Mitglied
- Beitritt
- 27.03.2019
- Beiträge
- 12
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 7
- Anmerkungen zum Text
In einer Welt, in der Bäume plötzlich sprechen und sich wie Tiere fortbewegen können, wird ausgerechnet die kleine, naturliebende Inéz dazu auserwählt, ihnen mit ihren neuen Fähigkeiten zu helfen. Doch mit Schrecken muss sie feststellen, dass die Bäume den Menschen sehr viel ähnlicher sind, als es äußerlich den Anschein macht: Verrat und Blutrunst überschatten die sonst so friedlich-stillen Wesen.
Im Bann des Zweitausend-Jährigen
Im Bann des Zweitausend-Jährigen
[2. Korrektur]
Ein lauer Wind wehte durch die Dunkelheit des düsteren Buchenwaldes. Die friedliche Ruhe wurde von einem lauten Rauschen und knackenden Zweigen unterbrochen, wodurch ein paar schlafende Tauben aufschreckten und das Weite suchten. Als ein Paar Schuhe in eine Schlammpfütze trat, ertönte ein Klatschen. Ein kleines Mädchen rannte panisch durch die Finsternis und kämpfte sich durch das dichte Gestrüpp. In seinem verdreckten Kleid verfingen sich zahlreiche Zweige, während es sich hektisch durch das stachlige Geäst eines Brombeerstrauchs kämpfte. Dornen zerkratzten ihm die dünnen Unterarme. In ihren schreckgeweiteten Augen blitzte das kalte Mondlicht.
Hinter dem Mädchen stampften zwei riesige Gestalten mit großen Schritten durch den Wald. Ihre verholzten, langen Körper schimmerten weiß im fahlen Licht.
Verzweifelte Schreie des Mädchens nach seiner Mutter schallten durch den ganzen Wald. An den Dornen der Brombeersträuche tropfte ihr Blut in den Waldboden und färbte weiche Mooskissen in dunkles Rot.
“Inéz, komm sofort wieder her!”
Das kleine Mädchen ließ die Augen nicht von dem Paar blau schimmernder Flügel, dass heiter vor ihr her flatterte. Sie musste sie einfach in ihren Händen halten. Übermütig hüpfte Inéz dem Schmetterling hinterher, ohne auf die Rufe ihrer Mutter zu hören. Sie war so dicht davor das Tier in den Händen zu halten. Als sie wieder sprang und nach dem Insekt griff stolperte sie und fiel.
“Inéz!”
Das Mädchen rappelte sich benommen wieder auf und schüttelte sich. Der blaue Schmetterling war verschwunden. Stattdessen hockte ihre Mutter vor ihr mit strengen Blick.
“Schau dich nur an! Dein Kleid ist vollkommen verdreckt!”
Inéz schwieg nur. Sie hätte den Schmetterling diesmal fast gehabt.
In den letzten Wochen war ihr dieses Insekt ständig begegnet. Immer wieder hatte sie von ihm geträumt und jedes Mal führte es sie tief in den Wald. Jedoch wurde sie bisher immer unterbrochen, bevor sie ihm bis zu irgendein Ziel hätte folgen können, wie auch immer dieses aussehen mochte. Wo wollte es sie nur hinbringen?
“Komm jetzt!”
Seit der Scheidung ihrer Eltern lebten Inéz und ihr großer Bruder allein mit ihrer Mutter zusammen. Diese war in das Haus von Inéz’ Großeltern gezogen, da es dem Großvater sehr schlecht ging. Doch nur wenige Monate nach dem Umzug waren beide Großeltern bei einem Autounfall auf dem Weg zum Krankenhaus verstorben. Nun bewohnten sie zu dritt das große Haus, welches einsam am Waldrand stand.
Ihre Mutter zerrte sie aus dem Wäldchen, in das sie gelaufen war, zurück zu ihrem Auto und öffnete den Kofferraum.
“Hilf mir die Einkäufe ins Haus zu tragen. Und hol deinen Bruder!”
Hastig griff Inéz eine Tüte mit Flaschen und zerrte diese aus dem Auto.
“Nicht diese Tüte! Die ist doch viel zu schwer.”
Inéz Mutter nahm ihr die Tüte aus der Hand und gab ihr statt desse eine kleinere. Sie blickte ihre Tochter belustigt an.
“Übernimm dich nicht immer so.”
“Unterschätz mich nicht immer so”, gab Inéz frech zurück.
Ihre Mutter lachte und gab ihr einen sanften Schubs.
“Los jetzt.”
Inéz schaute zurück und blickte auf ihre Verfolger. Diese kamen immer näher. Während das Mädchen rannte, brannte ihre Brust vor Schmerz und sie schnappte verzweifelt nach Luft. Der Wald sah überall gleich aus. Wie sollte sie nur ihr Zuhause finden?
Auf einer Lichtung blieb sie schnaufend stehen und rang nach Luft. Ihre Verfolger durchbrachen den Waldrand und umzingelten sie. Ihre unmenschlichen Körper warfen große Schatten im klaren Mondlicht und hüllten Inéz in völlige Dunkelheit.
Nun konnte das Mädchen die Gestalten etwas klarer erkennen. Vor Schreck erstarrt musterte sie die riesigen Körper.
Sie waren beide mindestens zehn Meter hoch, wobei einer von beiden etwas kleiner zu sein schien. Damit waren sie fast so groß wie die meisten, die Lichtung umgebenden Buchen. Doch nicht nur die Größe hatten sie mit den Bäumen gemeinsam. Ihre gesamte Erscheinung glich der von Birken.
Ihre schmalen Stämme waren erst ab einer beträchtlichen Höhe verzweigt, wie auch bei gewöhnlichen Waldbäumen üblich. Die Kronen waren schmal und zierlich, die Blätter waren verhältnismäßig rar. Nach unten hin endete der Stamm in einem mächtigen Wurzelwerk, welches fast komplett freigelegt war.
Während die Bäume langsam Inéz umkreisten, rissen sie einige Wurzeln aus dem Boden und rammten sie einige Meter entfernt wieder in die Erde. Langsam zogen sie sich vorwärts. Die Bewegungsart erinnerte Inéz an die der Oktopoden, die sie noch vor wenigen Tagen fasziniert im Tierpark beobachtet hatte. Dabei war das sonst so starre Holz ungewöhnlich elastisch.
“Jetzt beruhig dich doch endlich!”
Eine krächzende Stimme kam vom größeren der Bäume. Vergeblich suchte Inéz nach einem Mund oder Augen in der fleckig weißen Borke.
“Bleib einfach… stehen.”
Die Stimme hörte sich ziemlich außer Atem an.
“Wenn dieses Ding uns noch einmal entwischt, werde ich es zerfetzen!”
Die Stimme des kleineren Baums hörte sich deutlich höher an.
“Halt die Klappe! Du erschreckst sie nur!”
Die größere Birke versetzte der Kleineren einen Schlag mit einem Ast.
“Autsch! Ich scheuere dir eine, wenn du das nochmal machst!”
“Willst du mir drohen? Vergiss nicht, dass ich der Größere bin!”
Die Bäume näherten sich und reckten sich in die Höhe.
Inéz zögerte kurz, musterte die streitenden Bäume, dann begann sie wieder zum Waldrand zu rennen. Doch bevor sie diesen erreichte spürte sie wie sich etwas fest um ihre Hüfte schlang und ihr den Boden unter den Füßen raubte. Die größere der Birken hatte einen Ast nach unten schnellen lassen und ihn wie ein Tentakel um das Mädchen gewickelt. Zappelnd wurde Inéz in schwindelerregende Höhe gehoben, bis der Ast auf Kronenhöhe stehen blieb. Verzweifelt wandte sie sich und versuchte den Ast von sich zu drücken, doch erfolglos.
“Lass es, Kleine, das ist zwecklos.”
“Was wollt ihr von mir?”
“Pass gut auf deine kleine Schwester auf!”
Inéz hockte auf der Treppe und lugte hinter dem Geländer versteckt hinunter in den Flur. Die Haustür stand offen. Inéz’ Mutter stand in ihrer brauen Lederjacke mit einem purpurroten Regenschirm in der Hand im Eingang. Aus der Jacke ragte ein grünes Kleid heraus, außerdem hatte sie sich geschminkt.
“Na klar, wie immer! Mach dir einen schönen Abend”
Irritiert beobachtete Inéz wie ihr Bruder seiner Mutter zuzwinkerte.
“Danke Juan. Aber denk dran das deine Schwester um spätestens 22 Uhr 30 im Bett ist. Und Fernsehen nur bis zehn, ja?”
“Na klar.”
Juan grinste seine Mutter an.
“Wann stellst du ihn uns vor?”
Seine Mutter kratzte sich verlegen am Kopf.
“Wenn’s soweit ist.”
Neugierig stand Inéz auf und lief die Treppe runter. Was hatte das alles zu bedeuten? Wen vorstellen?
“Wo willst du hin, Mama?”
“Nur ins Kino, keine Sorge. Mama ist Morgen früh wieder da.”
Inéz’ Mutter strich ihrer Tochter liebevoll durch die lockigen Haare.
“Ich will mitkommen!”
Juan drehte sich zu seiner Schwester um.
“Das ist kein Film für dich.”
“Außerdem ist es viel zu spät dafür. Du musst bald ins Bett”, warf Inéz’ Mutter ein.
Enttäuscht ließ das Mädchen den Kopf sinken.
“Ich durfte schon beim letzten mal nicht mitkommen!”
“Das nächste Mal bestimmt”, sagte Juan mit beruhigender Stimme. “Mama möchte sich mit jemanden treffen.”
“Schon wieder? Aber mit wem? Und warum?”
“Damit sie nicht mehr so allein ist.”
“Aber sie hat doch uns!”
Inéz Mutter umarmte ihre Tochter.
“Das wirst du verstehen, wenn du älter bist.”
“Wo schleppt ihr mich hin?”
Inéz versuchte sich vergeblich von dem Ast zu befreien, während sie die Birken durch den Wald trugen. Dabei wühlten sie die Erde hinter sich auf und hinterließen tiefe Spuren im Boden
Der kleinere der Bäume beugte sich zur Krone des größeren, in der das Mädchen gefangen war.
“Du bist unser Abendmahl! In deinem Körper steckt jede Menge frischer Stickstoff, welchen wir, seit dem wir diese Superkräfte haben, nun selber aus der organischen Materie gewinnen können.”
Er tastete mit einer Astspitze Inéz’ Gesicht ab, welche sich verzweifelt wegduckte.
“Damit brauchen wir keine aufwändige Assimilation mehr und sind nicht mehr so abhängig von den Pilzen.”
Inéz verstand kaum ein Wort davon, was der Baum sagte. Aber es hörte sich bedrohlich an.
Wieder stieß die größere Birke die kleinere weg und Inéz wurde kräftig durchgeschüttelt.
“Hör nicht auf ihn”, krächzte der größere Baum mit seiner brüchigen Stimme. “Der war schon ein Feind von Symbiosen. Darum sieht er auch so verkrüppelt aus! Dabei sage ich immer: Mycorrhiza ist gesund.”
“Aber was hat das alles mit mir zu tun? Ich will nachhause!”
Das Mädchen verstand noch immer nicht, was die Bäume von ihr wollten. Zitternd klammerte sich an ihrem Ast fest.
“Die Kleine wird von niemanden gefressen. Lass dich nicht von diesem Deppen einschüchtern.”
Der Größere zog Inéz’ Arm näher an sich heran, während mit anderen den kleineren Baum auf abstand hielt.
So langsam begann Inéz ihren Baum sympathisch zu finden. Ihre Furcht wich allmählich der Neugierde.
“Wir bringen dich zum großen Zweitausend-Jährigen.”
Inéz liebte gemeinsame Abende mit ihrem Bruder. Der sah das mit den Uhrzeiten nicht so streng wie ihre Mutter. Und Juan konnte viel besser kochen. Ihr Mutter hatte meistens keine Zeit dazu. Am Abend spielten sie bis 23 Uhr gemeinsam an der Playstation, bevor Inéz ins Bett musste.
Als sie im Bett lag und das Licht ausmachen wollte sah sie etwas blaues an ihrer Zimmerdecke aufblitzen. Als sie genauer hinschaute erkannte sie wieder den Schmetterling.
Aufgeregt stand Inéz auf und zog sich an. Der Schmetterling flatterte durch das offene Fenster hinaus und setzte sich auf einen Ast vor Inéz’ Fenster.
“Warte auf mich!”
Inéz griff nach einer Taschenlampe und schlich sich aus ihrem Zimmer. Im Flur hörte sie, wie ihr Bruder mit seinen Freunden chattete. Vorsichtig stieg sie die Treppe hinunter und verließ das Haus.
Draußen flatterte der Schmetterling fröhlich auf und ab, als würde er sie freudig erwarten.
“Warum schläfst du nicht?”
Inéz konnte sich nicht erinnern je einen solchen Schmetterling bei Nacht gesehen zu haben. Dieser flatterte eilig davon und flog in Richtung Wald.
Das Mädchen machte die Taschenlampe an und lief hastig hinter ihm her.
“Warte auf mich.”
Inéz rannte immer tiefer in den düsteren Wald. So oft wie sie schon hier war, hatte sie keine Angst, auch nicht bei Nacht. Außerdem stießen immer wieder ein paar Flecken Mondlicht an den Waldboden.
“Wo führst du mich hin?”, schnaufte Inéz.
Der Wald konnte doch nicht unendlich groß sein. Oder doch? So weit war sie noch nie gekommen. Vielleicht erreichte sie dieses Mal sogar das Ziel, falls es das überhaupt gab. Aber der Schmetterling wollte, dass Inéz ihm folgte, davon war sie überzeugt.
Als das Insekt endlich anhielt, war Inéz außer Atem. Gespannt blickte sie sich um.
Sie war auf einer kleinen Lichtung angekommen, in deren Lichtung ein uralter Baum stand. Sein mächtiger Stamm war auf einer Seite komplett ausgefault und offenbarte seine hohle Mitte. Die dicken Äste waren fast alle abgebrochen, wodurch seine Krone sehr licht war. An den wenigen dünnen Ästen befanden sich kaum Blätter und von denen war etwa die Hälfte auch noch braun. Ihre Form war stark gebuchtet, was Inéz vermuten ließ, dass es sich beim Baum um eine Eiche handeln musste.
Am Fuß der Eiche lag ein großer, flacher Felsbrocken, eingebettet in mächtige Wurzeln. Der Schmetterling hatte sich darauf niedergelassen und zuckte mit den Flügeln.
Langsam Schritt Inéz auf ihn zu und. griff sie nach ihm. Bevor sie es berühren konnte löste sich das Insekt in Luft auf und das Mädchen griff ins Leere. Verwirrt suchte sie den Stein nach ihm ab und blickte dann in den Himmel.
Ein lautes Knacken ließ Inéz erstarren.
“Schsch!”, hörte sie hinter sich jemanden zischen.
Inéz drehte sich um und sah zwei Bäume mit weißem Stamm Mitten auf der Lichtung stehen. Die Erde hinter ihnen war auffällig stark aufgewühlt und ein Großteil ihrer Wurzeln lagen über der Erde. Verwirrt kratzte sich das Mädchen den Kopf. Sie war überzeugt, dass da vorhin keine Bäume standen.
Sie wären ihr doch aufgefallen, dachte sie sich.
“Na super! Jetzt sind wir aufgeflogen.”
Verängstigt versuchte Inéz herauszufinden woher diese krächzende Stimme kam. Ein Ast einer Birke schlug gegen den Stamm der anderen, doch es war nicht einmal der Hauch eines Windes zu spüren.
“Depp!”, krächzte es wieder. “Los jetzt. Zugriff!”
Das war zu viel für Inéz. Kreischend ließ sie die Taschenlampe fallen und lief in den dichten Wald davon. Hinter sich hörte sie Holz laut knacken.
Nach einiger Zeit erreichten die zwei Birken wieder die kleine Lichtung mit der alten Eiche. Hier hatte auch der Schmetterling Inéz hingeführt.
“Lasst mich bitte runter”
Durch das Schaukeln im Ast der Birke war ihr schon ganz übel. Endlich merkte sie, wie der Ast sich zum Boden senkte, als sich die Birke duckte und Inéz auf den flachen Fels absetzte. Benommen blieb sie sitzen und fasste sich an die Stirn.
“Wie erklären wir es ihr jetzt?”
Der Größere Baum richtete sich wieder auf und drehte sich zum Anderen um.
“Hab ich doch gerade!”
“Willst du das sie wieder wegläuft?”
Die kleiner Birke kratzte sich mit einem Ast am Stamm.
“Dann… gar nicht”,sagte sie nachdenklich.
“Das geht doch nicht. Sie muss es doch wissen.”
“Na dann denk dir was aus, wenn du so schlau bist!”, keifte die Kleinere.
“Was musst ich wissen?”
Inéz wurde Neugierig.
Der größere Baum drehte sich wieder zum Mädchen um.
“Siehst du den Baum da?” Er deutete auf die Eiche. “Das ist der Zweitausend-Jährige. Der ist zurzeit sehr krank, wie du siehst.”
“Wieso helft ihr ihm nicht?”
Von der anderen Birke ließ ein heiseres Lachen ertönen, bis sie mit einem weiteren Schlag von der Größeren zum Schweigen gebracht wurde.
“Das können wir nicht. Deswegen hat er dich hierher holen lassen. Es ist dein Schicksal, ihn zu äh… heilen!”
Wieder begann der kleinere Baum an zu lachen. “Du bist echt ein Rhetoriker! Ich kann nicht mehr!”
Der Größere holte wieder mit einem Ast aus und warf den Kleinen um.
“Hör auf du Depp! Du bist sowas von kontraproduktiv.”
“Wie soll ich das anstellen?”, fragte Inéz hilflos. Ihr tat die Eiche leid.
Die freundliche Birke stieß das Mädchen sanft zur Eiche hin. “Stell dich da rein.”
Sie deutete mit einem Ast auf das Innere des Baumes. Langsam kletterte sie in die Eiche hinein. Schüchtern blickte sie die Birke vor sich an.
Sie stützte sich mit ihren Händen am Holz der Eiche.
“Und jetzt?”
Inéz zuckte zusammen, als sie etwas auf ihren Händen spürte. Erschrocken beobachtete sie, wie das Holz der Eiche über ihre diese wuchs und sie in ihr Inneres verschlang. In einem verzweifelten Versuch probierte sie ihre Hände zu befreien, aber sie konnte sie nicht mehr bewegen. Panisch beobachtete das Mädchen wie die ausgefaulte Spalt im Stamm begann zu zu wachsen und Inéz in seinem Inneren zu Verschlingen!”
“Hilfe!”
Inéz Augen begannen zu tränen.
“Dieser Baum ist ein ganz besonderes Experiment der Natur. Um zu überleben braucht er die Seele eines Kindes, von der er sich 100 Jahre ernähren kann. Aber nicht jedes Kind ist geeignet und im laufe der letzten Jahre haben wir keine passende Seele mehr gefunden, seit dem die Kinder immer mehr Zeit in ihren Häusern verbringen. Du bist ein echter Glückstreffer!”
Die kleinere Birke gesellte sich dazu.
“Das wird aber auch langsam Zeit. Die letzte Mahlzeit ist auch schon seit 20 Jahren überfällig. Wenn ich doch nur selbst ein kleines Stück von ihr abhaben könnte!”
Sie ließ feine Äste durch den immer enger werdenden Holzspalt wachsen und zupfte damit an Inéz’ Kleid. Die andere Birke schlung einen eigenen Zweig um diese Äste und zog sie aus den Spalt.
“Zweige weg von ihr!”
“Holt mich hier raus! Bitte! Ich habe euch doch gar nichts getan!”, heulte das Mädchen aus dem Eichenstamm.
“Es tut mir leid, meine Kleine. Ich wünschte, es ginge anders, aber das ist nunmal deine Bestimmung! Dein Blut wird durch die Leitbündel des Zweitausend-Jährigen fließen und ihn für weitere 100 Jahre am Leben halten.”
“Inéz! Wo steckst du?”
Eine bekannte Stimme schallte durch den Wald.
“Juan! Hilfe!”
Das Geräusch einer zuschlagenden Tür ließ Juan aufschrecken.
“Sorry Leute, ich muss jetzt Schluss machen.”
Schnell verließ er den Chat und fuhr sein Laptop herunter. War seine Mutter so früh schon zurückgekommen?
Er legte sein Headset ab und verließ sein Zimmer.
“Mama?”
Das Licht im Flur war nicht an. Irritiert tappte er ins Wohnzimmer. Bestimmt war seine Mutter durch ein weiteres vergeigtes Date sehr mitgenommen.
“Lief es wieder nicht gut?”
Niemand antwortete. Etwas stimmte nicht.
“Mama?”
Im Wohnzimmer war auch niemand. Juan blickte aus dem Fenster und erschrak als ihm das Licht einer Taschenlampe im Gestrüpp am Waldrand ins Auge fiel. Eine böse Vorahnung beschlich ihn. Schnell rannte er in das Zimmer seiner Schwester.
“Inéz?”
Als er das leere Bett und die aufgeschlagene Decke sah, lief es ihm kalt den Rücken runter. Seine Vorahnung hatte sich bewahrheitet. Hastig zog er sich an, griff sein Smartphone und lief aus dem Haus.
“Inéz!”
Unbeholfen kämpfte juan sich durch das Gestrüpp und hetzte in den Wald.
Seine Sorge verstärkte sich, als er das Licht der Taschenlampe nicht mehr ausfindig machen konnte.
“Inéz! Komm zurück!”
Er hätte die Kopfhörer nicht aufziehen sollen, dachte Juan besorgt, während er den Fußspuren seiner Schwester im schlammigen Waldboden folgte. Mit seinem Smartphone leuchtete er den Boden an. Was hatte sie hier nur zu suchen?
Juan wollte sich nicht ausmalen, was passieren würde, wenn seine Mutter nachhause kommen würde und feststellen müsste, dass ihre Tochter verschwunden war. Sie könnte einen weiteren Verlust in der Familie nicht aushalten, nachdem sie ihre Eltern bereits verloren hatte.
Wäre er nicht gewesen, hätte sich seine Mutter in ihrer tiefen Trauer das Leben genommen. Er hatte sich deswegen später geweigert, nach dem Abitur für das Studium umzuziehen, um seine Mutter nicht allein zu lassen.
Doch Juan machte sich viel größere Sorgen um Inéz. Er würde es sich niemals verzeihen können, wenn ihr etwas wegen seiner Unachtsamkeit passieren würde.
Zitternd streifte er durch den Wald, während er sich angestrengt nach Geräuschen umhörte. Stille. Ungewöhnliche Stille. Geradezu bedrohliche Stille legte sich über den gesamten Wald. Von Inéz war weit und breit nichts zu hören und ihre Fußspuren verloren sich im Laubboden.
Auf einmal hörte er ihre Stimme. Erschrocken begann Juan der hinterher zu laufen, bis er eine kleine Lichtung erreichte. Was er da sah verschlug ihm die Sprache.
Zwei Bäume mit weißer Borke standen vor einem noch größere mit dicken Stamm. Sie bewegten sich, als ob sie ein Sturm umgeben, doch die Luft war ruhig. Er konnte seine Schwester im Inneren des großen Baums entdecken und rannte zu ihr hin. Sie weinte und versuchte sich aus dem Baum zu befreien. Dabei schien sie festzustecken. Während er sich ihr näherte sah er, wie der gespaltene Baumstamm, in dem sie sich befand stetig zu wuchs. Juan hatte noch nie eine Pflanze so schnell wachsen sehen.
Bevor er seine Schwester erreichen konnte schleuderte etwas ihn zur Seite. Mit einem dumpfen Schlag landete Juan gegen einen großen Felsbrocken. Als er versuchte sich aufzurappeln schlang sich etwas wie eine Schlange um sein Bein und zog ihn kopfüber in die Höhe. Juan zappelte und versuchte sich vergeblich zu befreien. Irritiert erkannte er, dass es einer dieser Bäume mit den weißen Stämmen war, der ihn festhielt. Dabei bewegte der sich wie ein Mensch. Seine Äste glichen Armen, während er die Wurzel wie Beine benutzte.
Wie war das möglich?
“Wie erbärmlich.”
Eine hohe Stimme kam von dem Baum aus.
Verzweifelt schlug Juan um sich, dann blickte er hilflos zu seiner kleinen Schwester.
“Hilfe! Juan!”
Ihr Schreien wurde dumpf, als das Holz sie in sich einschloss, dann erstarb es komplett. Gleichzeitig begann der alte Baum sich zu bewegen, seine abgebrochenen Äste wuchsen nach und er bildete zahlreiche neue Blätter.
Geschockt blickte Juan auf die Stelle, hinter der seine Schwester soeben im Inneren des Baumes verschwunden war.
“Inéz!”