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Ihre Welt, die Farben

jbk

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17.06.2003
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Ihre Welt, die Farben

Sie erweckt das Rot zum Leben. Dieses Eine, ganz besondere, sehr spezielle. Gerade eben, in diesem Moment. Es ist ihr Lieblingsrot. Sie sagte mal, es strahle von innen. Ich schaue ihr zu, während sie mich nicht bemerkt. Seelenruhig rührt sie den Pinsel in der Plastikschale. Selbst ein „Hallo“ würde sie nicht sonderlich davon abhalten. Es bedeutet ihr sehr viel, dieses Rot. Und das Malen sowieso.
Von Worten wie „naturalistisch“ oder „abstrakt“ hat sie keine Vorstellung. In ihrem Kopf sind Farben die ihr bewusste Welt. Sie sprach immer schon gerne über das Rot des Morgens, zeigte gen Himmel, wenn die Sonne am Horizont beginnt, sich ins Blau zu mischen. Auch die Blumen rund um die „Villa Kunterbunt“, wo sie lebt, bringen sie zum Strahlen. Dann blitzt dieses Funkeln in ihren Augen, und über die Wangen breitet sich ein sentimentales Lächeln. Für Momente jedenfalls. Besondere, die ich festzuhalten versuche. In meiner Erinnerung. Sie sind wie Blumen, die ich sammle: zart und flüchtig; Momentaufnahmen, die drohen zu verwelken, noch bevor sie wahrgenommen wurden. Augenblicke, unscheinbar wie ein Lidschlag; doch so unglaublich wichtig.
Sie schaut nicht auf, als die Tür vom Windzug ins Schloss fällt. Wahrscheinlich ist sie gerade wieder in einem Feld voller wogender Rosen unterwegs. Und da gibt es keine Türen, die zufallen. Dieses Geräusch ist dort fremd. Manchmal denke ich, die Welt, in der sie lebt, ist ein ferner Ort. Weit weg von den Sorgen dieser Welt. Weit weg von dem, was Alltag heißt. Von dem weiß sie nichts. Sie weiß immer nur das, was sie macht. Sie kennt dieses wunderbare Rot, denke ich, als sie beginnt zu malen. Langsam, ganz behutsam fängt sie an, wie von Geisterhand geführt, den Pinsel zu bewegen. Schaut man ihr zu, kann man in ihrer Langsamkeit entspannen, als treibe man auf einer Luftmatratze im Rhythmus der Wellen. Roten Wellen. Gefühlvolle, wogende Bewegungen. Das ist ihr Rhythmus, das ist die Melodie ihrer Welt. Manchmal frage ich mich, wie es wohl sein muss, nur mit sich zu leben, sich gänzlich auf sich zu besinnen? Und dann sehe ich wieder in ihr Gesicht, sehe die Mundwinkel, kaum merkbar, nach oben steigen. Nur für einen Moment, einen Augenblick, den Bruchteil einer Sekunde. Wieder eine dieser Blumen. Wieder brachte sie etwas in mir zum Blühen. Sie lebt in einem Meer aus Blumen. Eine schöne Vorstellung, die Trost spendet.
Sie sieht glücklich aus, in diesem Moment. Eine neue, wohlbekannte Farbe wird gerade von ihr gemischt. Wieder mit dieser Seelenruhe, mit dieser Gewissheit, mischt sie und malt. Nur ihre Hand bewegt sich, ihr übriger Körper scheint wie entrückt. Nur die kreisende Bewegung ihrer rechten Hand ist von Bedeutung, macht dieses zarte Blau, das leicht ins silbrig- schimmernde geht, so wie das Gegenteil eines Schattens. Schatten mag sie nicht. Sie passen auch nicht zu ihr, obwohl sich unter ihren Augen hie und da dunkle Nuancen abzeichnen. Das Alter, denke ich. Etwas, wovon sie nichts weiß.
Auf dem Blatt vor ihr gehen die Farben ineinander über. Ergänzen einander. Gehen Nachbarschaft ein. Zerfließen. Aquarell eben. Rot, dieses eine Rot; und das Blau, diese andere Lieblingsfarbe. Rote und blaue Welt. Kaum vorstellbar, dass dies ihre einzige Welt sein soll. Doch warum nicht? Ich schaue ihr weiter zu, während sie nur Augen für ihr Blatt hat. Sie malt nun seit einer Stunde. Eine Stunde, die sich in roten und blauen Tönen widerspiegelt. Ich besinne mich dieser Einfachheit. Wann war für mich eine Stunde bloß die Sprache zweier Farben?
Eine Weile warte ich noch und folge den Bewegungen ihres Pinsels.
In solchen Momenten komme ich ins Träumen und vergesse die Welt um mich herum. Dann komme ich ihr nah. Dann zählen nicht mehr die Gedanken an Heimkosten. Oder ob es ihr gut geht, da, wo sie jetzt wohnt. In ihrer Welt aus Rot und Blau. Dann und wann, in den Bewegungen und ihren Farben versunken, tauchen Erinnerungen auf an längst vergangene Tage. Und ich sehe mich malend im Garten sitzen und höre aus der Ferne meinen Namen.
So muss Mutter mich dasitzen gesehen haben, vertieft in die Magie der Farben, dem Zauber einer Wunderblume erlegen. Und mir einfach nur zugeschaut haben. Wie sich die Zeiten ändern, wie sich die Taten gleichen.
Eine Stimme aus der Ferne sagt meinen Namen.
„Herr Kersting?“
Ich merke, wie ich aus der Erinnerung zurückwandere in die Gegenwart. „Ja?“
„Ihre Mutter hat gleich Bewegungstherapie.“
Dabei hat sie gerade noch die schönsten aller Bewegungen vor meinen Augen vollzogen.
Der Pfleger legt ihr behutsam die Hand auf den Rücken.
„Frau Kersting?“
Langsam, sehr langsam kehrt ihr Körper in die Welt der Lebenden zurück.
Ihr Blick allerdings schimmert noch verklärt vom Gefühl der Farben.
Der Pfleger nimmt das Bild vom Tisch. Es ist mittlerweile trocken.
Auch meine Mutter scheint versunken gewesen.
Er geht zur Wand und hängt es an eine freie Stelle. Nun hat auch dieses Bild einen Platz gefunden: an der Wand, zwischen Bildern aus rot und blau.

 

Hallo jbk!

Wow, eine wunderbar gefühlvolle Geschichte ist Dir da gelungen, die nach und nach preisgibt, worum es in ihr eigentlich geht.
Für mich zugleich eine Liebeserklärung an die Malerei wie an das Alter, wunderbar leicht und melancholisch, man träumt sich in dieser blau-roten Welt weg, während man liest.

Zwei kleine Flüctigkeitsfehler hab ich gefunden:

Das ist ihr Rhythmus, das die Melodie ihrer Welt.
Meiner Menung nach fehlt im zweiten Satzteil ein "ist".

Hm, den zweiten finde ich grad nicht...

Liebe Grüße

chaosqueen

 

Hi jbk

Auch mir hat diese Momentaufnahme gefallen, gefühlvoll auf jeden Fall und die Auflösung am Schluss wirkt auch ganz natürlich.

Das ist jetzt meine ganz persönliche Meinung, aber ich finde die Beschreibungen manchmal "zu gefühlvoll", sprich kitschig, romantisch, überladen wie auch immer...
Das sind einerseits so veraltete Formulierungen, die aus dem Rahmen fallen wie:
"zeigte gen Himmel" oder " Auch die Blumen rund um die „Villa Kunterbunt“, wo sie lebt, vermögen sie zum Strahlen zu bringen"
Beim zweiten Satz könntest du doch auch einfach "bringen sie zum Strahlen" schreiben, würde mMn besser in den ansonsten sehr schönen Stil passen.

"Manchmal denke ich, die Welt, in der sie lebt, ist entfremdet."
Hier kann ich mit dem "entfremdet" nicht soviel anfangen, hat bei mir negative Konnotationen, Marx und die Entfremdung der Arbeit usw ;)

Besonders stark finde ich die Stellen, wo du mit kurzen Sätzen arbeitest. Lieblingspassage:
"Auf dem Blatt vor ihr gehen die Farben ineinander über. Ergänzen einander. Gehen Nachbarschaft ein. Zerfließen. Aquarell eben. Rot, dieses eine Rot; und das Blau, diese andere Lieblingsfarbe. Rote und blaue Welt."

Liebe Grüße
wolkenkind

 

Hallo ihr beiden,

danke für eure Meinungen.
Habe sie mir zu Herzen genommen und teilweise umgesetzt. Das "schaute gen Himmel" möchte ich aber so lassen, denn es liegt ja schon lange zurück, dass sie dies tat. Deshalb passt es, glaube ich, ganz gut.

Sehr bewegt war ich bei dem Satz von Chaosqueen:

Für mich zugleich eine Liebeserklärung an die Malerei wie an das Alter, wunderbar leicht und melancholisch, man träumt sich in dieser blau-roten Welt weg, während man liest.
Ein Kompliment, schön und passend, das ich gerne annehme. Wegträumen...wow! :)

 

Hallo jbk!
Ich mag deine Geschichte. Hat mir sehr gut gefallen. Sehr ruhig, melancholisch, verträumt... Die zeit steht still.. weltentrückt...
Schöne Geschichte.

Ich weiß gar nicht viel zu sagen, außer, dass ich noch ein paar Bemerkungen habe :D ;)

Sie sprach immer schon gerne über das Rot des Morgens, zeigte gen Himmel, wenn die Sonne am Horizont beginnt, sich ins Blau zu mischen.

Für Momente jedenfalls. Besondere Momente, die ich festzuhalten versuche. In meiner Erinnerung. Sie sind wie Blumen, die ich sammle: zart und flüchtig; Momentaufnahmen, die drohen zu verwelken, noch bevor sie wahrgenommen wurden.
Hm, vielleicht könntest du ein „Moment“ streichen? Dreimal so kurz hintereinander ist es mMn nicht so schön.

Schaut man ihr zu, kann man in ihrer Langsamkeit entspannen, wie als treibe man auf einer Luftmatratze im Rhythmus der Wellen.
Das „wie“ liest sich mMn nicht so schön. Kannst du es nicht einfach weglassen?

Auf dem Blatt vor ihr gehen die Farben ineinander über. Ergänzen einander. Gehen Nachbarschaft ein. Zerfließen. Aquarell eben. Rot, dieses eine Rot; und das Blau, diese andere Lieblingsfarbe. Rote und blaue Welt. Kaum vorstellbar, dass dies ihre einzige Welt sein soll. Doch warum nicht?
Diese Stelle hat auch mir sehr gut gefallen :)

In solchen Momenten komme ich ins Träumen und vergesse die Welt um mich herum. Dann komme ich ihr nah.
Hm, zweimal „komme“.. Absicht? Ich würde dir empfehlen ein „kommen“ durch ein anderes Wort zu ersetzen.

Da muss Mutter mich dasitzen gesehen haben, vertieft in die Magie der Farben, dem Zauber einer Wunderblume erlegen.
Zweimal „da“ Vielleicht findest du noch eine andere Möglichkeit.

Nun hat auch dieses Bild einen Platz gefunden: an der Wand, zwischen Bildern aus rot und blau.
Das Ende hat mir auch sehr gut gefallen :)

Das wars dann auch von mir

bye und tschö

 

Hi moonshadow,

danke für deine Hinweise. Habe sie in die Tat umgesetzt- die meisten jedenfalls ;)

Schön, dass auch du ins Träumen kamst :)

LG
Jan

 

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