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Im Computer gefangen
„Und Du meinst wirklich, das funktioniert?“
Skeptisch betrachtete ich den Kopfhörer, den mir Conny vor die Nase hielt.
„Wenn ich´s Dir doch sage, Mann!“ Wieder hatte er dieses breite Grinsen im Gesicht, mit dem er mir schon seit einer Stunde seine „Erfindung“ schmackhaft machen wollte.
„Ich hab´ alles ganz genau durchkalkuliert! Glaub´ mir. Ich arbeite schließlich schon seit drei Monaten dran, und heute Morgen hat es nun endlich geklappt!“
Mein zweifelnder Blick ließ meinen besten Freund schneller sprechen.
„Jedenfalls glaube ich das. Es muss jetzt nur noch einer praktisch ausprobieren.“
„Soso“, sagte ich und und lehnte mich mit verschränkten Armen demonstrativ zurück.
„Und warum machst Du es nicht selbst? Gute Erfinder machen doch gerne Selbstversuche ...“ - Conny zog verständnislos die Augenbrauen hoch.
„Ersten bin ich kein ´guter´ Erfinder, sondern höchstens ein begabter Computer-Spezialist, der dank Deiner großzügigen Unterstützung eine tolle Entdeckung gemacht hat. Und zweitens: Einer muss schließlich auf dieser Seite bleiben und die Kontrolle von hier aus übernehmen. Das kann ich als Entwickler des Ganzen doch am besten, meinst Du nicht auch?“
Gut argumentiert. Nun denn. Die Sache war einfach zu interessant, um sie rundweg abzulehnen. „Also gut. Was soll ich tun?“
Conny und ich gingen hinunter in den Keller. So aufgeregt hatte ich ihn nicht mehr gesehen, seit ich ihn vor einem Vierteljahr bei mir aufgenommen hatte. Seine kleine IT-Firma war damals Pleite gegangen, seine Schulden waren ebenso riesig wie sein Selbstvertrauen klein gewesen. Ich selbst hatte da mehr Glück im Leben gehabt. Ein stolzer Lottogewinn vor acht Jahren hatte mein Junggesellenleben noch unabhängiger gemacht. Meinen Kumpels und Conny hatte ich etwas von Frührente wegen meines Rückenleidens und von einer kleinen Erbschaft des berühmten „Onkels aus Amerika“ erzählt. Sollte ja nicht zu sehr auffallen. Nur den üppig ausgestatteten Computer-Hobbyraum unten im Keller hatte ich mir geleistet. Computer aus allen möglichen Zeiten waren schon immer mein großes Hobby gewesen – und natürlich die dazu gehörigen Computerspiele.
Als Conny im Frühjahr fröstelnd vor mir stand, elend, abgerissen und um Hilfe bettelnd, nahm ich ihn gerne auf und quartierte ihn unten im Keller ein. Zwischen all den Rechnern war noch reichlich Platz für ein Klappbett, einen Schreibtisch und einen Kühlschrank. Mein alter Freund seit Grundschultagen war seit langer Zeit mal wieder einigermaßen glücklich. Zumal er als IT-Spezialist ganz in seinem Element war und den ganzen Tag dort unten an den neueren Geräten rumspielen und -basteln konnte, wie er wollte – meinen Segen hatte er. Ich vertraute ihm, und mein großer Hauptrechner stand sowieso oben im Arbeitszimmer. Einzige Bedingung: Er musste sich regelmäßig um einen neuen Job bemühen. Irgendwann wollte ich ja auch mal wieder für mich sein.
So lief das nun schon etliche Monate. Ich ging meinen Hobbys nach, Conny spielte drunten im Keller an Computern rum, zockte stundenlang irgendwelche Games, lötete hier und drückte da, und ab und zu schickte er Bewerbungen los. Bislang allerdings ohne viel Erfolg. Unser Leben verlief alles in allem in recht ruhigen Bahnen.
Bis heute Morgen, als er wie ein Verrückter die Treppe in mein Arbeitszimmer hinauf gerannt kam und mir etwas von einem „kolossalen Durchbruch“ erzählte. Endlich könne man Mensch und Machine perfekt miteinander verbinden, endlich würden Spiele REAL erlebbar. Endlich... ich verstand ehrlich gesagt zuerst nur Bahnhof. Und Conny wurde immer enthusiastischer: Hier, diesen Kopfhörer, der Strahlen direkt ins Gehirn sende, müsse man nur überziehen, eine Brille mit undurchsichtigen Gläsern – damit man von Außenreizen nicht abgelenkt wird - überstreifen, den „Kopfhörer“ (der eigentlich gar keiner war, sondern eine Art „Info-Injektor“) mit dem elektronischen Kernstück seiner Erfindung, die er in einem kleinen Kästchen untergebracht hatte, einstecken und dann die ganze Konstruktion mit einem beliebigen Computer verbinden. Dann ein ebenso beliebiges Spiel laden – und schon sei man mitten drin im Spielgeschehen.
„Es ist so ähnlich wie in ´Matrix´ oder wie im `Holodeck`“, erklärte Conny atemlos, „Nur noch viel besser! - Und Du bist der Erste, der es komplett ausprobieren darf.“
Irgendwann war ich dann überzeugt. Und nun gingen wir also runter in den Computerraum.
Conny hatte alles vorbereitet. Sein Bett hatte er zu einer bequemen Liege umfunktioniert - liegend würde man alles intensiver erleben, sagte Conny. Ich legte mich darauf, Conny zog mir die schwarze Brille und den Kopfhörer über. Es konnte losgehen. Eine Zeit lang hörte ich dumpf ein Klicken von der Außenwelt und ein leises Knistern im Kopfhörer. Conny musste irgendetwas da draußen anschließen und irgendwelche Knöpfe drücken. Ich selbst war rein optisch im Stockfnstern. Urplötzlich legte sich ein seltsamer Druck um meine Stirn, bunte Kreise begannen vor meinen Augen zu tanzen – und im nächsten Augenblick war ich drin.
Ich erkannte es sofort, es war „Hunter“ - ein etwas älteres Ego-Shooter mit noch immer ansprechender Grafik. Früher hatte ich das Game öfters mal durchgezockt, in letzter Zeit allerdings kaum noch. Spiele dieser Art sind sowieso nicht so mein Fall. Conny hatte es wohl der Grafik und der Bewegungsmöglichkeiten wegen ausgewählt.
Er hatte mir erklärt, wie ich mich in einem Spiel bewege. In diesem Fall hier musste man Zeigefinger und Zehen in einer bestimmten Weise krümmen, und schon ging man (wenn man es denn so nennen wollte) durch die Spielewelt, sammelte Waffen ein, zielte auf Mitspieler und löste andere Aktionen aus. Schon bald lief ich mit wachsender Begeisterung und mancher aufgefrischten Erinnerung durch die Gänge einer düsteren Stadt mit allerlei verwinkelten Gassen und versteckten Ecken.
Ich kletterte von der virtuellen Straße aus eine Leiter an der rechten Wand hoch, rannte über einen schmalen Steg rüber zu einer Fensterfront und sprang in das Haus dahinter. Im Gang desselben ging es geradeaus bis zu einer Abzweigung nach rechts in eine Art Zimmer hinein. Über das Fenster in der hinteren Ecke sprang ich auf eine Terrasse und duckte mich direkt dahinter sofort runter. Hier oben hatte man einen hervorragenden Ausblick auf die „Stadt“, aber man musste auch gut aufpassen, denn man war hier auch selbst ein gutes Ziel für Attacken. Aber ich war ja sowieso allein,. Außer mir war niemand hier. Conny hatte mir gesagt, ich solle fürs erste nur ein wenig „herumlaufen“, um das Gefühl und die verschiedenen Aussichten in der 3-D-Welt zu genießen. Das tat ich denn auch. Irgendwann vergaß ich fast, dass ich angeschlossen an einen Computer auf einem Bett in meinem eigenen Keller lag.
Es rauschte kurz und im selben Moment tauchte oben links in meinem Gesichtsfeld ein Sprachfeld auf. Conny hatte den Mehrspieler-Modus von „Hunter“ ausgewählt, damit er sich direkt über das Spiel mit mir in Verbindung setzen konnte. Ich hätte auch normal mit ihm, der nur ein paar Meter neben mir stand, reden können, und auch er hätte so Kontakt aufnehmen können. Aber so war es, wie Conny meinte, authentischer. Im „richtigen“ Spiel können so mehrere übers Internet verbundene Spieler miteinander kommunizieren. Für dieses Mal allerdings, so hatte er mir ja versichert, sei ich ganz allein. Besucher aus dem Internet seien unwahrscheinlich, und wenn, würde er sie schon verscheuchen. Er hatte dabei seltsam laut gelacht.
.
„Na, wie gefällt Dir das?“, las ich die Worte Connys. Er saß am Monitor und verfolgte mit Tastatur und Bildschirm das Geschehen. Mit reiner Gedankenkraft formulierte ich eine Antwort, die dann auch prompt wieder oben links unter der Frage als Entgegnung erschien – weiß der Kuckuck, wie Conny das gemacht hatte; allein das war eine phantastische Erfindung. „Phantastisch!“, dachte und schrieb ich denn auch glatt, und Conny las im selben Moment das Wort auf seinem Monitor neben dem Bett.
„Willst Du noch ein bisschen rumlaufen, oder sollen wirs gleich beenden?“
Was soll das denn jetzt heißen, dachte ich mir, und im selben Augenblick erschienen auch schon meine Gedanken auf dem Display oben links.
„Was soll das denn jetzt heißen?“
Ich musste wohl noch ein bisschen üben, bevor nicht jeder Gedanke gleich zu sehen war.
„Na, ich dachte, wir könnten jetzt mal zum ernsten Teil des Ganzen übergehen“.
Ich verstand immer noch nicht, und in dem Moment, als ich Ratlosigkeit signalisieren wollte, spürte ich, wie an meinem linken Unterarm eine Art Manschette angebracht wurde – es fühlte sich an, wie das Anlegen dieser „Armwickel“ beim Blutdruckmessen. Gleichzeitig erschienen in der Anzeige gleich drei Fragezeichen hintereinander – anscheinend konnte Connys System sogar Gefühle in Zeichen umsetzen.
„Jetzt, pass´ mal auf, du Kröte“.
„Was???“
Seine Worte in der Anzeige trafen mich wie Peitschenschläge.
„Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich hier irgendwelche billigen Spielchen mache.“ Pause.
„Ich weiß von Deinem Lottogewinn“.
Weiter: „Es war ein Leichtes, Deine Konten auszusionieren und weitere persönlichen Daten aus allen möglichen Quellen zu beziehen.“
„Wie konntest Du … warum …?“ Das waren jetzt meine eigenen Worte.
„Anfangs war ich echt nur verzweifelt“, meldete sich Conny wieder, ohne auf meine Entgegnung einzugehen. „Dann habe ich aus Langeweile von hier aus mal ein bisschen recherchiert. Irgendwann war mir klar, was dein Geheimnis ist. Und ich wollte ein Stück davon abhaben. Nach all dem Pech, das ich hatte. Und jetzt ist es so weit.“
„Und wie soll das jetzt gehen? Ich hatte mich einigermaßen gefasst, auch wenn ich in diesem Moment noch auf einer Terrasse aus Bits und Bytes hockte.
„Die Erfindung ist echt und funktioniert, wie du ja gerade merkst“, erklärte Conny im Wortfenster.
Ich wollte mich in diesem Augenblick bewegen und mich aus dem Bett aufrichten. Aber es ging nicht. Während des kurzen Gesprächs war ich unmerklich, weil ich nur wie gebannt auf Connys Worte gestarrt hatte, fest mit Plastikriemen ans Bett gefesselt worden. Aber die Manschette an meinem linken Arm - die hatte damit nichts zu tun, das spürte ich. Als könnte er meine Gedanken lesen – und vielleicht konnte er das ja auch irgendwie, wer weiß, was seine Erfindung noch so alles drauf hatte - ging er genau auf diese Sache ein.
„Wie du gemerkt hast, habe ich mir erlaubt, Dich ein bisschen zu fixieren. Das an Deinem linken Arm da, das ist eine Strom-Manschette, angeschlossen an die nächste Steckdose und verbunden mit der Lebensanzeige links unten in Deinem Sichtfenster. Wenn Dich jemand virtuell trifft oder du im Spiel aus großer Höhe runterfällst – dann gibt’s einen deftigen Schlag für Dich. Erst nur leicht, dann immer stärker. Dazu gibt’s immer Punkteabzug, und bei „null“ dann – bammmm! Exitus!“ Connys Redeschwall in dem kleinen Textfenster war schon beachtlich. Irgendwie schien da einiges aus ihm heraus zu brechen.
„Wer sollte mich denn treffen?“, fragte ich. „Ich bin doch allein hier im Spiel“.
„Nicht mehr lange“
„?“
„Ich gehe nämlich auch rein – ohne Strom-Manschette, natürlich“.
Ich glaubte, Connies höhnisches Gelächter durch den „Kopfhörer“ hindurch zu hören. Keine drei Sekunden später blitzte oben links die Statusanzeige auf: „Connie verbunden …...“. Er hatte sich wohl ebenfalls wenigsten einen „Kopfhörer“ (und wohl auch eine schwarze Brille) übergestülpt und war ins Spielgeschehen eingetaucht.
Angst kroch in mir hoch. Warum diese ganze Erfindungs-Show?
„Und was soll dieses Spielchen jetzt?“ fragte ich ihn deshalb über die Sprachleiste.
„Warum bringst du mich denn nicht gleich um?“
„Ich bin halt ein Spieler, das weißt du doch. Und ich will jetzt eben noch ein bisschen Spaß haben“.
„Du Wahnsinniger“, dachte ich, und wieder erschien es im Textfeld. Conny ging nicht darauf ein.
„Übrigens: Die Polizei wird an deiner Leiche einen tödlichen Stromschlag feststellen – ausgelöst durch ein defektes Stromkabel an deinem Toaster. Werde ich noch ein bisschen hinbiegen. Ich kenn´ mich ja mit so was aus. Hehe. Werd´ dich nachher mit Handschuhen nach oben in die Küche schleppen. Anstrengend, aber das ist es mir wert. Außerdem wird man ein Testament finden – frag´ nicht, wie ich das gemacht habe – es gibt einfach eins. Zu meinen Gunsten natürlich, deinem besten Freund.. Gut, dass Du keine Familie hast...“ Wieder hatte Conny ohne Pause drauflos geredet.
Ich war baff. Nicht nur über den enormen Redefluss jenes Mannes, den ich eigentlich eher als ruhig und zurückhaltend kannte. Auch sein Wesen überraschte mich. Wie konnte man sich nur so in einem Menschen täuschen? So viel kriminelle Energie hätte ich ihm nie zugetraut. Und auch, dass er ein ziemlich guter Computerspieler war, hatte ich bisher bestenfalls geahnt. Dass es tatsächlich so war, merkte ich in den folgenden Sekunden. Plötzlich stand er als Spielfigur nämlich neben mir auf der Spiel-Terrasee, auf der ich immer noch, mein „Gewehr“ im Anschlag, wie angewurzelt stand. Er hatte einen schwarz-roten Kampfanzug, seine Waffe war direkt auf mich gerichtet. Irgendwie hatte er mich auf diesem riesigen Spielgelände während seines Monologs gleichzeitig auch noch gefunden.
Er ballerte los. Pech für ihn: Meine alten „Reflexe“ waren noch da. Ich wich aus und ließ mich ein paar Meter weiter eine Etage tiefer auf einen Vorsprung fallen. Dabei verspürte ich einen leichten Stromschlag, der von meiner linken Hand den Arm hinaufging. Außerdem verringerte sich durch den Aufprall mein Gesundheits-Punktestand von 100 um ganze 30 Einheiten. Ich musste mehr aufpassen. Ich rannte weg.
Hinter mir hörte ich die Schritte meines Verfolgers.
Immer geradeaus jetzt. Nicht umsehen. Links in den Hauseingang. Rechts rum, links rum, wieder rechts herum, hinein in die „Waffenkammer“ und fünf Granaten aufgelesen. Zurück. Jetzt rechts die Treppe hoch. Links halten. Stehen bleiben. Umdrehen. Von hier aus konnte man Angreifer von unten gut im Auge behalten. Conny kam tatsächlich. Er feuerte eine Salve ab, aber sie traf mich nicht. Gleichzeitig schoss ich eine Granate auf seinen Avatar ab, die eine halbe Sekunde später in seiner unmittelbaren Nähe explodierte. Er stand immer noch da. Vermutlich hatte er einen „Cheat“ aktiviert, einen „Schummel-Modus“, durch den ihm feindliches Feuer nichts anhaben konnte.
Aber ich war verwundbar. Und deshalb: Es war aus. Ziemlich jedenfalls. Zumindest allein konnte ich das hier niemals schaffen. Wenn doch nur jemand zu Hilfe käme, verdammt. Früher waren immer mal Spieler aus dem Internet hierhergekommen, hatten sich für ein Spielchen kurz zusammengefunden und sind dann wieder ihrer Wege gegangen. Manche kannte man recht gut und schätzte sie auch durch ihre manchmal recht interessanten Gespräche während des Spiels.
Was sollten diese Gedanken jetzt nur? Ich lag gefesselt und ausgeliefert auf einem einem Bett im Keller einer norddeutschen Kleinstadt, virtuell, aber folgenreich gejagt von einem Irren, den ich zu kennen glaubte. Was sollte ich nur tun? Vielleicht ein bisschen Zeit gewinnen wenigstens.
Ich rannte die Treppe hoch und drückte mich oben an die Wand. Was Conny nicht wusste (hoffte ich jedenfalls): Da war ein so genannter „Bug“, ein Programmierfehler der Macher von „Hunter“. Wenn man es richtig anstellte, konnte man sich in Regionen des Spiels begeben, in die man normalerweise nie hinkam. Die Stelle ist von außen nicht sichtbar. Man war wie hinter einer Tür versteckt. Hier verschnaufte ich. Vor mir kam Connys Alter Ego die Treppe raufgestürmt, hielt kurz vor mir – und verschwand nach links in den Haupthang in diesem Teil des Spiels. Er hatte mich nicht gesehen! Der „Bug“ hatte mir vorläufig das Leben gerettet.
Plötzlich aber hörte ich Schritte neben mir. Verdammt! Hatte mich Conny etwa doch gefunden? Nein. Da war noch jemand anderes. Aber die Anzeige oben links vor meinem Gesichtsfeld zeigte nichts an außer Conny und mir. „Bleib ganz ruhig“, erschien eine Schrift im Anzeigenfeld darunter. „Nicht umdrehen. Keine Geräusche machen. Ich bins, Parisda“. Ne, das gibt es doch gar nicht. Wenn ich diese Geschichte jemals jemandem erzählen sollte, wird mir das keiner glauben. „Parisda“, der Spieler, der sich gerne nach europäischen Hauptstädten benannte, mal „Romda“ hieß, mal „Berlinda“ oder eben „Parisda“ – er sollte hier sein? Mit ihm hatte ich so manches Mal über das reine Spiel hinaus diskutiert. Ein netter Kerl. Und ein guter Spieler. „Hilfe“, dachte ich nur aus einem Hoffnungsschimmer heraus, und die Worte erschienen sofort im Display. „Ruf Du ruhig. Du wirst Hilfe nötig haben, hehe“- Das war Conny. Offensichtlich konnte er „Parisdas“ Anmerkung nicht lesen. Ich war wie erstarrt und drehte mich auch tatsächlich nicht um. Nicht auszudenken, wenn ich mich durch irgendwelche Geräusche doch noch verraten würde. „Pass jetzt mal auf!“ kam wieder die Anmerkung von schräg hinter mir.
„Dein böser Kollege da draußen hat nicht mitgekriegt, dass da noch einer ist. Ich kam gerade auf die Idee, mal wieder „Hunter“ zu spielen. In der Server-Liste sah ich, das da einer aufgemacht war, den ich noch nie gesehen hatte, Deinen nämlich. Ich hab mich erstmal ohne Namen unter „Tarnkappe“ eingeschleust – wollte mal sehen, was so los ist. Ich hab´ keine Ahnung, was hier vor sich geht, aber ich bin nicht blöd. Hab´ doch einiges mitbekommen, was der Irre da vorhat. Keine Ahnung, wie das geht und warum. Aber ich werd´ Dir helfen. Lass´ mich mal machen. Und: denk´ nichts. Sonst kann Dein Freund da was mitkriegen.
„Mann, das gibt’s doch gar nicht!“, dachte ich trotzdem, und die Worte erschienen natürlich sofort in der Anzeige. - „Doch, das gibt’s, und wenn ich Dich gleich gefunden hab, bist du platt. Und wie das gehen wird. Warts ab...“ Klar – wieder Conny.
Langsam fasste ich mich wieder und ebenso langsam drehte ich mich dann doch nach links um, und da sah ich ihn: „Parisda“ in seinem roten Outfit. Er sprang kurz auf und ab als Zeichen des Erkennens.
„Mit offenem Kampf ist dem Typ nicht beizukommen“, meinte „Parisda“. „Ich werde versuchen, ihm anders eins auszuwischen.. Schon mal was von Killerpoke gehört?“
Ich nickte, ohne explizit etwas zu denken. Angeblich gab es bei frühen Computermodellen einen Software-Befehl, mit dem man Hardware-Defekte auslösen konnte. Wahrscheinlich war das aber eine moderne Legende.
„Ich hab´ einen für dieses Spiel entdeckt!“
„Wo?“
Der Gedanke war mir so "rausgerutscht" und erschien natürlich sofort wieder im oberen Display. „Das frag´ ich mich auch grade. Aber ich finde Dich schon!“, antwortete Conny, dessen Spielfigurr inzwischen wieder irgendwo draußen herumrannte.
“Denk mal nicht so viel“, meinte „Parisda“. „Es gibt genau hinter mir eine Stelle, von wo aus man bestimmte Stromflüsse per Software umleiten kann. Wer direkt an der Schaltstelle steht, hat nichts zu befürchten. Außenstehende allerdings kriegen ihr Fett weg“.
Ich konnte „Parisda“ geradezu grinsen sehen, auch wenn das bei dieser Spielfigur gar nicht möglich war. Er drehte sich um. Mitten im Bug war eine kleine Vertiefung im virtuellem Mauerwerk. Daraus hingen zwei Kabel heraus; .die beiden Enden berührten sich nicht.
„Wenn ich diese beiden Drähte zusammenführe, wird jeder Spieler außerhalb eines Radius von zwei Metern in diesem Spiel außer Gefecht gesetzt.
„Ich mache das jetzt. Komm ganz nah heran.“
„Parisda“ fuhr mit seiner Pixelwaffe über die Stelle. Es funkte sogar, und von irgendwo draußen ertönte ein lang gezogener Schrei. „Hehe“, quittierte „Parisda“ die Aktion.
„Das wars jetzt wohl.“. Er drehte sich wieder zu mir um.
„Durch die Aktivierung des Cheats habe ich den Strom im Spiel und in allen angeschlossenen Peripherie-Geräten - wie etwa seltsamen Kopfhörern zum Beispiel – umgekehrt. Das wirkt interessanterweise nicht bei Beteiligten im Spiel in unmittelbarer Nähe des Auslösers.“, erklärte er mir seine Aktion.
„Dir selbst kann jetzt nichts mehr passieren. Aber Deinen Freund da draußen hats umgehauen. Über sein Kopfhörer-Dings bekam er einen derben Stromschlag verpasst – auch ohne im Spiel getroffen worden zu sein. Er dürfte jetzt ziemlich benommen neben Deinem Bett liegen“.
Ich atmete auf.
„Ach, ja“, sagte „Parisda“. Du bist ja immer noch gefesselt und kannst nichts sehen und hören. Gib mir doch mal deine Adresse. Ich ruf mal eben die Polizei bei euch an. Die kann dann da mal ordentlich aufräumen."
„Und wenn Du willst“, setzte ich noch einen letzten Gedanken dazu, und der durfte nun gern in der Textzeile oben erscheinen, „spielen wir heute Abend noch mal gepflegt `Hunter´. Aber dann ganz normal bitte...“