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Im Bahnhofbuffet

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27.03.2002
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Im Bahnhofbuffet

Im Bahnhofbuffet

Um 19.91 Uhr tritt der Zweite aus der kalten Winternacht ins Bahnhofbuffet, geht ohne zu zögern weiter, marschiert am Ersten vorbei, die lange Reihe leerer Barhocker entlang, zum Ende der Bar, wo er sich umdreht, und den leeren Barhockern entlang, am Ersten vorbei zur sich langsam schliessenden Tür blickt.
Der Erste ist mit dem Barkeeper in ein offensichtlich langweiliges weil hoffnungslos verkeiltes Schachspiel vertieft.
Dieser ist nicht minder gelangweilt. Auf ein Handzeichen des Zweiten zuckt er zusammen, nickt ihm zu, schaut den Ersten um Verständnis bittend an, schenkt einen trockenen Martini ein, hat schon nach dem Löffel gegriffen, besinnt sich dann aber, geschüttelt nicht gerührt, und bringt das Glas mit zitternder Hand dem Zweiten; danach mit ruhiger Hand ein Trinkgeld einstreichend, will er zurück zum Ersten, zögert dann aber, und bleibt sichtlich verunsichert zwischen den beiden stehen; der Erste mitte-links, der Zweite rechts.
Der Zweite nimmt Notiz. Der Erste wird unruhig. Der Zweite nimmt Notiz, dann den trockenen Martini. Der Erste wird noch unruhiger als er des Zweiten herausfordernden Blick einfängt, beginnt zu zweifeln, zu verzweifeln, hält nicht stand und dreht den Kopf weg; verliert sein Gesicht und verliert. Den Blick des Zweiten spürt er nun, wie den kalten Lauf einer Pistole im Nacken, noch selbstsicherer, eigentlich verächtlich, ausserdem enttäuscht. Er leert sein Glas in einem Zug, und schenkt sich gleich selber nach. Pinot Noir, ein Walliser.
Der Barkeeper bekreuzigt sich, schickt ein Stossgebet zum Himmel, hebt drei Finger gegen den eben Diesen, bittet Gott um Neutralität, starrt gerade aus an die gegenüberliegende Wand, sieht neue Zeiten kommen, und bleibt Souverän.

„Eins“, sagt der Zweite, als er am Ersten vorbeigeht, die leeren Barhocker schon hinter sich gelassen hat, und wieder in der Nacht verschwindet. 20.03 Uhr.
Das Wort bleibt in der Luft hängen, bis die Tür ins Schloss fällt.
Neben dem Ersten liegt ein feiner, weisser Lederhandschuh am Boden. Er bückt sich danach, blickt fragend zum Barkeeper, der merklich beunruhigt ist, unmerklich nickt, ihm dann ausdruckslos nachblickt, als der Erste kurzentschlossen aufsteht, sein halbleeres Glas stehen lässt.
„Acht“, hört er den Zweiten laut sagen. Dem ersten läuft es kalt den Rücken hinunter; die Nacht ist eisig und dunkel. Unschuldigen Gewissens geht er der sich entfernenden Silhouette nach.
„Neun“, sagt der Zweite; der Erste begreift immer noch nicht, holt auf und sieht bevorstehende bilaterale Annäherungen: Kompromisspolitik.
Die Zehn geht im Schuss unter.
Der Erste hatte schon seine Hand nach dem Zweiten ausgestreckt, als sich dieser blitzschnell umdrehte, in die Innentasche seines fliegenden Mantels griff, ihm eine Pistole zwischen die Augen hielt, und im selben Moment abdrückte.
Der Erste liegt auf dem Rücken. Die ausgestreckte Hand ist noch nicht zu Boden gefallen, da hat sich der Zweite schon seiner Mandate bemächtigt.
Wie er ins Bahnhofbuffet zurücktritt, hat der Barkeeper das Glas des Ersten bereits weggeräumt, und schenkt gerade einen Martini nach. Am Schachbrett wirft der Zweite den König des Ersten um, dann auch den des Barkeepers und heisst diesen, sich selbst auch ein Glas zu füllen.

Zeit vergeht. Das Bahnhofbuffet bekommt neue Barhocker.
Noch mehr Zeit vergeht. Der Sommer kommt.
Da fliegt plötzlich ein Molotowcocktail durch die Scheiben des Bahnhofbuffets und detoniert unmittelbar vor dem Barkeeper.
Ein Glassplitter macht dem Zweiten einen Schlitz ins Beinkleid.
„Der Erste – Zehn!“
Und der Zweite schaut zum Barkeeper. Dieser rappelt sich mühsam auf. Vom Zweiten bekommt er einen Helm, einen Plexiglasschild, und einen Schlagstock, stürmt zur Tür, in die Gluthitze hinaus, und sieht gerade noch wie ein schwarzroter Zombie mit wehendem Intifadaschal durch den Kanalisationsschacht in den Untergrund verschwindet.

Januar 2002

 

ich bin enttaeuscht
entspricht nicht dem was ich ueber diese Seite gehoehrt habe
null antworten helfen mir nicht
ich weiss nicht, liegt es an der geschichte, ist sie, so schlecht, oder begreift mann/frau nicht, dass es sich um eine metapher zur politschen entwicklung 1991-2003 in
der schweiz handelt

 

Hallöchen,

keine Panik - es kann schon mal etwas dauern, bis die ersten Kritiken zu einer Geschichte eintrudeln.

Die Moderatoren lesen sich bestimmt einen Wolf. Trotzdem kannst du einen der Moderatoren des Forums bitten, sich deiner Geschichte anzunehmen. Manchmal wird auf diese Weise eine Diskussion zu der jeweiligen Geschichte angeleiert, und dann kommen auch die entsprechenden Kritiken.

Was mich persönlich betrifft, kann ich zu der Geschichte nichts sagen. Da ich an Politik - und besonders an der, die eh' schon vorüber ist - nicht interessiert bin, finde ich solche Geschichten eher langweilig. Doch es wird sich mit Sicherheit ein Publikum finden, wenn erst einmal die entsprechenden Leute auf deine Geschichte aufmerksam geworden sind. Wende dich beispielsweise an Reiner, an Zaza, an Alpha D'Droma etc., die sind echte Profis und geben sich mit dem ab, was ich für mich selbst, Freundin der leichten Unterhaltungsliteratur, als "schwerverdaulich" bezeichnen möchte.

Hoffe, ich konnte dir helfen. Viel Spass noch beim Schreiben.

Pip

[Beitrag editiert von: Pipilasovskaya am 04.04.2002 um 08:15]

 

Hallo Dominik,
ich habe Deine Geschichte damals gleich nach dem Posten gelesen. Allerdings habe ich keine Antwort zu ihr erstellt, da ich genauso wenig wie meine Vorredner verstanden habe worum es geht.
Dein Kommentar unter der Geschichte erklärt zumindestens die merkwürdige Uhrzeit "19.91 Uhr", aber ansonsten wäre ich nie darauf gekommen, dass es sich um eine Methaper über die politischen Verhältnisse in der Schweiz handelt. Leider bin ich über diese auch fast nahezu unbewandert.

Sagen kann ich Dir aber auf jeden Fall, dass Du einen sicheren Stil zu schreiben hast und dass mir einige Formulierungen sehr gut gefallen haben. Einige wenige Rechtschreibfehler stören nicht den Lesefluss.
Da ich aber nach wie vor null Ahnung habe was diese Geschichte aussagen soll, gefällt sie mir nicht so gut.

Ja, diese Geschichte hinterlässt bei mir ein großes Fragezeichen, daher bin ich eigentlich auch für die Verschiebung in "Seltsam" oder bitte um die Aufklärung. Für "Gesellschaft" halte ich es nicht für besonders sinnvoll, die gesellschaftliche Aussage so zu verpacken, dass sie keiner mehr versteht, sonst bekommst du eben diese Reaktion:

begreift mann/frau nicht, dass es sich um eine metapher zur politschen entwicklung 1991-2003 in
der schweiz handelt
Tja, warten wir am besten auf Deine Aufklärung oder auf eine andere Person, die verstanden hat worum es geht.

Ansonsten kann ich Dir raten auch Geschichten anderer Autoren zu kommentieren. Man schreibt eher eine Antwort auf die Geschichte eines Mitglieds, von dem man auch schon eine Resonanz erfahren hat.

Ugh

 

zur klaerung:
Das Bahnhofbuffet = der Staat
Der Barkeeper = der Buerger

...der Barkeeper bleibt Souveraen
der Souveraen = das Volk, der Buerger
...bittet Gott um Neutralitaet, immerwaehrende Neutralitaet der Schweiz, Wiener Kongress 1815

Der Erste = der Sozialdemokrat, spaeter: der Untergrundkaempfer (rot-schwarzer Zombie mit wehendem Inifada-Schahl verschwindet im Untergrund)

...der Erste mitte-links,..
...ein hoffungslos verkeiltes Schachspiel...
Komromisspolitik
der 3. Weg hat sich vom Ziel des freiheitlichen Sozialismus entfernt, reine Machtpolitik

allegemein eine Person, die nicht weiss was sie will, sein Glas ist halb leer

Der Zweite = der Neoliberale
sehr selbstsicher, weiss was er will. kalt, ruecksichtslos
tritt 1991 zum ersten Mal auf, errichtet 2003 eine Diktatur des Kapitals ( er wirft den Koenig des Ersten wie den des Zweiten um)

Ich hoffe, ich konnte damit etwas Licht ins dunkel bringen, die Interpretation moechte ich aber trotzallem noch dem Leser ueberlassen. Vielen Dank fuer deine Tipps.

Die Geschichte koennte mit einigen Veraenderungen sicher auch auf Deutschland uebertragen werden.

 

Hallo dominik!

Sprachlich hat mir Deine Geschichte gut gefallen, leider habe ich sie nicht entschlüsseln können (bin politisch etwa so fit wie ein Gummiboot). Nachdem Du das netterweise getan hast, muß ich sagen, daß mich die Metaphorik der Geschichte beeindruckt hat. Du schreibst sehr zielsicher, hast ein gutes Gespür dafür, welches Bild wohin paßt. Laß Dich nicht davon entmutigen, daß wir sie nicht verstanden haben, die Geschichte ist trotzdem gut!
Gruß,

chaosqueen :queen:

 

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