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Ilse Bilse
Seit jeher fügte Ilse sich ins Leben ein wie eine Bleistiftzeichnung in ein Ölgemälde. Wenn ihre Geschwister laut durchs Haus tobten, rempelten sie Ilse an und riefen: „Mensch, Ilse, aus dem Weg!“ Und wenn ihre Mutter fragte: „Wo ist denn die Ilse schon wieder?“, sagte Ilse: „Hier bin ich, Mutter.“ Und die Mutter antwortete: „Ach Ilse, wieso bist du nur immer so leicht zu übersehen?“
Aber Ilse wusste es nicht. Sie wusste nur, dass, wenn sie im Badezimmer in den kleinen Spiegel sah, sie da war. Klar und deutlich zeichneten sich ihre Umrisse in der Welt ab. Man musste nur hinschauen.
Es gab aber auch Momente, in denen Ilse sich wünschte, tatsächlich unsichtbar zu sein. Zum Beispiel wenn die anderen Kinder auf dem Pausenhof mit Kienäpfeln nach ihr warfen oder ihr auf dem Heimweg hinterherriefen: „Ilse Bilse, keiner willse, kam der Koch, nahm se doch, weil se so nach Zwiebeln roch.“
Mit neunzehn wünschte sie sich, dass dieser Koch bald käme und sie nähme. Sie begann zu glauben, dass sie nie einem Mann begegnen würde, der sie bemerkte, dass sie für den Rest ihres Lebens allein bleiben und unsichtbar zwischen all den Familien in der Stadt umherstreifen würde. Doch da kam Karl-Heinz, der kein Koch war, aber sie ansah, wie niemand sie je angesehen hatte. Am Mittwoch verkaufte sie ihm einen Hut, am Donnerstag einen zweiten, am Freitag einen dritten. Am Samstag holte er sie schließlich nach Dienstschluss vom Hutgeschäft ab und sie gingen an der Karthane spazieren.
Manchmal sagte Karl-Heinz: „Weißt du, Ilse, wenn du so wie jetzt in der Sonne stehst, bist du fast nicht zu sehen, sondern nur eine Aura aus Gold.“
Sie lächelte dann, legte ihre Hände in seine und sagte: „Ich bin so froh mit dir, Karl-Heinz.“
Als Karl-Heinz starb, blieb Ilse zurück. Kinder gab es keine. Ihre Eltern und drei der vier älteren Geschwister waren bereits verstorben. Nur ihre Schwester Clara lebte noch in einem Pflegeheim im weit entfernten Zwickau. Ilse fühlte sich so allein wie nie zuvor. Mit jedem Tag wurde sie blasser. Mit jedem Tag fiel es ihr schwerer, ihre Konturen im Spiegel zu erkennen. Bis sie schließlich ganz und gar unsichtbar geworden war und im großen Spiegel nur ihr Nachthemd seltsam schwerelos in der Luft stehen sah. So genau sie auch hinschaute, ihr Körper war nicht mehr zu sehen, aber es gab ihn noch. Sie konnte mit den Fingern über ihre Haut streichen, fühlte das Herz schlagen, wenn sie die Hand auf die Brust legte, und beim Blick in den Spiegel wanderte ein Kribbeln von Kopf bis Fuß. Sie zog das Nachthemd aus, ließ es neben sich auf den Boden fallen und war einfach weg. Sie fühlte sich leichter, wie ein mit Luft gefüllter Ballon, drehte sich im Kreis, die Arme ausgestreckt und wickelte sie sich in diesen kühlen Morgen, an dem sie unsichtbar und die Schwerkraft weniger geworden war. Ihr Haar strich über die Schultern und sie stellte sich vor, dass es Karl-Heinz‘ Hände wären. Vielleicht, dachte sie, habe ich mein ganzes Leben für diesen Augenblick geübt. Vielleicht war dies hier schon immer ihr Schicksal gewesen.
Was sollte sie jetzt tun? Würde sie jeden Tag ein bisschen leichter werden, bis sie sich auflösen würde? Leichter wäre als Luft und hoch in den Himmel stiege? Wenn ja, so war es ihr recht.
Der Morgen war noch frisch und sie legte sich wieder ins Bett, um sich aufzuwärmen. Klar und deutlich zeichnete sich das Volumen ihres Körper unter der Bettdecke ab. Nach ein paar Tagen, die sie hauptsächlich im Bett verbrachte und in denen sie darauf wartete, sich wie Nebel in der Morgensonne aufzulösen, musste sie einsehen, dass sie noch immer unsichtbar war, ihre feste Form aber nicht verloren hatte. Sie stand auf, wusch sich, putzte die Zähne, kämmte die Haare, zog sich an und vermisste Karl-Heinz.
Vom Fenster aus sah sie hinunter auf die Straße, auf der das Leben in seinem ewigen Rhythmus vorüberzog. Die Junisonne schien durch die Scheibe und wärmte den Stoff auf ihrer Haut, die Sonnenstrahlen kitzelten die unverhüllten Wangen. Ilse zog sich wieder aus, die Bluse, die Hose, sie zog alles aus, ging zum Spiegel und sah: nichts. Sie öffnete das Fenster, ließ Sonne und Wind ihren Körper streicheln, während unter ihr die Menschen ihrem Tagewerk nachgingen. Keiner sah hoch. Keiner sah die Unsichtbare nackt am Fenster stehen. Früher hatte man sie übersehen, jetzt war sie allen Blicken entzogen. Und frei.
„Die Sonne hat schon Kraft“, sagte sie.
Vorsichtig öffnete sie die Wohnungstür, aufgeregt schlug ihr Herz, und legte den Schlüssel unter die Fußmatte. Leise schlich Ilse an der alten Meisenberg vorbei, die den Hausflur im Erdgeschoss fegte, und war froh einem Gespräch entkommen zu sein. Draußen streichelte der Juniwind ihre Haut, wirbelte durch ihr Haar, hinterließ überall Gänsehaut, die sie ignorierte. Die Luft war warm genug, um sich nicht zu erkälten. Wie eine Achtjährige hüpfte sie von Platte zu Platte, ohne dass die alten Gelenke knackten und knarzten. Ilse ging zum Friedhof, sprach zu den Enten, die auf der Wiese beim Teich Mittagsschlaf hielten, ging zum Grab von Karl-Heinz und flüsterte ihm Koseworte zu, flüsterte ihm zu, wie sehr sie ihn liebte.
„Was soll nur werden, Karl-Heinz?“, fragte sie.
Sie wusste, was er sagen würde: „Was werden soll, das wird. Mach dir nicht so viele Sorgen, Ilsebilsekeinerwillse!“
„Ich versuchs!“, sagte sie. „Ich vermisse, dass du mich Ilsebilsekeinerwillse nennst. Morgen komm ich wieder, denn ich trau mich jetzt raus.“
Danach ging sie zum Supermarkt, stahl einen Apfel und aß ihn am Teich bei den Enten. Sie ging zurück, trank Saft aus einer Flasche, aß drei Kekse direkt aus der Packung. Dann ging sie nach Hause, machte sie sich eine Dosensuppe warm und aß sie zufrieden vor dem Fernseher. Sie würde einkaufen müssen, denn ein Körper braucht Nahrung, auch wenn er unsichtbar ist.
Am nächsten Tag zog sie los zum Supermarkt. Sie setzte ihren Lieblingshut auf den Kopf, die Sonnenbrille auf die Nase. Über die Hände streifte sie die dünnen Handschuhe aus Satin. Den blauen Schal zog sie bis zur Nase hoch. Auf dem Weg zum Supermarkt spürte sie die Blicke der Passanten. Nie war sie sichtbarer gewesen als jetzt. So kaufte sie ein. Wieder zu Hause traf sie im Hausflur auf die alte Meisenberg. „Meine Güte, wie sehen Sie denn aus?“, fragte sie. „Sie haben sich ja vermummt wie ein Filmstar oder haben sie gerade eine Bank überfallen? So erkennt sie ja nicht einmal der liebe Gott!“
„Ganz genau, Frau Meisenberg, ich habe mich vor den Paparazzi versteckt, aber ihrem scharfen Blick kann ich natürlich nicht entkommen.“ Sie zwängte sich mit dem Trolley an der Nachbarin vorbei.
In der Wohnung angekommen, atmete sie erleichtert auf und verstaute die Einkäufe. Der Wetterbericht im Radio versprach einen sonnig-warmen Nachmittag und Ilse freute sich darauf, später unentdeckt durch die Stadt zu streifen. Auf dem Weg zu Karl-Heinz kam sie an einer Bank vorbei mit einem Pärchen, das sich leidenschaftlich küsste. Sanft strich sie mit den Fingern über das Haar der beiden, die keine Notiz davon nahmen. Vor dem Café Heinrich hielten die Gäste ihre Gesichter in die Sonne, die Jacken über die Lehnen gehängt. Ilse setzte sich zu einem Mann, der allein am Tisch saß und ein Buch las. Unbemerkt nahm sie einen Schluck von seinem Milchkaffee und stellte die Tasse auf die andere Seite des Tisches. Als seine Hand ins Leere griff und seine Augen schließlich die Tasse überrascht am anderen Ende des Tisches fanden, kicherte sie lautlos.
Ihr Schicksal hatte sich erfüllt und zum ersten Mal im Leben fühlte sich Ilse ganz und gar mit der Welt verbunden, bewegte sich in ihr wie ein Fisch im Wasser. Fast jeden Tag besuchte sie Karl-Heinz und erzählte von ihren Abenteuern. Davon, wie sie sich ins Kino geschlichen hatte, ins Theater, selbst in der Sauna war sie gewesen. Manchmal war sie so voller Übermut, dass sie Sachen aus den Regalen im Supermarkt wischte oder eine Tasse vom Tisch draußen im Cafe Heinrich. Einmal schlich sie sich sogar in die Wohnung von Frau Meisenberg, als die gerade die Treppe fegte.
Die Wohnung war überraschend unordentlich. Illse spürte Krümel unter ihren nackten Füßen, während sie durch den kleinen Flur ins Wohnzimmer ging. „Die alte Hexe tut immer so ordentlich und jetzt schau dir das an“, sagte sie leise. Das Wohnzimmer war hell, die Luft abgestanden. Von einem Berg Schmutzwäsche auf dem Sofa ging ein muffiger Geruch aus. Mit dem Finger fuhr Ilse über das staubige Blatt einer Schwiegermutterzunge auf dem Fensterbrett. Die Efeutute daneben war braun und vertrocknet. Mit einem Kreuzworträtselheft fegte sie Krümel vom Couchtisch auf die Hörzu, die auf einem abgewetzten Sessel lag, und kippte die Krümel in den Topf der nur spärlich belaubten Birkenfeige.
Als die Nachbarin zurück in die Wohnung kam, verhielt Ilse sich still. Frau Meisenberg stellte den Besen neben die Küchentür, kochte sich Kaffee und sagte: „Man kann fegen, bis einem der Arm abfällt, das Treppenhaus sieht doch immer aus wie ein Ackerweg.“ Kurz fragte sich Ilse, ob sie mit ihr sprach. Nach einer Pause fuhr die Nachbarin jedoch fort: „Ich weiß, ich weiß. Die Gören aus dem dritten laufen immer mit ihren Matschbotten durchs Treppenhaus.“ Dann kicherte sie. „Hihi, ja, das wäre lustig. Stell dir das mal vor!“
Ilse stand im kleinen Flur, beobachtete die Nachbarin, belauschte ihr Selbstgespräch und blieb unentdeckt, obwohl das Leben in seiner ganzen, lauten Intensität ihren Körper flutete. Nachdem Ilse die deprimierende Wohnung der Meisenberg verlassen hatte, war sie froh und hatte nicht vor zurückzukommen. Es stank nicht nur nach alter Wäsche und abgestandener Luft, sondern auch nach Einsamkeit und davon wollte Ilse wollte nichts sehen, hören oder riechen. Sie wollte ein Teil der Welt sein, das Leben in ihrem unsichtbaren Körper spüren und den Sommer genießen.
Nach dem Sommer kam der Herbst und mit ihm die Kälte. Ilse verließ die Wohnung nur noch, um einkaufen zu gehen oder Karl-Heinz zu besuchen. Geschichten hatte sie keine mehr zu erzählen und so war alles, was blieb: „Ich bin so einsam ohne dich!“
Sie sehnte sich nach der Wärme des Sommers zurück, danach, unsichtbar zu sein. Immer öfter schlich sie sich in die Wohnung der alten Meisenberg, deren Ablenkungen von der Einsamkeit darin bestanden, den Flur zu fegen und mit den Nachbarn zu schimpfen. Manchmal stand Ilse mit ihr auch vor dem Fenster und beobachtete die Vögel, die sich im Vogelhaus auf der Balkonbrüstung Futter holten. Sonntags rief der Sohn aus Frankfurt an, meistens hatte er nicht viel Zeit. Wenn Ilse mit der Nachbarin fern sah, schob sie den Berg Wäsche beiseite, der immer auf dem Sofa lag, manchmal alt und muffig roch, manchmal frisch gewaschen, und setzte sich. Und wenn Inge Meisenberg vor dem Fernseher einschlief, machte Ilse ein bisschen Ordnung. Sie spülte etwas Geschirr, befreite den Couchtisch von Krümeln oder goss die Pflanzen. Und manchmal, wenn Frau Meisenberg einkaufen ging und Ilse noch in der Wohnung war, öffnete sie ein Fenster und ließ frische Luft herein. Sie nahm eines der Fotos von der Wand und versuchte die alte Frau Meisenberg in der lachenden Mutter zu erkennen, die auf dem Foto zu sehen war. Was war passiert? Wann hatte dieses Wohnzimmer aufgegeben, ein gemütliches Zuhause zu sein?
Anfang Dezember saß Ilse auf dem Sofa, neben einem Berg frischer Wäsche. Sie sah mit Inge Meisenberg eine Quizshow und versuchte die Kälte, die ihre Schultern zittern ließ, zu ignorieren. Die Nachbarin stand auf, ging ins Schlafzimmer und kam mit einer Wolldecke zurück, die sie aufs Sofa warf. „Hier!“ sagte sie. „Ich weiß, dass Sie da sind.“