also? Na gut, na gut. Sechzehn Stunden halt ich aus. Und danach trete ich euch in den Arsch. Sollte einer von euch diesen Raum betreten – oh, glaubt mir, ihr solltet euch mir besser nicht in den Weg stellen. Ihr wollt euch mit mir anlegen? Schön! Ihr werdet sowas von vernichtet!“
„Diese Option ist nicht verfügbar“, sagte die Stimme.
Peter erstarrte. Blieb stehen, als hätte man ihn mitten in der Bewegung eingefroren. So böse er konnte, blickte er in die Linse der Kamera, die sich weitete und umgehend wieder verengte. Er konnte es nicht fassen. Sie wollten ihn doch tatsächlich ärgern. Und er würde sich rächen. Sobald er hier raus kam, würde er mit oder ohne polizeilicher Unterstützung dieses verdammte Gebäude stürmen und jemandem gewaltig auf die Schnauze hauen.
Zuerst musste er jedoch in die Notaufnahme. Dringend.
Unbewusst kratzte er sich den linken Unterarm.
Kapitel 7
Sechzehn Stunden
Sechzehn Stunden
1
Sechzehn Stunden hatte die computerisierte Stimme gesagt.
An die Wand gelehnt saß er da, beide Arme auf die angewinkelten Knie gelegt. Rote Streifen zogen sich nun auch über seinen linken Arm bis hoch zu seinem Bizeps. Inzwischen eiterte und blutete auch hier eine kleine Wunde mit dem Durchmesser eines Augapfels. Angewidert sah er sich an wie schleimiger Eiter und leuchtend rotes Blut daraus hervorquoll.
Peter wollte sich seinen rechten Arm gar nicht erst ansehen. Seit er den Ärmel seines Sweatshirts drumherum gewickelt hatte, hatte er keinen weiteren Blick darauf geworfen. Starb man an einer Blutvergiftung, sobald die roten Linien, die sich über die wächserne Haut zogen, das Herz erreichten? Er wusste es nicht. Wie so oft, seit er sich in diesem Drecksloch befand, ärgerte er sich über seine Unwissenheit.
Er riss auch den anderen Ärmel seines Sweatshirts ab, um seinen linken Arm ebenfalls zu verbinden. Hauptsächlich tat er das, weil er den widerwärtigen Anblick des gelben Schleims nicht mehr ertragen konnte, der seinen schwachen Körper verließ.
Es fiel ihm schwer, die Arme oder den Kopf zu bewegen, ganz zu schweigen von den Beinen. Peter musste Nahrung und vor allem Wasser zu sich nehmen, sonst versagten ihm seine Muskeln noch komplett den Dienst.
Sechzehn Stunden, wiederholte sein Gehirn immer wieder. Sechzehn Stunden. Wie lange sitze ich schon hier?
„Wie lange noch?“, fragte er laut in den Raum hinein und hustete kräftig. Der muskelfaserige Mann hob interessiert den Kopf.
„Voraussichtlich noch vierzehn Stunden und dreißig Minuten“, antwortete die emotionslose Stimme.
Na super, dachte Peter. Seit eineinhalb Stunden sitze ich hier rum und hab überhaupt nichts gemacht.
Sein Gegenüber saß inzwischen viel lockerer da als zu Anfang. Die Beine angewinkelt, die Arme leicht auf die Knie aufgelegt, den Kopf erhoben – er saß in der selben Position da wie Peter. Der einzige Unterschied bestand darin, dass er gefesselt war und keine Haut besaß. Dennoch strahlte er eine gewisse Würde aus. Seine Körperhaltung wirkte nicht erniedrigt oder niedergeschlagen, eher vermittelte der Mann Zuversicht.
Wieder krabbelte ein Husten Peters Hals hinauf. Nadelstiche ganz hinten am Ende seiner Zunge. Schleimige Brocken landeten in seiner Mundhöhle als er laut bellte. Er spuckte rechts aus und sah sich die rötlich gelbe Flüssigkeit an. Peter hatte das Gefühl sich übergeben zu müssen, wenn er sich weiter auf irgendetwas Ekelhaftes in diesem Raum konzentrierte. Neben ihm seine ekelerregende Spucke, vor ihm dieser widerwärtige Mann ohne Haut und seine fürchterlich eiternden Arme, die er zum Glück verbunden hatte, sodass ihm das wenigstens erspart blieb.
Wie gerne hätte er sich in einem Spiegel betrachtet. Peter konnte sich seine tiefen, dunklen Augenringe aufgrund der Infektion und des Schlafmangels ausmalen, die blasse, weiße Haut und den vollen, dunklen Bart in seinem Gesicht auf dessen Stirn der Schweiß stand. Seine Zähne hatten wahrscheinlich schon ein nikotinfarbenes Gelb angenommen.
Nikotin.
Er brauchte unbedingt eine Zigarette. Zwar war er nur Gelegenheitsraucher, aber unter Stress war es das Beruhigendste eine qualmende Zigarette zwischen den Fingern zu halten. Peter versuchte sich zu erinnern, wann er das letzte Mal eine geraucht hatte. Es fiel ihm nicht ein. In seinem Kopf tummelten sich zusammenhangslose Gedankenfetzen und die Schnipsel vereinzelter Bilder, die sich nicht zusammenfügen ließen wie Puzzlestücke aus zwei verschiedenen Verpackungen.
Er schloss die schmerzenden Augen und lehnte den pochenden Kopf gegen die weiß geflieste, kalte Wand.
2
Unbeholfen und mit zitternden Beinen stand er auf.
War er eingenickt? War er wieder ohnmächtig geworden? Wie lange war er weg gewesen?
„Computer“, sagte er mit einem leichten Lächeln im Gesicht, weil er sich vorkam wie der Kapitän eines Raumschiffs. „Wie lange noch?“
„Voraussichtlich elf Stunden und zwanzig Minuten“, antwortete die monotone Stimme abgehackt.
Von der Kamera verfolgt ging er langsam einige Schritte nach vorne auf den Mann zu, der aufrecht am Boden saß und ihn erwartungsvoll anzusehen schien.
Er hatte wirklich über drei Stunden geschlafen. Unglaublich.
Peter musste wieder bellend husten und hielt sich den schmerzenden, rechten Arm vor den Mund. Der provisorische Verband aus grauem Stoff war inzwischen durchnässt und hatte eine bräunliche Farbe angenommen durch die Eiter-Blut-Mixtur, die aus seiner Wunde austrat. Auch die Infektion an seinem linken Arm schien sich verschlimmert zu haben. Und verspürte er nicht auch ein leichtes Jucken über seinem linken Auge?
Bestimmt bildete er sich das nur ein. Trotzdem konnte er sich nicht beherrschen und kratzte. Er spürte einen leichten Hubbel. Eindeutig. Entsetzt rieb er mit den Fingern über die entzündete Haut.
Nicht das Gesicht, schrie er in Gedanken. Nicht auch noch das Gesicht!
Er konnte nicht glauben, dass das selbe, das mit seinen Armen geschah, auch mit seinem Gesicht passierte.
Peter versuchte die Tränen zu unterdrücken, die sich in seinen Augen sammelten und dann eine nach der anderen seine Wange hinablief. Er setzte sich und presste die Handballen auf die Augenlider, während er seinen Kopf zwischen die angezogenen Knie steckte. Peter weinte einfach.
Hoffnungslos. Verzweifelt. Einsam. Dehydriert und hungrig.
Pochender, brennender Schmerz in seinen Armen. Jucken über seinem linken Auge.
3
Es ist gewachsen, dachte Peter. Eindeutig. Vorher war es kleiner.
Er stand in sicherem Abstand vor dem Mann, der am Boden saß, und betrachtete seine Schädeldecke. Der Flecken Haut war größer geworden. Als er das letzte Mal einen Blick darauf geworfen hatte, war das Stückchen Haut so groß wie eine CD, mittlerweile vereinnahmte es fast die gesamte Oberfläche der Schädeldecke.
Er blickte in die ausdrucks- und lidlosen Augen des unbekannten Mannes.
„Was passiert mit dir?“, fragte er. Unbeholfen hob sein Gegenüber die rosafarbenen Hände. Die Geste sollte wohl bedeuten, dass er keine Ahnung hatte. Auch die Haut auf seinem Bizeps hatte sich ausgebreitet. Sie bedeckte schon fast die Schulter und vollkommen die Innenseite des Oberarms. Sprechen konnte der Unbekannte allerdings immer noch nicht.
Hatte sich auch beige Haut auf seiner Wade gebildet? Ja, eine münzgroße Fläche auf der Wade.
Peter konnte sich keinen Reim darauf machen. Regenerierte sich dieses menschenähnliche Wesen? Er war davon ausgegangen, dass diesem Kerl die Haut abgezogen worden war, aber so schnell heilte niemand von einer solchen Verletzung. Verletzung.
Peter wischte sich mit der Hand den Schweiß von der Stirn. Sein Blick fiel wieder auf seinen eitergetränkten Druckverband aus grauem Stoff. Er musste das Gesicht verziehen.
Der Mann bewegte sich. Hob seine Arme. Er sah Peter in die Augen. Mit der linken Hand zeigte er mit ausgestrecktem Zeigefinger auf sich. Dann schien er zu prüfen, ob er noch Peters ungeteilte Aufmerksamkeit hatte, während er kurz inne hielt und ihm tief in die Augen sah. Der Mann hatte dunkelbraune Augen. Anschließend drehte er seine Hand und deutete auf Peter.
„Was willst du mir sagen, Kumpel?“, fragte er leise und sah ihn forschend an. Der Mann senkte seine Arme und ließ ostentativ den Kopf hängen. „Ich kann damit nichts anfangen, sorry.“
Peter ging einige Schritte zurück – die Linse der Kamera folgte ihm summend – wollte sich hinsetzen, doch ihm fiel die eitrig blutige Pfütze an seinem angestammten Platz auf.
Das alles kam aus mir, dachte er.
Er zog die gelbe Metall-Box zu sich, die rechts neben der Urinlache stand und setzte sich auf sie. Unverwandt sah er den Mann an, der ihm anscheinend etwas mitzuteilen hatte.
„Wie lange noch?“, fragte er wieder.
„Voraussichtlich elf Stunden und acht Minuten.“
4
Ungeduldig wickelte er den grauen Verband von seinem rechten Unterarm. Mit jedem Pulsschlag pochte der Schmerz durch seinen Körper. Angewidert zog er den verklebten Stoff von seiner Haut, doch da war fast keine Haut mehr. Es sah aus wie mariniertes Fleisch hinter der Theke einer Metzgerei. Mit Eiter überzogene, schleimige Hautfetzen und Fleischstückchen hingen um seinen Knochen und an der Innenseite des Druckverbandes. Sein Arm hatte sich fast vollständig aufgelöst. Peter konnte an vereinzelten Stellen den Knochen sehen. Bis zu seinem Handgelenk hinunter wirkte es, als hätte jemand wie von einem Hähnchenbein das Fleisch heruntergenagt. Der Unterarm war so dünn, dass die Hand wie aufgesteckt wirkte und auf gewisse Weise unecht aussah.
Entsetzt wickelte er den Arm wieder ein. Im Moment war Peter zu schwach, um zu schreien oder wütend zu reagieren. Die gesamte Energie war seinem Körper entzogen worden. Hinzu kam die Wärme und das ständige Nachdenken. Doch kein Gedanke schien auf fruchtbaren Boden zu fallen, keine Lösung schien eine plausible Erklärung seiner Situation.
Ununterbrochen wurde er beobachtet, während die Zeit lief.
5
Er blinzelt.
So ausgetrocknet, hungrig und niedergeschlagen Peter auch war, die Verwandlung oder der Heilungsprozess, den die andere Person, die augenscheinlich auch in diesem Raum gefangen war, durchmachte, war dennoch faszinierend.
Soweit Peter das beurteilen konnte, hatte der Mann geblinzelt, was bedeutete, dass sich Augenlider gebildet hatten. Auch dünne Lippen und stecknadelkopfgroße, beigefarbene Flecken um die Nase herum konnte er erkennen. Peter könnte schwören, dass das zuvor noch nicht dagewesen war. Er starrte den Unbekannten an, versuchte zu beobachten, wie die Haut wuchs. Aber seine Augen nahmen es nicht wahr. Es war so, als wolle man dem Gras beim Wachsen zusehen. Doch die Entwicklung der Haut ging schneller vonstatten. Kaum drehte sich Peter weg, schienen sich neue Hautzellen zu regenerieren. Es war unglaublich.
„Wer hat dir das angetan?“, fragte Peter.
Der Mann schüttelte den Kopf. Er konnte sich mittlerweile wohl besser bewegen, denn diesmal war es nicht nur die Andeutung, sondern ein richtiges Kopfschütteln.
„Weißt du nicht, wer dir das angetan hat?“
Wieder ein Kopfschütteln.
„Hast du Schmerzen?“
Der Mann blieb bewegungslos, schien kurz nachzudenken und machte dann eine kreisende Bewegung mit seinem Kopf. Das sollte dann wohl Jein heißen.
„Aber du hattest Schmerzen?“
Ein Nicken.
„Wurdest du entführt?“
Kopfschütteln.
„Wie bist du denn dann hier gelandet?“, fragte Peter. Es war mühsam mit einem stummen Gesprächspartner zu kommunizieren. Hinzu kamen noch seine schmerzenden Arme, die den Eindruck vermittelten, er sei von fleischfressenden Bakterien befallen worden. Kaum war ihm der Gedanke durch den Kopf gegangen, konnte er ihn nicht wieder abschütteln.
Fleischfressende Bakterien.
„Bist du freiwillig hier?“, fragte er.
Energisches Kopfschütteln.
Fleischfressende Bakterien.
„Hat dir überhaupt jemand das angetan?“, fragte er und deutete mit der Hand auf den Mann.
Kopfschütteln. Nein. Was passierte dann mit ihm?
„Weißt du, was mit mir passiert?“
Der Unbekannte senkte den Kopf und schüttelte ihn leicht.
Fleischfressende Bakterien.
Fleischfressende Bakterien.
6
„Voraussichtlich noch neun Stunden und zwanzig Minuten“, verkündete die blecherne Stimme aus dem Lautsprecher gleichgültig. Genau so gut hätte sie „An der nächsten Kreuzung links abbiegen“ oder „Noch zehn Minuten bis zum Ziel“ verkünden können.
Immer wieder wurde Peter schwummerig vor Augen. Sein Blick trübte sich für kurze Momente, sodass er seine Umgebung nur verschwommen wahrnahm und kurz vor einer Ohnmacht stand, während ihm weiter der Gedanke von fleischfressenden Bakterien durch den Kopf ging.
Der Juckreiz über seinem linken Auge verschlimmerte sich und immer wieder rieben die Fingernägel seiner linken Hand über die empfindliche Stelle. Gelber Eiter klebte an ihnen. Die rechte konnte er nicht mehr heben. Er spürte sie nicht mal mehr. Seine aufgesprungenen Lippen bluteten leicht. Seine Kehle war staubtrocken, sodass ihm das Reden immer schwerer fiel, auch wenn er nicht viel zu sagen hatte.
Erschöpft ließ er sich auf die gelbe Metallschatulle sinken und lehnte seinen Rücken gegen die kühlen Fliesen.
Dem Unbekannten schien es immer besser zu gehen. Die Haut um seine Nase herum hatte sich fast vollständig entwickelt, die Lippen hatten ihre volle Kontur angenommen und aus der Kopfhaut, die sich mittlerweile auch über die Stirn zog, schienen kleine, braune Haarstoppeln zu sprießen. Trotzdem blieb er stumm.
Auch die rechte Wade hatte eine beigerosane Farbe angenommen und wirkte kräftig und vital. Keine Sportlerwade, aber doch stramm.
Peter gab es auf zu sprechen, auch wenn er noch andere Fragen hätte stellen können, ihm fehlte einfach die Energie dazu. Schlaff hingen seine Arme herunter. Er saß da wie ein Sandsack. Genau so leblos und in sich zusammengesunken.
7
Peter drehte sich von links nach rechts, doch der diffuse Mondschein, der das Schlafzimmer durchflutete, ließ ihn nicht zur Ruhe kommen.
Sein Körper litt immer noch unter Flüssigkeitsmangel – er hatte einen Kater. Eigentlich müsste er hundemüde sein, doch sein Körper schien einfach nicht zur Ruhe kommen zu wollen.
Kurzerhand schwang er die Beine aus dem Bett und ging zum Fenster. Er konnte den riesigen, am Himmel thronenden Vollmond sehen, der ihn um seinen wohlverdienten Schlaf brachte. Mit einem Rauschen zog er die Vorhänge zu und legte sich wieder ins warme Bett.
Fast hätte er es vergessen. Peter stellte noch schnell den Wecker, damit er am nächsten Tag nicht zu spät zu seinem Vorstellungsgespräch kommen würde. Dann kuschelte er sich wieder tief unter die Decke und zog sie bis zum Hals hoch.
Er hatte so viel Platz, seit Jenny nicht mehr da war. Doch auch daran hatte er sich schnell gewöhnt, auch wenn er ihr gleichmäßiges Atmen kurz vor dem Einschlafen vermisste und seinen Arm nicht um ihren wohlgeformten Körper legen konnte.
Der Gestank von kaltem Rauch lag ihm in der Nase, doch es störte ihn nicht weiter. Selten kam jemand zu Besuch, und so lange das so blieb, interessierte ihn das nicht.
Ratsch.
Was war das? Peter öffnete die Augen. Er kam zu dem Schluss, dass er sich das Geräusch im Halbschlaf nur eingebildet hatte. Umgehend driftete er wieder ab, zurück in seine Traumvorstellung, dass er durch ein Meer aus Wolken flog. Nach und nach verblasste das Bild vor seinem geistiegen Auge, sein Verstand-
Ratsch.
Wieder dieses Geräusch. Es hörte sich an wie Schleifpapier auf Holz.
Ratsch.
Kam es aus dem Flur? Direkt vor dem Schlafzimmer?
Ratsch.
Es kam näher. Peter schlug die Augen auf.
Ratsch, ratsch, ratsch.
Immer schneller wiederholte es sich und ehe er sich in seinem Bett aufsetzen konnte – ratschratschratsch – stand eine Gestalt in einem biologischen Schutzanzug aus PVC-Material vor seinem Bett und hielt eine fast lächerlich große Spritze in der behandschuhten Hand. Das Gesicht von einer Gasmaske bedeckt und ein Schulterhalfter, in dem eine Pistole steckte, um die Schulter gelegt.
Das Letzte, das Peter sah, waren die dunklen, dicken Tränensäcke unter der Maske, bevor ihm die überdimensionalisierte Spritze in die Halsschlagader gerammt wurde und die Welt vor seinen Augen verschwamm.
8
Er war nicht mehr in der Lage zu sprechen. Die Schmerzen waren der Taubheit gewichen. Er spürte nichts mehr.
Wie lange hatte er auf dem Boden gelegen und war ohnmächtig gewesen? Er wusste es nicht.
Speichel lief ihm seitlich aus dem Mundwinkel, doch er war zu schwach, um ihn wegzuwischen. Seine Hände ließen sich nicht heben, seine Beine hatten ihm den Dienst versagt, selbst sein Gehirn schien sich größtenteils verabschiedet zu haben, denn so sehr er sich auch anstrengte, er konnte sich nicht mehr an Jennys Gesicht erinnern. Nicht mehr an ihr Lachen. Nicht mehr an ihre Sommersprossen. Er wusste nich einmal mehr, welche Farbe ihre Augen hatten.
„Wissen Sie, wieso Sie hier sind?“, fragte die Stimme aus dem Lautsprecher.
Peter konnte nicht antworten, aber er wusste es immer noch nicht.
„Wissen Sie, wann Sie geboren wurden?“
Unter Aufbringung seiner letzten Kraftreserven schaffte er es unmerklich seinen Kopf zu schütteln. Doch der Linse der Kamera entging nichts.
„Sehr gut“, sagte die Stimme. „Wissen Sie, wann Sie geboren wurden?“
Er vernahm das leise Summen, als sich die Kameralinse verengte. Vielleich, um näher an ihn heran zu zoomen. Wer wusste das schon?
Wieder brachte er ein minimales Kopfschütteln zu Stande.
„Sehr gut.“ Es hörte sich zufrieden an. Abgehackt und monoton, künstlich und emotionslos, doch er konnte deutlich spüren, dass eine gewisse Zufriedenheit in diesen beiden Worten steckte.
Er ließ seine Augen geschlossen und lauschte seiner schwachen Atmung.
9
Peter konnte ein Zischen hören. Wie das Öffnen eines Gefäßes, das unter Druck steht, nur zehnmal lauter.
Seine Wimpern waren ineinander verklebt und es brauchte einen Augenblick, bis er sie öffnen konnte.
Die silber metallene Türe stand offen. Hinter ihr sah er eine weiße Wand.
Er vernahm ein metallisches Rasseln. Die Ketten des gehäuteten Mannes. Langsam hob er den Kopf einige Millimeter, um seinen Blick dem Geschehen zuzuwenden.
Da waren zwei Männer. Männer in weißen biologischen Schutzanzügen. Einer der beiden hatte ein Halfter um die Schulter gebunden, in dem eine Pistole steckte. Der andere hatte ein Stethoskop um den Hals gelegt.
Der mit der Pistole kam zu ihm herüber. Beugte sich über sein Gesicht. Peter konnte die dunklen, tiefen Tränensäcke unter der Atemschutzmaske erkennen.
„Der is' hinüber“, sagte der Mann mit tiefer, rauchiger Stimme gedämpft durch die Maske.
„Lass ihn liegen“, sagte der andere mit dem Stethoskop. „Hilf mir lieber.“
Der Mann mit der Pistole entfernte sich wieder von Peter. Er folgte ihm mit den Augen. Beide Schutzanzüge beugten sich über den an der Wand Gefesselten. Sie schienen die Eisenringe an seinen Hand- und Fußgelenken zu lösen. Dann halfen sie ihm beim Aufstehen.
Der gehäutete Mann war nicht mehr der gehäutete Mann. An seiner Stelle stand ein braunhaariger, junger Mann mit dunklen Augen zwischen den beiden Schutzanzügen.
Peter wollte um Hilfe rufen, doch es kam nichts weiter als ein stilles Hauchen aus seiner Kehle.
Der junge Mann mit dem braunen Haar drehte sich zu ihm um.
Entsetzt, erschrocken, aber vollkommen bewegungsunfähig, riss Peter die Augen auf. Er blickte in sein eigenes Gesicht. Die beiden Männer packten je einen Ellenbogen des Mannes, der aussah wie Peter und wollten ihn aus dem Raum führen, doch er blieb stehen und drehte sich nochmal zu Peter um.
„Danke“, sagte er. Und diese Stimme kannte Peter nur allzu gut, denn es war die Stimme, die er auf seine Mailbox gesprochen hatte, es war die Stimme, die Jenny nur allzu oft seine Liebe beteuert hatte, es war die Stimme, die ihm gestohlen wurde, mit der er nicht mehr um Hilfe bitten konnte.
Peter verließ den Raum, während er am Boden lag und seine Lebensenergie ihn weiter verließ.
Fleischfressende Bakterien, war der letzte Gedanke, bevor er endgültig seine Augen schloss.
Kapitel 8
Abschluss
Abschluss
Die beiden Männer in ihren weißen Schutzanzügen führten ihn durch lange Gänge. Immer wieder bogen sie links oder rechts ab. Es wimmelte nur so von Menschen in Schutzanzügen, die ihnen in den Gängen begegneten, doch keinen schien zu interessieren, dass hier gerade ein nackter Mann eskortiert wurde. Peter wusste nicht, was mit ihm geschah. Er wusste nicht, wieso er hier war oder wie er hier her gekommen war. Ihm war kalt. Immer noch schwirrte ihm das Bild im Kopf herum, wie er sich selbst durch einen weiß gefliesten Raum laufen sah und seine Arme und sein Gesicht zu zerfallen schienen.
Das Sprechen fiel ihm schwer. Es war anstrengend, einzelne Worte zu artikulieren, also ließ er es. Gegen zwei Männer – einer davon bewaffnet – hatte er sowieso keine Chance, deswegen wehrte er sich nicht gegen ihre Griffe, die hart um seine Arme gelegt wurden und ihn immer weiter durch die Gänge schoben.
Vor einer weißen Türe blieben sie stehen und der Mann mit der Pistole zog einen seiner PVC-Handschuhe aus, um seinen Daumen auf ein kleines Feld über dem Türgriff zu drücken. Ein leiser Piepston und sie sprang einen Spalt breit auf.
Er nahm einen kleinen Raum wahr. Rechts von ihm ein riesiger Spiegel, vor ihm ein Metalltisch und ein silberner Stuhl, auf den sie ihn setzten. Es wirkte wie ein Verhörzimmer aus einem Kriminalfilm.
Der Mann mit der Pistole nahm die Maske vom Gesicht. Graues Haar, tiefe, dunkle Tränensäcke unter den Augen und Falten. Er kam ihm bekannt vor. Woher kannte er ihn?
Peter wartete darauf, dass irgendjemand etwas sagte, doch niemand ergriff das Wort. Auch er würde nicht der erste sein. Er wollte auf keinen Fall Gefahr laufen, sich weinerlich anzuhören.
Auch der Mann mit dem Stethoskop zog die Maske vom Gesicht.
„Ist er schon da?“, fragte Dr. Gold.
Der Grauhaarige nickte.
„Sie auch?“
Wieder ein Nicken.
„Gut“, sagte Gold. „Dann hol die beiden rein und zeig ihnen, was wir hier haben.“
Der Mann mit den Tränensäcken verließ den Raum.
Ratsch, ratsch, ratsch.
„Wie geht es Ihnen, Peter?“, fragte Dr. Gold mit einem Lächeln im Gesicht.
Peter antwortete nicht. Er wollte wissen, was hier gespielt wurde, aber er ließ seinen Mund geschlossen.
Der Grauhaarige betrat wieder den Raum, gefolgt von zwei weiteren Personen.
Ein großgewachsener Mann mit strahlend weißen Zähnen, die durch seine zu einem Grinsen verzogenen Lippen lugten. Er trug einen perfekt maßgeschneiderten Anzug und eine goldene, glänzende Uhr hing locker an seinem Handgelenk. Sofort musste Peter an die Fesseln denken, die ihn in dieser verwahrlosten Waschküche festgehalten hatten.
„Dr. Gold“, sagte Richard Gronwich mit lauter, fester Stimme. „Sehr gute Arbeit! Kann ich Sie kurz unter vier Augen sprechen?“
Gold nickte und folgte ihm auf den Gang.
Peter richtete seine Aufmerksamkeit auf die zweite Person, die den Raum betreten hatte. Rötliches, sich wellendes Haar, Sommersprossen über dem Nasenrücken, dunkle, kastanienfarbene Augen. Jenny.
Sie hielt einen Stapel Bekleidung vor sich in den Händen, den sie vorsichtig auf den Tisch legte. Nun kam auch ihr Bauch zum Vorschein. Es sah aus, als hätte sie einen Medizinball unter ihrem T-Shirt versteckt. Sie war schwanger. Hochschwanger.
„Peter“, flüsterte sie einfühlsam. „Geht es dir gut?“
Er nickte und nahm sich die Jeans aus dem Wäschestapel vom Tisch. Aus dem Gang konnte er Satzfetzen vernehmen, die Dr. Gold und Richard Gronwich austauschten.
„Die Theorie... bewiesen, dass zwei Individuen... nicht zur selben Zeit“, sagte Gold. „Existenz... weiteres Naturgesetz erwiesen!“
Der Doktor schien sich ziemlich euphorisch zu freuen, wie er Richard Gronwich von seinen Erkenntnissen berichtete.
„Darf ich...“ Peter musste schlucken und nochmal von vorne anfangen. Seine Stimmbänder schienen eingerostet zu sein. „Darf ich wissen, was hier... gespielt wird?“
Jenny sah ihn unverwandt an. Lächelte. Peter zog sich das Shirt, das sie ihm mitgebracht hatte, über den Kopf und ging dann raus auf den Gang.
Freudestrahlend stand Dr. Gold vor Richard Gronwich, der sein zufriedenes Grinsen zur Schau stellte.
„Peter, Peter!“, sagte er. „Wie geht es-“
„Ich will sofort wissen, was hier gespielt wird“, unterbrach Peter ihn und blickte mit ernster Miene in die Runde. Hinter ihm stand Jenny und schien alles zu beobachten.
„Aber Peter“, erwiderte Richard. „Immer mit der Ruhe. Dr. Gold hat gerade ein Kunststück der Wissenschaft vollführt.“
„Kunststück?“, fragte er ungläubig.
„Peter, darf ich vorstellen?“ Dr. Gold packte ihn am Arm und zerrte ihn zurück in das Verhörzimmer. Er blickte in den Spiegel. „Darf ich vorstellen? Peter!“ Freudestrahlend deutete er auf Peter.
„Ich versteh nicht“, murmelte Peter.
Dr. Gold bewegte kreisend seine Hand, als suche er nach den richtigen Worten. „Wir haben heute zweierlei Dinge erreicht. Erstens, das war der Hauptpunkt, wir haben Sie aus dem Nichts erschaffen. Besser gesagt, wir haben Sie aus einigen Zellen Ihres ursprünglichen Ichs erschaffen. Haben Sie schonmal von dem Schaf Dolly gehört?“ Peter nickte knapp. „Gut. Ich gebe Ihnen die Kurzfassung. Also, aufgepasst! Genau wie Ian Wilmut haben wir Ihre DNA entnommen. Ging ganz einfach. Sie wissen sicher noch, dass Sie zu Besuch in meiner Praxis waren?“ Wieder ein kurzes Nicken von Peter. „Jedenfalls ließen wir den Teil mit den Eizellen, die wir hätten entkernen und durch Ihre DNA ersetzen müssen, weg. Den Blumentopf, wenn Sie so wollen, der metaphorisch für die entkernten Eizellen steht, haben wir einfach künstlich erzeugt. Ich will Sie nicht mit Details langweilen. Jedenfalls hat der Prozess des Wachsens ungleich weniger Zeit in Anspruch genommen als ein Baby, das zu einem Teenager heranwächst. Und das ist schonmal unglaublich, obwohl wir das ja schon bei Mäusen und Ratten sehen konnten. Das Interessanteste bei diesem ganzen Experiment war – oder besser gesagt ist - jedoch, dass wir jetzt hier nicht mit zweien von Ihrer Sorte stehen. Überlegen Sie sich mal, Sie könnten jetzt mit sich selbst über Ihre Probleme diskutieren. Also, das fände ich wirklich gruselig!“
„Soll das heißen, Sie haben ohne meine Erlaubnis ein Experiment an mir durchgeführt? Mich entführt und mir meine Freiheit genommen? Mein anderes Ich hat Qualen erlitten, soweit ich das beurteilen kann!“
Peter musste sich beherrschen, nicht die Fassung zu verlieren.
„Naja, bei der Sache mit der Entführung brauchen Sie mich nicht anzusehen...“, sagte Gold und hob unschuldig die Hände. „Aber es ist doch wohl interessant – und da werden Sie mir sicher zustimmen – dass zwei zu hundert Prozent identische Individuen nicht zur gleichen Zeit existieren können. Das bedeutet, wir haben ein neues Naturgesetz entdeckt!“ Peter ballte die Faust. „Es kommt selten vor, dass zwei Objekte in der Natur entstehen, die bis auf das letzte Molekühl und Atom-“
Er schlug zu. Unter seinen Knöcheln spürte er die brechenden Zähne und das Gefühl seiner Haut, die kraftvoll auf Fleisch trifft. Gold duckte sich mit blutender Nase nach hinten weg und war kurz davor zusammenzubrechen.
Richard Gronwich sah seinen blutenden Mitarbeiter mitleidig an. „Aber Peter...“
Wieder hob er die Faust. Diesmal nur um eine nonverbale Drohung auszusenden.
Der grauhaarige Mann mit den Tränensäcken hatte schon seine Hand auf die Pistole gelegt, aber Richard machte eine beschwichtigende Geste.
„Du weißt, dass dir niemand glauben wird, solltest du die Geschichte irgendwem erzählen“, sagte Richard und sah ihn ernst an. Dann wandte er sich an Jenny. „Bringst du ihn bitte nach draußen?“
Peter warf jedem im Raum einen wütenden Blick zu, verkniff sich aber jeglichen Kommentar. Wenn sie wollten, konnten sie ihn wahrscheinlich einfach verschwinden lassen. Im Prinzip hatten sie das ja bereits.
Jenny versuchte seine Hand zu halten, doch er zog energisch seine Finger zurück.
„Bring mich einfach raus“, sagte er mit wutunterdrückter Stimme.
Sie tat es. Er folgte ihr durch die weißen Gänge, vorbei an unendlich vielen Menschen in weißen Schutzanzügen. Nachdem sie mehrmals links oder rechts abgebogen waren, nahmen sie einen Aufzug, der sie ein Stockwerk höher brachte.
Sie stiegen aus und befanden sich in einer Einkaufspassage. Frauen und Männer mit Händen voller Einkaufstüten tummelten sich in einem einzigen Durcheinander. Vor einem Bekleidungsgeschäft sah er eine Frau, die versuchte ihr Kind zu stillen und gleichzeitig zu telefonieren. Doch niemand schien sich für Peter zu interessieren.
Er trat aus dem Fahrstuhl. Jenny bewegte sich nicht. Wieder fiel ihm ihr dicker Bauch auf. Wieso war sie schwanger? Wurde er Vater?
Sie sah seinen Blick und lächelte.
Dann schlossen sich die Aufzugtüren und Peter sah das Logo seiner ehemaligen Firma. Gronwich Inc.
Entschlossenen Schrittes marschierte er durch die endlos lange Einkaufspassage, die Augen stur geradeaus gerichtet. Er sah die riesigen Tore am Ende. Peter beschloss wieder zu kommen. Irgendwann.
Er trat hinaus in die kalte Abendluft und nahm einen salzigen Geruch wahr. Es roch nach Meer. Hinter ihm ragte der über achthundert Meter hohe Millenniumturm in die Höhe, dessen Spitze in der Wolkendecke verschwand.
Epilog
„David?“, fragte Vanessa durch den kleinen Empfänger in seinem Ohr. „Gehst du bitte in Versuchsraum 4C?“
Er betätigte mit dem Finger einen kleinen Knopf. „Wird gemacht, Boss.“
Vanessa war wirklich eine hübsche Braut. David fragte sich, ob er sich vielleicht an sie ranmachen könnte. Wohl eher nicht.
Er schnappte sich seinen Eimer und machte sich auf den Weg durch die endlosen Korridore. Überall waren sie unterwegs in ihren dämlichen Schutzanzügen. Vollidioten.
Er drückte seinen Daumen auf das Feld über dem Türgriff zu Raum 4C. Ein kurzes Piepsen und die Türe öffnete sich.
Er sah sich den Raum an. Links hingen Fesseln von der Wand, eine Blutlache direkt darunter und er wurde das Gefühl nicht los, dass er durch die Kamera beobachtet wurde.
Gegenüber am Boden war ein riesiger gelbbrauner Fleck und mitten drin lag ein graues, zerrissenes Sweatshirt und eine braune Cargohose.
Er würde einen zweiten Eimer Wasser brauchen.
ENDE