Im Bahnhofbuffet
Im Bahnhofbuffet
Um 19.91 Uhr tritt der Zweite aus der kalten Winternacht ins Bahnhofbuffet, geht ohne zu zögern weiter, marschiert am Ersten vorbei, die lange Reihe leerer Barhocker entlang, zum Ende der Bar, wo er sich umdreht, und den leeren Barhockern entlang, am Ersten vorbei zur sich langsam schliessenden Tür blickt.
Der Erste ist mit dem Barkeeper in ein offensichtlich langweiliges weil hoffnungslos verkeiltes Schachspiel vertieft.
Dieser ist nicht minder gelangweilt. Auf ein Handzeichen des Zweiten zuckt er zusammen, nickt ihm zu, schaut den Ersten um Verständnis bittend an, schenkt einen trockenen Martini ein, hat schon nach dem Löffel gegriffen, besinnt sich dann aber, geschüttelt nicht gerührt, und bringt das Glas mit zitternder Hand dem Zweiten; danach mit ruhiger Hand ein Trinkgeld einstreichend, will er zurück zum Ersten, zögert dann aber, und bleibt sichtlich verunsichert zwischen den beiden stehen; der Erste mitte-links, der Zweite rechts.
Der Zweite nimmt Notiz. Der Erste wird unruhig. Der Zweite nimmt Notiz, dann den trockenen Martini. Der Erste wird noch unruhiger als er des Zweiten herausfordernden Blick einfängt, beginnt zu zweifeln, zu verzweifeln, hält nicht stand und dreht den Kopf weg; verliert sein Gesicht und verliert. Den Blick des Zweiten spürt er nun, wie den kalten Lauf einer Pistole im Nacken, noch selbstsicherer, eigentlich verächtlich, ausserdem enttäuscht. Er leert sein Glas in einem Zug, und schenkt sich gleich selber nach. Pinot Noir, ein Walliser.
Der Barkeeper bekreuzigt sich, schickt ein Stossgebet zum Himmel, hebt drei Finger gegen den eben Diesen, bittet Gott um Neutralität, starrt gerade aus an die gegenüberliegende Wand, sieht neue Zeiten kommen, und bleibt Souverän.
„Eins“, sagt der Zweite, als er am Ersten vorbeigeht, die leeren Barhocker schon hinter sich gelassen hat, und wieder in der Nacht verschwindet. 20.03 Uhr.
Das Wort bleibt in der Luft hängen, bis die Tür ins Schloss fällt.
Neben dem Ersten liegt ein feiner, weisser Lederhandschuh am Boden. Er bückt sich danach, blickt fragend zum Barkeeper, der merklich beunruhigt ist, unmerklich nickt, ihm dann ausdruckslos nachblickt, als der Erste kurzentschlossen aufsteht, sein halbleeres Glas stehen lässt.
„Acht“, hört er den Zweiten laut sagen. Dem ersten läuft es kalt den Rücken hinunter; die Nacht ist eisig und dunkel. Unschuldigen Gewissens geht er der sich entfernenden Silhouette nach.
„Neun“, sagt der Zweite; der Erste begreift immer noch nicht, holt auf und sieht bevorstehende bilaterale Annäherungen: Kompromisspolitik.
Die Zehn geht im Schuss unter.
Der Erste hatte schon seine Hand nach dem Zweiten ausgestreckt, als sich dieser blitzschnell umdrehte, in die Innentasche seines fliegenden Mantels griff, ihm eine Pistole zwischen die Augen hielt, und im selben Moment abdrückte.
Der Erste liegt auf dem Rücken. Die ausgestreckte Hand ist noch nicht zu Boden gefallen, da hat sich der Zweite schon seiner Mandate bemächtigt.
Wie er ins Bahnhofbuffet zurücktritt, hat der Barkeeper das Glas des Ersten bereits weggeräumt, und schenkt gerade einen Martini nach. Am Schachbrett wirft der Zweite den König des Ersten um, dann auch den des Barkeepers und heisst diesen, sich selbst auch ein Glas zu füllen.
Zeit vergeht. Das Bahnhofbuffet bekommt neue Barhocker.
Noch mehr Zeit vergeht. Der Sommer kommt.
Da fliegt plötzlich ein Molotowcocktail durch die Scheiben des Bahnhofbuffets und detoniert unmittelbar vor dem Barkeeper.
Ein Glassplitter macht dem Zweiten einen Schlitz ins Beinkleid.
„Der Erste – Zehn!“
Und der Zweite schaut zum Barkeeper. Dieser rappelt sich mühsam auf. Vom Zweiten bekommt er einen Helm, einen Plexiglasschild, und einen Schlagstock, stürmt zur Tür, in die Gluthitze hinaus, und sieht gerade noch wie ein schwarzroter Zombie mit wehendem Intifadaschal durch den Kanalisationsschacht in den Untergrund verschwindet.
Januar 2002