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Im Auge des Sturms
Als die letzten Sonnenstrahlen die Stadt Irizia zum Leuchten brachten, zählte Zavir Poltum noch einmal zufrieden die Münzen in seinem Beutel, dann machte er sich daran, seine Töpferwaren von der Auslage zusammenzupacken, um sie in den Karren zu laden.
„He, Zavir! Gehen wir noch Einen trinken?“, rief der glatzköpfige, muskulöse Mann vom Stand neben ihm, während er einen Stapel an Hämmern und anderen Metallwerkzeugen auf seinen Karren lud. „Kendel passt sicher solange auf unsere Sachen auf, nicht wahr, Liebling?“
Kendel, seine Frau, blickte ihn böse an und sagte: „Ich werde mit dem Karren vorfahren und ihr könnt heimlaufen, Dorben.“
Zavir schickte sich an, etwas Beschwichtigendes zu sagen, und hob eine für seinen massigen Körper seltsam filigrane Hand, während die andere durch seinen langen Bart strich, dann beschloss er jedoch, die beiden zanken zu lassen und machte sich wieder amüsiert ans Aufräumen.
Eigentlich war es ein Tag wie jeder andere, selbst auf dem kurzlebigen Markt. Alle Händler sammelten ihre Waren zusammen; Obst, Gemüse, Fleisch, Waffen, Werkzeuge, Schmuck, Haus- und Nutztiere und Spruchrollen, als plötzlich ein Schrei über den Markt hallte: „Chromari! Sie kommen!“
Ein hektischer Tumult brach aus und Zavir ließ eine schöne, verzierte Vase fallen, die er gerade auf den Wagen laden wollte, als ein panisch schreiender Mann an ihm vorbei rannte und ihn anrempelte. Zuerst überlegte der Töpfer kurz, ob er seine Sachen doch noch zusammenpacken sollte, entschied sich dann aber dagegen und stieg auf den Wagen.
„Kendel! Dorben! Lasst eure Sachen liegen, hört auf zu zanken und kommt! Sonst könnt ihr morgen in der Anderswelt weiterstreiten!“
Die beiden Schmiede hielten kurz inne, dann rannten sie jedoch zusammen zu Zavir, der mit einer hektischen Bewegung an den Zügeln das Pferd in Bewegung setzte. Curd war ein treues, kräftiges Tier, und heute konnte der Braune zum ersten Mal zeigen, was wirklich in ihm steckte. In schnellem Trab zog er den Karren vorbei an vielen langsameren Händlern, doch der Markt war groß und sie hatten ihre Stände nahe am Hafen gehabt, sodass sie bald in ein heilloses Durcheinander aus verzweifelten Menschen, schnaubenden Tieren und umgestoßenen Ständen und Karren gerieten. Zavir stand auf dem Bock und schrie unermüdlich auf sein Pferd ein, aber es gab kein Durchkommen.
Er drehte sich um, streckte sich und sah das ganze sichtbare Sichelmeer von Schiffen bedeckt, die unter dem blauen Banner mit dem Eisenstern der Eroberer des Südens standen. Er betete zu Galiamos, dass die Paladine und die Stadtwache zahlreich genug waren, aber tief drinnen wusste er, dass dem nicht so war.
Neben ihm kreischte Kendel und schüttelte Dorben: „Tu doch was! Ich will hier weg!“
Ihr Mann war kreidebleich, der Schweiß lief seinen kahlen Kopf hinunter. Zuerst brachte er kein Wort heraus. Dann sagte er tonlos: „Wir müssen laufen.“
Zavir blickte ihn an, als hätte er sich in den Schattengott Tarkhon verwandelt, dann dachte er kurz nach. Dorben hatte recht: sie würden niemals mit dem Wagen hier durchkommen.
Er sprang vom Karren, tätschelte wehmütig sein Pferd und rief zu den beiden anderen: „Los! Dorben hat recht! Laufen wir!“
Kendel war zuerst gar nicht begeistert, doch sie kamen zu Fuß viel schneller voran, auch wenn sie ständig aufpassen mussten, nicht niedergetrampelt zu werden. In diesem Chaos rannte Zavir planlos in die Gassen, aus denen am wenigsten Menschen kamen, so dass sie schließlich nicht in der Nähe des Stadttores waren, sondern westlich davon in den verworrenen Armenvierteln. Dorben und seine Frau blieben hinter ihm stehen und blickten sich ängstlich um.
„Wo sind wir? Wo geht es hier raus?“, rief Dorben ihm zu.
Zavir zuckte mit den Schultern. Er wusste es nicht. Überall standen die gleichen, dreckigen Häuser aus Lehm und Holz, zwischen denen sich Abfälle und Schutt stapelten. Vereinzelt rannten panische Menschen umher, aber stets in verschiedene Richtungen, sodass er keinem von ihnen hätte folgen können.
Schließlich rannte ein Trupp der Stadtwache vorbei. Die Anführerin wurde kurz langsamer, und Zavir schöpfte Hoffnung, dass sie ihnen den Weg aus der Stadt weisen würde.
In diesem Moment krachte ein riesiger Felsblock von oben herunter und begrub die ganze Einheit unter sich. Trümmer stürzten von den Häusern und Zavir entging nur knapp einem spitzen Holzstück, das sich neben ihm in den Dreck der Straße bohrte. Kendel und Dorben, die hinter ihm standen, keuchten und wichen zurück, als weitere Brocken vom Himmel regneten, gefolgt von brennenden Pfeilen.
War die Stadt vorher bereits im Chaos versunken, so hatte sie sich nun endgültig in ein Pandämonium verwandelt. Irizia wurde von den Chromari geschleift, und Zavir stand mittendrin. Er brüllte den beiden zu: „Wir müssen Schutz suchen!“
Doch er wusste selbst nicht, wo sie diesen finden sollten. Ständig regnete es Tod vom Himmel, und es war nur eine Frage der Zeit, bis er sie finden würde. Zavir rannte zu einer Hausruine und hoffte, einen Keller zu finden. Ein riesiger Brocken hatte das Haus in der Mitte gespalten, überall lagen Trümmer, Blut sickerte von den zerrissenen Stockwerken. Vor sich hörte er lautes Jammern, und irgendetwas zog ihn dorthin.
Wie in Trance lief er über die Steine, während neben ihm Pfeile einschlugen und überall um ihn weitere Katapultgeschosse landeten. Als er an dem Felsen angekommen war, erblickte er eine junge Frau, die weinend danebenkniete und dann die blutige Masse, die unter dem Felsen hervorquoll.
Dann sah er die Kinder. In einer Ecke, unter einem wackligen Tisch, saßen ein kleiner Junge und ein noch kleineres Mädchen, die mit großen Augen zu verstehen versuchten, was geschehen war.
Er rannte zu der Frau und wollte sie trösten, doch als er vor ihr stand, wusste er nicht, wie ihr das helfen sollte. Verzweifeltes Klagen und erstickte Schreie kamen aus ihrem in den Armen vergrabenen Gesicht, und er legte ihr dennoch den Arm um die Schultern, aber sie schien ihn gar nicht wahrzunehmen.
Hinter ihm erklang plötzlich Dorbens Stimme: „Zavir, wir müssen weiter! Sie schießen nicht mehr. Das kann nur eins heißen… sie kommen.“
Zavir schaute den Schmied verzweifelt an. Dann sagte er mit einem Mut, den er so gar nicht kannte: „Sie werden mit uns kommen. Wir müssen ihnen helfen.“
Er zog die Frau auf die Beine hoch, sie war federleicht und dürr, ihre zerzausten, blonden Haare bedeckten ihr verweintes Gesicht. Dann rief er den beiden Kindern zu: „Los, ihr zwei, wir müssen hier weg!“
Der Junge, ein schmächtiger, blonder Knirps von vielleicht sechs Jahren, stammelte ratlos: „Aber... aber was ist mit P-Papa?“
Tränen liefen über seine Wangen und Zavir musste sich zusammenreißen, um nicht selbst zu weinen. Das schwarzhaarige, dünne Mädchen neben ihm – vermutlich seine kleine Schwester, dachte Zavir – schrie: „Ich will nicht ohne Papa weg!“
Zavir wusste nicht, was er sagen sollte, als die blonde Frau zum ersten Mal etwas sagte: „Samael, Serrazia! Geht… geht mit dem Mann mit, wir müssen hier weg! Pa…Papa bleibt… er bleibt hier.“
Sie schluchzte und sackte wieder zusammen, doch Zavir hielt sie mit seinen kräftigen Armen und zog sie zum Ausgang. Die Kinder liefen zögernd und schluchzend hinter ihm her.
Als er oben angekommen war, zog Kendel aufgeregt an Zavirs Arm, wobei er die Frau fast fallen ließ, und schrie: „Wir müssen hier weg! Schnell jetzt! Sie kommen jeden Augenblick!“
Wie als Bestätigung trug der Wind vom Hafen Kampfschreie hinüber. Der Töpfer riss sich los und schaute die junge Mutter an: „Wenn du laufen kannst, trage ich deine Kinder. Los!“
Sie nickte und winkte die Kinder zu sich, die Zavir daraufhin auf seine Schultern nahm. Dann setzte die Gruppe sich in Bewegung, geführt von der Frau, die sich offensichtlich auskannte. Hinter ihnen erklangen die Rufe immer lauter, gemischt mit den Sterbensschreien der Menschen, die noch nicht geflüchtet waren. Dichter Rauch und Qualm verringerten die Sicht auf wenige Meter, doch die junge Frau lief zielgerichtet immer weiter.
Plötzlich blieben sie jedoch vor einem riesigen Trümmerfeld stehen, das die direkte Straße versperrte. Die Frau blickte sich verzweifelt um; es war nicht abzusehen, in welche Richtung sie rennen sollten.
Dorben war der Erste, der die Angreifer kommen sah: aus dem Rauch hinter ihnen rannte ein Trupp Bewaffneter auf sie zu. Die leichten Rüstungen zierte der Chromaristern, die dunkle Haut war mit blauer Kriegsbemalung geschmückt und an ihren Säbeln klebte Blut. Schreiend rannten sie auf Zavir und seine Gruppe zu.
Ebenso schreiend rannte Kendel in eine Seitenstraße davon und verschwand im Rauch. Dorben zog sein Schwert und brüllte: „Lauft! Pass auf Kendel auf, Zavir!“
Dann warf er einen Hammer nach den Chromari und schwang sein Schwert vor sich. Zavir zog die Frau mit sich mit und folgte Kendel in den Rauch. Hinter ihm hörte er einen Schrei, konnte jedoch unter den vielen anderen nicht sicher sagen, ob es Dorbens Ende war oder ob der Schmied einen Angreifer in die Neun Höllen geschickt hatte.
Kurz darauf fanden sie seine Frau. Sie lag mit erstarrtem Ausdruck an eine Hauswand gelehnt, mehrere Stichwunden färbten ihr braunes Kleid rot. Neben ihr hoben zwei Chromari ihre Säbel und kamen näher. Zavir wusste, dass er keine Chance hatte und drehte sich zu einem anderen Weg, doch auch von dort kamen drei dunkelhäutige Krieger, die ihre Schwerter gegen die mächtigen blauen Stahlschilde schlugen.
„Bei Galiamos, das war es wohl“, keuchte Zavir und blickte die Frau und ihre Kinder an. Er setzte sie ab und fiel auf die Knie. „Verschont uns, bitte!“
Einer der Chromari, ein kräftiger Mann mit einem verzierten Silberhelm, schaute ihn an und sagte etwas Unverständliches in seiner melodischen, beinahe singenden Sprache. Dann hob er sein Schwert und beschleunigte den Schritt.
Er war nur noch wenige Meter entfernt, als ein gleißendes Licht durch den Rauch strahlte. Der Qualm teilte sich und sieben Hünen in silberweißen Rüstungen, verziert mit dem flammenden Symbol der Paladine, rannten vor Zavir. Ihr Anführer ballte die Hand zu einer Faust, und das Licht darin verschwand. Mit fließenden Bewegungen schwangen sie ihre Zweihänder, und ein ungleicher Kampf begann. Der behelmte Chromari war ein guter Kämpfer, aber er war viel zu langsam, um den blitzschnellen Attacken seines Gegners etwas entgegenzusetzen. Seinen Mitstreitern erging es nicht anders, und nach wenigen Sekunden lebte keiner mehr von ihnen.
Zavir kniete in eine etwas würdigere Position und neigte sein Haupt. Dann sagte er: „Galiamos sei Dank, ihr habt uns gerettet!“
Eine weibliche Stimme erklang unter einem der Paladinhelme, aus dem hellblondes Haar quoll, und sagte: „Galiamos beschützt, Bürger. Flieh jetzt, und beschütze deine Familie auch.“
Dann rannten die Paladine weiter und verschwanden wieder im Rauch, ihr Licht wieder mit sich ziehend. Zavir hatte sich stets gefragt, ob sie alle sanktionierte Magier waren, oder ob ihr Gott ihnen diese Macht verlieh.
"Das hilft mir jetzt auch nicht weiter", murmelte er und blickte sich um. Keine lebenden Chromari zu sehen. Zavir rappelte sich auf und nahm die Kinder wieder auf seine Schultern, obwohl er kaum noch Luft bekam. Es hatte keinen Sinn, Kendel mitzunehmen, und er würde sie ohnehin nicht zusätzlich tragen können. Götterergeben stapfte er los, die Mutter folgte ihm, und er schaute sich in alle Richtungen um, wo es aus dieser verdammten Stadt herausging. Auf den engen, dunklen Straßen lagen überall Trümmerteile, Leichen oder hastig zurückgelassener Besitz. Truhen, Werkzeuge und andere Dinge, die zu schwer für eine Flucht waren, säumten die Straßen. Ein Traum für die kommenden Plünderer.
Kurz bückte er sich hinunter und hob eine beinahe saubere Stoffpuppe auf, die er dem kleinen Mädchen gab. Freudig drückte Serrazia das Geschenk und kurz konnte er ein Lächeln auf ihrem von Entbehrung gezeichneten Gesicht sehen.
Dann sah er vor sich, wie der Rauch abnahm, und in ungefähr hundert Metern schien die Stadtmauer zu sein. Ein freudiger Schrei entfuhr ihm und er strengte sich an, um ein letztes Mal seinen Schritt zu beschleunigen.
Plötzlich hörte er es über sich knacken. Instinktiv setzte er die Kinder ab und blickte nach oben. Die beiden Häuser links und rechts hatten schweren Beschuss abbekommen und gaben plötzlich nach. Es war keine Zeit mehr um zu rennen, daher drückte er die Kinder auf den Boden und beugte sich schützend über sie, ein Gebet auf den Lippen. Krachend stürzten die beiden Häuserteile nieder.
Als Zavir die Augen wieder öffnete, merkte er, dass etwas seltsam war. Zu seiner Beruhigung sah er die beiden Kinder wohlbehalten vor sich, durch seinen Schutz hatten sie nichts abbekommen. Ihre Mutter konnte er nirgendwo erblicken. Dann sah er die schwarz verhüllte Gestalt neben ihnen und stockte. Er wollte schreien, doch es kam nur ein röchelndes Flüstern heraus: „Hch… halt! Lass… ch… sie in Ruhe! Elen… huh… elender Assassine!“
Die verhüllte Person beugte sich zu ihm herunter und sagte mit leiser, aber freundlicher Stimme: „Du hast Großes vollbracht, mein Freund. Wenige haben den Mut, anderen das eigene Leben zu schenken. Deine Tat soll nicht vergessen werden. Doch nun ist dein Weg zu Ende. Tarkhon wird dich in der Anderswelt empfangen. Erlaube mir, den Weg dieser Kinder fortzuführen, denn sie werden ebenfalls Großes vollbringen. Nun schließe die Augen, Wanderer, dein Ziel ist erreicht.“
Zavir wollte etwas erwidern, doch er war zu schwach. Die Kinder schauten ihn dankbar an, und er hätte ihnen gerne zugelächelt oder sie vor dem Assassinen gewarnt. Zu spät, alter Junge. Die Trümmer hatten seinen Körper zerschlagen, und sein Weg war in der Tat zu Ende. Die Legende sollte jedoch erst beginnen, als er seine Augen schloss und zu Tarkhon fuhr.