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Im Bunker

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06.02.2002
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Im Bunker

Nein. Das kann ja wohl das Haus nicht sein.
Da lebt doch niemand mehr.

Theo hält auf dem schlammigen Parkplatz direkt neben dem Haus Nummer 12.
„Das ist ja wie in ´nem schlechten Film - bist du sicher, dass wir hier richtig sind?“ fragt er, und man sieht ihm an, dass er wie ich denkt.
Ich schaue noch einmal nach, aber es ist tatsächlich die Adresse, die wir auf unserer Liste stehen haben; wir bleiben noch einen Moment im Wagen sitzen und betrachteten schweigend die trüben Tücher hinter den stumpfen Fenstern, den Putz, den die Zeit gierig zerfressen hat und den verrottenden Sperrmüll, der wie selbstverständlich dazuzugehören scheint.

Wie im Film. Ist das Realität?

Wir waren beide Anfang zwanzig, hatten also längst das naive Glück unserer deutsch-mittelständischen Kindheit gegen jene unaufhaltsame Erkenntnis getauscht, dass auch die heilige Weihnacht, realistisch gesehen, für die Marktwirtschaft so etwas war wie Santa Claus für Coca-Cola.
Die Jugend oder sonst etwas drängte uns, dieses Jahr etwas ( auch wenn wir dieses staubige Wort nie verwendet hätten ) christlichen Gedanken hochzuhalten.
Das Fernsehen hatte uns schon hundert- wenn nicht tausendfach real existierendes Elend entgegen geschleudert, und die hastigen Bilder der bemitleidenswerten afrikanischen Hungerkinder mit den spektakulären Blähbäuchen und den Fliegen im Gesicht hatten uns zwar nicht mitfühlender gemacht – unser schlechtes Gewissen jedoch reichte immerhin aus, um uns dieses Jahr mit wohltätigen Paketen bewaffnet in den Dienst eines helfenden Vereines und den Armen unserer eigenen Stadt entgegen zu stellen.

Das war also die Realität. Das ist also auch deine Stadt.

Wir versichern uns davon, dass das Auto verschlossen, unser Schutzengel bereit und die Gelegenheit günstig ist. Unter Theos Armen klemmt ein Paket, welch jämmerliche Waffe. Die Haustür ist verschlossen. Die Hausnummer, bei näherem Hinsehen, mit Kugelschreiber auf die Wand gemalt.

Man erwartet wohl keinen Besuch – was ist das nur für ein...

Gestank wabt zäh an uns heran. Durch die geschlossene Tür dringt mühelos und behäbig der widerliche Geruch, den ich wohl schon beim bloßen Anblick dieser Ruine erwartet habe. Urin und Moder, ranzig und süß.

„Sind wir hier bei der ´Versteckten Kamera´?“, überspielt Theo unsere Ratlosigkeit. „Das kann doch unmöglich die Adresse sein...?“
Interessiert hängen die Köpfe der Nachbarn aus dem Fenster gegenüber. Sie beobachten, was passiert. Ich beobachte, was passiert. Theo reißt die Initiative an sich. Ja, antwortet ihm eine junge, hübsche Frau mit schwerem, exotischen Akzent, da –„wir nennen das hier den Bunker“-wohne noch wer.

Warum überrascht es mich eigentlich, hier so etwas wie Schönheit vorzufinden?

Wir sollen den kleinen Weg hinter das Haus nehmen. Das Fenster mit so grünen Vorhängen und ´nem Gockel. Dagegen sollen wir Steinchen schmeißen.
„Danke, frohe Weihnachten.“

Der kleine Pfad hinter das Haus ist abschüssig und schlammig. Ich bin froh darüber, meine Kampfstiefel zu tragen. Das Fenster schnell gefunden: der Vorhang im Plastgrün der Siebziger, der Gockel aus Stroh.
Ich sammle kleine Kiesel aus dem Matsch, nur perlengroße, da ich Angst um die Fensterscheibe habe.

„Wie im Heimatfilm“, bemerkt Theo, mit dem Paketen hinter mir stehend.
„Nur dass ich hier niemanden Fenstern möchte,“ witzle ich zurück und hinterlasse kleine erdbraune Flecken auf dem trüben Glas.

Niemand hört uns. Aufgeben? Einfach wieder fahren?

Schließlich finden wir einen Eingang. Die Kellertür steht offen, nein, sie fehlt sogar; ein stimmig-dunkles Loch, der Rest des Wintertages beleuchtet noch die Betontreppe, die wohl in den Flur führen wird.

Als ich Theo wieder dicht hinter mir weiß, wage ich mich hinein. Der faulige Odem abgelegener Bahnhofsunterführungen begrüßt uns auch hier. Ansonsten begrüßen uns gähnende Leere, einige wie vergessen herumstehende Waschmaschinen und das Gefühl, nicht hier hin zu gehören, als wir uns, darauf gefasst, angefallen zu werden, weiter in das tote Haus vorarbeiten.

So muss es sein, wenn Zivilisation zerfällt, denke ich und finde den Gedanken reizvoll. Am Geländer nagt der Rost. Theo fängt an zu rufen: „Hallooo?“ „Ist da wer?“ „Wir sind von der Weihnachts...“

Da! „...hier sind Fußspuren,“ unterbreche ich sein Gerufe erleichtert. Ein wenig Wasser glänzt auf dem schmutzigen Beton.

Das Licht funktioniert nicht. Wir halten uns im milchigen Halbdunkel und erwarten fast, wie im Film aus den dunklen Fluren und Ecken angefallen zu werden.
Die Türen tragen keine Namen. Wir klopfen einfach irgendwo. Die braune Farbe platzt bereits an einigen Stellen von der massiven Metalltür.
Der hat sich verbarrikadiert, denke ich.

„Hier kannst du sterben, und keiner merkt ´s,“ stellt Theo fest.
Ich stimme ihm zu und stelle fest, dass mich diesbezügliche Zeitungsnotizen nicht länger in ungläubiges Staunen versetzen werden.

Es dauert eine Weile, bis Lebenszeichen erklingen. Theo ruft wieder etwas von Hallo und Weihnachtsaktion. Die Tür wird langsam geöffnet.

Der sieht doch noch ganz menschlich aus.

Wir wünschen freundlich frohes Fest und kommen uns verlogen vor. Ob hier der Herr Milde...?
„Nein, der wohnt eins drunter,“ lächelt der Mann. In seinen Augen blitzt es - süffisant?
„Was ist denn da so alles drin?“, fragt er mit Blick auf das Paket.
„Och, lauter lecker Sachen. `n Christstollen, Kaffee, was Süßes und so, ein Weihnachtskärtchen...“
Ich komme mir dumm vor. Seit letztem Jahr kein Fläschchen Wein mehr drin, hatte die Frau, von der wir Pakete und Adressenliste bekamen, gemeint. „So wegen der Klientel.“

„Habt ihr denn keines für mich dabei?“
Theo hält es vor seinem Bauch.
„Nein, Sie stehen dieses Jahr nicht auf der Liste. Können Sie uns vielleicht eben zeigen, wo der Herr Milde wohnt?“
Ungläubigkeit.
Der ist so überrascht, dass er mitkommen soll, als wenn wir ihm nach ´nem Hunni gefragt hätten.
„Ganz einfach unten drunter, da wo keine Tür ist, rein, die letzte links. Weiß aber nicht ob der da ist.“

Die Treppe hinab, dort, wo keine Tür ist, die letzte links. Ich klopfe an die Tür, doch nichts passiert. Neben mir, auf der Fensterbank, verrotten Kindersportschuhe.
Niemand öffnet. Schließlich nehmen wir das Paket wieder mit. Eigentlich sollten wir es später noch einmal versuchen, aber bald wird es dunkel. Wir werden morgen wiederkommen, zu zweit natürlich. Damit die Liste stimmt.

 

Hallo Paranova,

am Anfang sind da schon einige typische Szenen, von Weihnachten angeregte Hilfsbereitschaft, das Erstaunen über die Armut in der eigenen Stadt. Doch dann wird man immer mehr mit in den Bunker hineingezogen, in diese andere Welt, man muß die Armut sehen, den Dreck riechen...
Der Schluß ist faszinierend, die Beiden schwanken zwischen Pflichtgefühl und der Erleichterung, die das Gehen hervorruft ( dies deutet sich schon bei „Aufgeben?“ an).
Schön ist auch das Klischee mit dem „verrottenden Sperrmüll“, er bereitet den Kontrast zu dem Nicht- Klischee „warum überrascht es mich eigentlich, hier so etwas wie Schönheit vorzufinden?“.

Alles Gute,

tschüß... Woltochinon

 

Frohes Fest, Woltochinon!
Da mir früher ein paarmal vorgeworfen wurde, klischeehaft zu schreiben - Gott bewahre mich davor - muss ich mich natürlich auch diesesmal verteidigen:
Das Klischee mit dem "verrottendem Speermüll" entbehrt in dieser Geschichte nicht einem realem Hintergrund. Denn es ist, dramaturgisch behutsam verändert, ein schlichter Bericht aus Paranovas Plettenberg, ein Erlebnis, welches mir am 23.Dezember widerfuhr.
Die Schilderung des "Bunkers" ist detailgetreu. Schon vor dem Gebäude türmen sich kaputte Möbel, sogar ein Bett. Der Speermüll ist in diesem Sinne kein Klischee, sondern "real existierendes Elend".
Viele Grüße,
para

 

Hallo Paranova,

wirklich interessanter Weihnachtsbesuch, zu dem du deine Leser mitnimmst. Klingt alles sehr echt, sehr wirklichkeitsnah. Ich konnte mir Theo und den Erzähler in seinen Kampfstiefeln richtig vorstellen. Gerade die winzigen Details wie die Stiefel machen es. Von solchen Listen habe ich in meiner Stadt nie etwas gehört, dafür gibt es noch bis zum 6.1. ein "Restaurant des Herzens". Können sich die Paketempfänger selbst auf die Liste setzen lassen oder wer entscheidet darüber? Eine Aktion von Caritas oder Rotem Kreuz oder von wem?

Das Ende hat mich etwas enttäuscht, obwohl es paßt.
Wüßte aber nicht, was ich anders machen würde.

Petra
:xmas:

 

Hallo Paranova,

damit ein eventuelles Mißverständnis ausgeschlossen ist: Das Klischee finde ich passend, Du bleibst ja auch nicht bei Klischees stecken.Außerdem ist "real existierendes Elend" so wie es ist.

Liebe Grüße,

tschüß... Woltochinon

 

Hallo Petra,
diese Paketaktionen gehen auf eine mehrhundertjährige Tradition in meiner Stadt zurück. Da aber wahrscheinlich niemand den Plettenberger Weihnachtschor kennt ( schämt euch! ) habe ich versucht, die Organisation in der Story allgemeiner zu halten.
Wie die Listen erstellt werden? Nun, einerseits werden Leute bei der Plettenberger Tafel ( Speisung aus Restware von Supermärkten, grob gesagt )
gefragt, andererseits z.B. von Nachbarn vorgeschlagen.
Neben materieller Armut kann auch Vereinsamung, z.B. von alleinstehenden alten Leuten, Grund sein, ein Paket zu bekommen ( und damit ein wenig Besuch zu haben ).

Moin Woltochinon,
alles klar. So können wir´s stehen lassen ;)

Viele Grüße,
para

 

Hallo Paranova!

Deine Geschichte ist bestimmt nicht schlecht - aber ehrlich gesagt hat sie mich etwas enttäuscht.
Ich war sehr neugierig, worauf der Besuch der beiden hinauslaufen wird und was da noch kommt; und dann sind die beiden einfach wieder gegangen und die Geschichte war zu Ende.

Betrachtet man die Story aus gesellschaftlichen Gesichtspunkten und bedenkt man, dass sie auf einen realen Hintergrund basiert, ist sie sicherlich gut geworden. Doch da ich den Text mit anderen Erwartungen gelesen habe (dachte trotz der gewählten Rubrik mehr in Richtung Horror), hat mir der Schluss eben wenig zugesagt.
"Illegal" gefiel mir jedenfalls besser.

Trotzdem hast du die Geschichte sprachlich wieder sehr lebendig geschrieben und man konnte sich den "Bunker" gut vorstellen. Allein deshalb ist die Story schon mal lesenswert.

Ein paar Anmerkungen noch:

Das ist ja wie in ´nem schlechten Film - bist du sicher das wir hier richtig sind
dass
„Nur das ich hier niemanden Fenstern möchte
dass
und das Gefühl, nicht hier hin zugehören
zu gehören
Nein, sie stehen dieses Jahr nicht auf der Liste. Können sie uns vielleicht eben zeigen, wo der Herr Milde wohnt?“
Sie

Viele Grüße,
Michael :)

 

Hi Para...

Lebendig und doch beklemmend, weil so real...
Ein paar Fehler hat das Fehlerteufelchen noch hinterlassen, aber die findest Du noch, gelle???
Lord

 

Hallo Lord,

Ein paar Fehler hat das Fehlerteufelchen noch hinterlassen, aber die findest Du noch, gelle???


:D Ich nicht... Michael! :D


Grüß dich, Michael!
Oh, jetzt steht es plötzlich 2:1 dafür, dass das Ende nicht so toll ist... Petdays brachte es meiner Meinung nach auf den Punkt:

Das Ende hat mich etwas enttäuscht, obwohl es paßt.
Wüßte aber nicht, was ich anders machen würde.
Danke für die Korrekturen, wurden bereits umgesetzt.
Viele Grüße,
Steffen

PS:

"Illegal" gefiel mir jedenfalls besser.
Wenn du willst, schick ich dir mal die Fortsetzung als .Doc -Datei. Meld dich einfach.

 

Wenn du willst, schick ich dir mal die Fortsetzung als .Doc -Datei
Kannst du gerne machen. Postest du sie hier bei kg.de auch noch?

Grüße - Michael :)

 

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