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I'll never smile again

Seniors
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02.01.2002
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I'll never smile again

Ich legte das Buch beiseite. Es gelang mir nicht, mich auf die Handlung zu konzentrieren.

"Darf ich mir hierhin setzen?", hörte ich eine Stimme neben mir.

Ich zuckte zusammen und starrte die ältere Frau mit weitaufgerissenen Augen an.

"Natürlich", murmelte ich und räumte meine Tasche weg. Bleib ruhig!, schimpfte ich innerlich.

Meine beste Freundin kam mir in den Sinn. Für sie wäre das hier wahrscheinlich ein Kinderspiel. Ich sah sie vor mir, während mein Blick nach draußen schweifte, wo die Landschaft vorbeizog. Ihre Haare glänzten seidig. Der gleiche Schimmer lag auf ihren Lippen. Der Schaffner rief "Birkenweg" durch das Mikrofon, der Zug hielt, die Türen öffneten sich und er trat ein. Er sah sich kurz um und setzt sich zu ihr ins Abteil. Er lächelte schüchtern. Sie lächelte zurück. Nach einer Minute trafen sich ihre Blicke erneut und er begann ein Gespräch.

Mein Herz klopfte schneller. Ich schloss die Augen. Plötzlich saß nicht mehr meine Freundin mit ihm im Abteil, sondern ich. Nur, dass ich so aussah wie sie. Selbstbewusst und zuversichtlich. Einnehmend. Gewinnend. Ich hörte mich fragen, ob er Lust habe, sich mal mit mir zu verabreden.

Meine Wangen erhitzten sich. Wie würde er reagieren? In meinen Gedanken überzog ein sonniges Strahlen sein gutaussehendes Gesicht, breitete sich aus und er sagte leise zu mir, dass er sich freuen würde ...

"Nächster Halt: Uhlensteinweg."

Ich schrak erneut zusammen. Mein Buch rutschte von meinem Schoß und landete polternd auf dem Boden. Die Schamesröte schoss mir ins Gesicht, während ich mich bückte um es aufzuheben. Ich atmete tief ein. Wie sollte ich ihn ansprechen? Sonst begann er immer ein kleines Gespräch; was, wenn er dieses Mal nicht den Anfang übernehmen würde? In meiner Kehle schien sich ein Kloß festzusetzen; ich schluckte, aber das beklemmende Gefühl ging nicht weg. Hoffentlich würde meine Stimme nicht piepsig klingen, so wie manchmal in der Schule, wenn die Vokabeln abgefragt wurden. Ich räusperte mich mehrmals.

"Kindchen, bist du krank?", fragte mich die ältere Frau. Ich schüttelte den Kopf und lehnte dankend das Bonbon ab, das sie mir anbot.

Meine Hände zitterten. Ich verschränkte die Finger ineinander und starrte zum Fenster hinaus. Noch eine Station. Was, wenn er heute gar nicht da wäre? Ich überlegte - war er schon einmal nicht eingestiegen? Ja, zwei- oder dreimal hatte ich ihn nicht gesehen. Wahrscheinlich war er da krank gewesen. Ob er heute krank war? Ausgerechnet heute? Nein, er würde ganz sicher einsteigen. Der Zug fuhr bereits langsamer. Gleich würde der Schaffner die Station ankündigen. Am liebsten hätte ich mich in ein anderes Abteil verzogen.

"Nächster Halt: Birkenweg", ertönte die dunkle Stimme und ich seufzte. Schnell schlug ich mir die Hand vor den Mund, aber niemand hatte auf mich geachtet. Die Frau neben mir packte ihre Sachen zusammen. Der Platz wäre gleich frei für ihn. Bei dieser Vorstellung wurde mir abwechselnd heiß und kalt. Bisher hatte er mir immer nur gegenüber gesessen, aber vielleicht würde diesmal alles anders sein. Er würde neben mir sitzen, noch dichter bei mir, ich würde ihn ansprechen ... Ich biss mir auf die Lippen.

Der Zug ruckelte und bog in die letzte Kurve ein. Meine eiskalten Hände krampften sich um das Buch.

Die Schienen quietschten, der Zug hielt. Die Türen öffneten sich. Die Frau erhob sich und verließ das Abteil. Ich wusste nicht, wohin ich sehen sollte. Ich konnte ihm doch schlecht entgegenstarren, wenn er eintrat! Hilflos schlug ich mein Buch an irgendeiner Stelle auf und starrte auf die schwarzen Buchstaben, ohne auch nur ein einziges Wort erkennen zu können. In meinen Ohren rauschte es, jedes Geräusch war unerträglich laut. Aus der Ferne konnte ich vernehmen, wie die Türen sich wieder schlossen und der Zug sich langsam in Bewegung setzte. War er eingestiegen? Ich wagte es nicht den Kopf zu heben.

Da! Schritte!

Entschlossen hob ich den Kopf und setzte ein Lächeln auf. Selbstbewusst und zuversichtlich. Einnehmend. Gewinnend. Er sah mich nicht. Er sah nur sie. Seine Hand hielt noch die Tür auf, damit sie sich hindurchzwängen konnte.

"Danke", raunte sie ihm zu und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Dabei schenkte sie ihm das Lächeln aus meinen Gedanken.

 

Jo, englischer Titel, ich weiß. Inspiriert durch den gleichnamigen Song.
Es handelt sich hier um eine gestraffte und überarbeitete Version einer alten Geschichte von mir.

 

Hallo Ginny,

kleine, bittere Geschichte wiedermal.
Meiner Ansicht nach genau getroffen, nur fand ich den Schluss ein bisschen kurz. Du beschreibst die Gefühle der Protagonistin vorher recht detailliert, daher hätte ich es gut gefunden, wenn das Ende ein bisschen ausführlicher gewesen wäre. Wenn sie vorher schon so zum Zerreißen angespannt ist, wie groß muss der Schock in dem Moment sein, als sie den Mann mit der anderen sieht.
Ich nehme an, dass Du andeuten wolltest, dass die beiden zusammen sind (wegen des dramatischen Titels). Daher würde ich mehr Vertraulichkeit zwischen den beiden schildern (nur die Hand auf der Schulter - es könnte auch seine Schwester, Cousine, Kollegin sein. Gut, Du schreibst, sie schenke ihm das Lächeln aus den Gedanken der Protagonistin, aber das finde ich ein bisschen zu wenig). Und wenn die Protagonistin jeden Tag mit ihm in der Bahn fährt und sich mit ihm unterhält, dann müsste sie doch ganz furchtbar enttäuscht, schockiert usw. sein, dass er entweder schon lange "vergeben" ist oder die Protagonistin einen Hauch zu spät kommt.

 
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Sei gegrüßt, Ginny-Rose.

Vom Titel her lag es nahe, daß ich diese Geschichte lesen mußte. Eine anrührende Geschichte hast du da geschrieben.

Ich finde nicht, daß der Schluß zu kurz gekommen ist. Wäre er länger, wäre er aus dem Erzählfluß herausgefallen. Die beiden müssen auch nicht zusammen sein, um die Protagonistin zu enttäuschen. Es geht hier, glaube ich, zunächst mal nur darum, das sie diese Chance verpaßt hat, ihm "ihr" Lächeln zu schenken. Wenn man weiß, wieviel Kraft es kostet, sich zu überwinden, jemanden, den man vielleicht wirklich mögen könnte, anzusprechen, kann man sich sehr gut vorstellen, wie es der Protagonistin gehen muß.

Sehr flüssig zu lesen. Stilistisch einwandfrei. Den Augenblick schön erfaßt. Was will man mehr (außer mehr solcher Geschichten :p)?

Grüße
ElTriste

 

Hi Ginny-Rose,

ich finde nicht, dass der Schluß nicht ausführlich genug war. Natürlich könnte man noch mehr Gefühle des Prot dazu schreiben, wenn sie in dem Moment dazu überhaupt fähig gewesen ist. Doch ich glaube, dass nach diesem letzten Schockgedanken, vorerst kein weiterer mehr folgen konnte.
Ich nehme auch an, dass es nicht deine Absicht war, weiter als bis zu diesem Punkt zu gehen.
Und alles was danach in ihr vorgeht, oder passiert, könnte Stoff für eine andere KG sein, oder?

Sie hat mir sehr gut gefallen, deine kurze stimmungsvolle Geschichte.

glg, coleratio

 

Hallo Ginny,

habe einige deiner Werke gelesen und festgestellt, daß Schüchternheit darin ein häufiges Element darstellt, so auch hier: Wünsche, Hoffnungen, Sehnsüchte spielen sich nur im Kopf der Hauptfigur ab. An sich ist Schüchernheit nichts Schlimmes, ja, bis zu einem gewissen Punkt kann sie >verführerisch< wirken. Aber wie soll der begehrte Partner Notiz von ihr nehmen, wenn überhaupt kein erkennbares Signal von ihr ausgeht? Kein Wunder also, daß die Ärmste es verpaßt, an der richtigen Haltestelle in >ihren Zug< einzusteigen.

Von der Ausführung finde ich die längere Version etwas besser als diese hier, weil du mit kleinen Details die Lesespannung erhöhst. Die ständig abschweifenden Gedanken sowie die stillen Monologe wirken wie eine Zeitlupe, in der das Interesse am Weiterlesen gesteigert wird. Das traurige Finale kann meines Erachtens in seiner Kürze so bleiben; der Leser kann sich in seiner Phantasie den Zusammenbruch ihrer Welt selber ausmalen. Toll gemacht!

Schöne Grüße,
Emil

 

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