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Illegal
Sie ließen die gläsernen Fassaden der Innenstadt hinter sich, als sie von der vorzüglich ausgebauten Ringstraße abbogen. Seine Stimmung verschlechterte sich mit jedem weiteren gefahrenem Meter.
Irgendwo über ihrem Fahrzeug, noch über der Kuppel, die sie im Begriff waren zu verlassen, donnerten Bomberverbände, riesige, schwarze Ungetüme am roten Himmel. Die aufgeräumten, vorbildlich pulsierenden Bezirke ließen sie bald hinter sich.
Die Häuser wurden nicht nur niedriger, sondern auch älter, verkommener, abscheulicher. Man merkte die Schlaglöcher nicht. Dafür war der Wagen zu modern. Man sah allerdings, und das genügte vollkommen, dass man sich den Außenbezirken näherte, und er fragte sich, warum die Regierung noch nicht wahrhaft entschlossen gegen diese widerlichen Schandflecke vorgegangen war.
Die Menschen, die sie passierten, schienen beim Bemerken des futuristischen Automobils unwillkürlich zusammenzufahren, sie schauten auffällig schnell irgendwo anders hin, doch die Angst, die sich in ihren hastigen, fahrigen Blicken offenbarte, war ihm schon lange kein Geheimnis mehr.
In der Nähe schien es zu brennen. Von überall rannten abgerissen wirkende Gestalten mit Wassereimern aus ihren heruntergekommenen Wohnungen. Sie verloren sicherlich die Hälfte des kostbaren Nass alleine auf dem Weg zum Brandort.
Man hätte ihnen längst die Leitungen abdrehen müssen, dachte er grimmig.
Nach einigen weiteren, wenig erbaulichen Minuten Fahrt hielt der Wagen in einer Seitenstraße. Einzig der herumliegende Unrat schien die Löcher in der Asphaltdecke auffüllen zu können.
Er atmete noch einmal tief durch und stieg aus, sorgfältig darauf bedacht, nicht in eine der schillernden Pfützen zu treten. Alles stank. Es war penetrant, ekelerregend und überwältigend.
Er versuchte, an etwas anderes zu denken. Eine streunende Katze kreuzte seinen Weg, als er geradewegs auf einen moderigen Hauseingang zusteuerte. Hinter sich wusste er seine Begleiter, wortlos, professionell. Das beruhigte ihn.
Ein lauer Wind trieb ihm Brandgeruch in die Nase. Das Feuer musste ziemlich groß sein. Er roch brennendes Gummi, Holz und Fleisch heraus. Er hatte eine sehr feine Nase, und auch dies trug wesentlich dazu bei, dass er Orte wie diesen verabscheute.
Eine alte Frau erschien im Hauseingang wie eine Ratte, sofort bemerkte sie die drei Männer. Ihre Augen wurden groß, zu groß beinahe für das eingefallene Gesicht.
„Jesssusss“, stieß die zahnlose Alte aus und verschwand wieder im Dunkel ihres Wohnlochs.
Hinter sich hörte er einen der Agenten grunzen. Er schüttelte den Kopf. Man müsste dieses Rattennest ausräuchern, ein für allemal. Er verstand die Regierung, für die er arbeitete, einfach nicht.
Beim Betreten des Häuserblocks wäre er im Halbdunkel des Flures, fast ohnmächtig vom beißenden Gestank, beinahe in einen Haufen Kot getreten. Jemand hatte ins Treppenhaus geschissen, wohl da die alte, moderige Tür sich nur noch mit letzter Kraft in den Angeln hielt und das Schloss derartig rostig war, dass sie nicht mehr geschlossen werden konnte.
Die Treppe knarzte bedrohlich unter ihren Schritten. Ein Agent machte einen falschen Tritt und brach bis zu den Knöcheln ein. Leise fluchend folgte er ihnen in den zweiten Stock.
Er wusste, welche Tür es war; sie hatten sich eingeschlossen, aber es war ein Kinderspiel.
Er tat einen Schritt zurück, und seine Begleiter erledigten ihren Part, wortlos, professionell.
Einer von ihnen, der Fluchende, trat die Tür ein. Sie war alt, trocken und aus dünnem, minderwertigem Holz, so dass sie mit lautem Knall auseinanderstob wie Herbstlaub.
Mit hundertfach geübter Präzision und Geschwindigkeit stürmten die beiden Agenten in die Wohnung, verschwanden im Dunkel. Mit einem Mal, indem er ihnen nachsah, fröstelte ihm kurz.
Schreie von drinnen, hilflos, hysterisch. Die knappen, herrischen Befehle der zwei Männer. Und, er hatte es kommen sehen: das schrille Heulen eines Kleinkindes.
Schauer jagten ihm über den Rücken; er hasste dieses Geräusch mehr als alles andere, noch mehr sogar als diese Viertel. Er zwang sich durch die zerborstene Tür ins Innere, längst hatten sich seine Augen an das Halbdunkel gewöhnt, schritt unerbittlich durch den Flur, dessen Tapeten vor langer Zeit heruntergerissen worden waren.
Er betrat, nicht ohne Kopfschütteln, das karge Wohnzimmer. Schimmel hing an der Decke. Die Möbel waren in recht gutem Zustand; in der hinteren Ecke des Raumes saß eine Frau auf der abgewetzten Couch, in ihren Händen das abscheuliche, schreiende Bündel Mensch.
Namenlose Angst stand in ihrem Gesicht. Er schätze ihr Alter auf Mitte zwanzig, und stellte fest, dass ihr Grauen keineswegs namenlos; nein, dass sie ihre Angst waren.
„Demografisches Amt, Abteilung Geburtenkontrolle,“ sagte er automatisch. Er spulte den immergleichen Text ab. „Mein Name ist Gratum, zuständig für diesen Bezirk. Ist das Ihr Kind?“
Fast konnte man meinen, dass er lächelte, trotz des infernalischen Kindgebrülls.
Die Mutter schwieg. Er seufzte, nickte dem Mann zu seiner Linken zu. Er trat vor, griff nach dem Bündel. Die Mutter, nun ebenfalls schreiend, schlug verzweifelt mit der freien Hand nach ihm, schwach und sinnlos, schreiend wie ihr Baby. Der Agent wusste, was zu tun war.
Er schlug ihr ansatzlos und kräftig ins Gesicht und packte das Bündel schnell und erbarmungslos, riss es von ihr weg.
„Schätzungsweise drei Monate,“ sagte er Gratum. Er hielt es wie ein Stück Müll.
„Betäuben,“ befahl er tonlos. Dieses Geplärre verursachte Übelkeit in ihm.
Als es endlich still geworden, kam die Mutter, nun in Handschellen und mit einem gewissen Narkotikum versehen, wieder zu sich.
„Wie lautet Ihr Name?“
„Wo ist der Vater?“
„Gibt es noch mehr Kinder, von denen Sie wissen?“
Gratums Fragen wurden nun anstandslos und wahrheitsgemäß beantwortet, ihr Gesicht war ausdruckslos, ihre Augen glasig. Er hatte Grund zur Zufriedenheit, denn das Schlimmste schien für ihn überstanden. Er schickte einen Agenten los, das Haus zu untersuchen.
„Folgen sie uns nach unten,“ befahl er der jungen Frau knapp, und der andere Agent schliff sie an den Handschellen hinter sich her. Aus der Küche drang das Klirren von zerplatzendem Geschirr.
Beide Ordnungshüter grinsten.
„Es ist schon widerlich, wie viele Fälle von illegaler Reproduktion wir alleine in diesem Bezirk haben,“ meinte Gratum im Plauderton, als sie die Straße überquerten und sein Begleiter die Frau in den Wagen stieß. „Wie die Ratten, denke ich immer, wie die Ratten... sie wollen einfach nicht begreifen, dass ihre Tage gezählt sind. Ich möchte wetten, dass auch dieses Exemplar,“ der Agent verstaute gerade das Bündel im eigens dafür eingerichteten Kofferraum, „irgendeinen genetischen Defekt aufweist. Die Regierung sollte endlich angemessen reagieren. Der Bezirk sollte schon vor einem Jahr sterilisiert werden. Bedauerlich, so etwas.“
Er schüttelte den Kopf. Sie mussten sich langsam beeilen, es war Regen gemeldet. Erst jetzt, wo er daran dachte, fiel ihm auf, wie sehr er schon die Hauswände ringsherum zerfressen hatte. Hier war der Himmel schließlich frei.
Er wollte schnell wieder zurück in die City, unter die Kuppel, in die Geborgenheit des Fortschritts und der Zivilisation, und so schien es ewig zu dauern, bis endlich Flammen aus den Fenstern im zweiten Stock schlugen.
Es dauerte nicht mehr lang, bis der zweite Agent aus dem Häuserblock kam und sich ans Steuer setzte. Die Frau schluchzte leise, als sie anfuhren, aber Gratum verzichtete auf eine weitere Injektion. Die Anwohner hatten das Feuer bemerkt; sie waren kaum fünfzig Meter gefahren, als ihnen plötzlich ein Mann mit einem Wassereimer in der Hand vor den Wagen lief, mit einem dumpfen Aufprall nach hinten geschleudert wurde und regungslos liegen blieb.
Der Eimer flog noch in hohem Bogen, landete vor ihnen und knirschte leise, als auch er überfahren wurde. Schmutziges Wasser war gegen die Windschutzscheibe gespritzt.
Gratum schüttelte den Kopf. Er hatte gesehen, wie löchrig der Eimer gewesen war. Man hätte ihnen längst die Leitungen abdrehen müssen.
Die Fahrt ging weiter, die Agenten lachten über den Vorfall und schimpften andererseits über Beulen im Lack. Über ihren Köpfen kreiste ein Helikopter. Irgendwo brannte es.