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Ihre Welt, die Farben
Sie erweckt das Rot zum Leben. Dieses Eine, ganz besondere, sehr spezielle. Gerade eben, in diesem Moment. Es ist ihr Lieblingsrot. Sie sagte mal, es strahle von innen. Ich schaue ihr zu, während sie mich nicht bemerkt. Seelenruhig rührt sie den Pinsel in der Plastikschale. Selbst ein „Hallo“ würde sie nicht sonderlich davon abhalten. Es bedeutet ihr sehr viel, dieses Rot. Und das Malen sowieso.
Von Worten wie „naturalistisch“ oder „abstrakt“ hat sie keine Vorstellung. In ihrem Kopf sind Farben die ihr bewusste Welt. Sie sprach immer schon gerne über das Rot des Morgens, zeigte gen Himmel, wenn die Sonne am Horizont beginnt, sich ins Blau zu mischen. Auch die Blumen rund um die „Villa Kunterbunt“, wo sie lebt, bringen sie zum Strahlen. Dann blitzt dieses Funkeln in ihren Augen, und über die Wangen breitet sich ein sentimentales Lächeln. Für Momente jedenfalls. Besondere, die ich festzuhalten versuche. In meiner Erinnerung. Sie sind wie Blumen, die ich sammle: zart und flüchtig; Momentaufnahmen, die drohen zu verwelken, noch bevor sie wahrgenommen wurden. Augenblicke, unscheinbar wie ein Lidschlag; doch so unglaublich wichtig.
Sie schaut nicht auf, als die Tür vom Windzug ins Schloss fällt. Wahrscheinlich ist sie gerade wieder in einem Feld voller wogender Rosen unterwegs. Und da gibt es keine Türen, die zufallen. Dieses Geräusch ist dort fremd. Manchmal denke ich, die Welt, in der sie lebt, ist ein ferner Ort. Weit weg von den Sorgen dieser Welt. Weit weg von dem, was Alltag heißt. Von dem weiß sie nichts. Sie weiß immer nur das, was sie macht. Sie kennt dieses wunderbare Rot, denke ich, als sie beginnt zu malen. Langsam, ganz behutsam fängt sie an, wie von Geisterhand geführt, den Pinsel zu bewegen. Schaut man ihr zu, kann man in ihrer Langsamkeit entspannen, als treibe man auf einer Luftmatratze im Rhythmus der Wellen. Roten Wellen. Gefühlvolle, wogende Bewegungen. Das ist ihr Rhythmus, das ist die Melodie ihrer Welt. Manchmal frage ich mich, wie es wohl sein muss, nur mit sich zu leben, sich gänzlich auf sich zu besinnen? Und dann sehe ich wieder in ihr Gesicht, sehe die Mundwinkel, kaum merkbar, nach oben steigen. Nur für einen Moment, einen Augenblick, den Bruchteil einer Sekunde. Wieder eine dieser Blumen. Wieder brachte sie etwas in mir zum Blühen. Sie lebt in einem Meer aus Blumen. Eine schöne Vorstellung, die Trost spendet.
Sie sieht glücklich aus, in diesem Moment. Eine neue, wohlbekannte Farbe wird gerade von ihr gemischt. Wieder mit dieser Seelenruhe, mit dieser Gewissheit, mischt sie und malt. Nur ihre Hand bewegt sich, ihr übriger Körper scheint wie entrückt. Nur die kreisende Bewegung ihrer rechten Hand ist von Bedeutung, macht dieses zarte Blau, das leicht ins silbrig- schimmernde geht, so wie das Gegenteil eines Schattens. Schatten mag sie nicht. Sie passen auch nicht zu ihr, obwohl sich unter ihren Augen hie und da dunkle Nuancen abzeichnen. Das Alter, denke ich. Etwas, wovon sie nichts weiß.
Auf dem Blatt vor ihr gehen die Farben ineinander über. Ergänzen einander. Gehen Nachbarschaft ein. Zerfließen. Aquarell eben. Rot, dieses eine Rot; und das Blau, diese andere Lieblingsfarbe. Rote und blaue Welt. Kaum vorstellbar, dass dies ihre einzige Welt sein soll. Doch warum nicht? Ich schaue ihr weiter zu, während sie nur Augen für ihr Blatt hat. Sie malt nun seit einer Stunde. Eine Stunde, die sich in roten und blauen Tönen widerspiegelt. Ich besinne mich dieser Einfachheit. Wann war für mich eine Stunde bloß die Sprache zweier Farben?
Eine Weile warte ich noch und folge den Bewegungen ihres Pinsels.
In solchen Momenten komme ich ins Träumen und vergesse die Welt um mich herum. Dann komme ich ihr nah. Dann zählen nicht mehr die Gedanken an Heimkosten. Oder ob es ihr gut geht, da, wo sie jetzt wohnt. In ihrer Welt aus Rot und Blau. Dann und wann, in den Bewegungen und ihren Farben versunken, tauchen Erinnerungen auf an längst vergangene Tage. Und ich sehe mich malend im Garten sitzen und höre aus der Ferne meinen Namen.
So muss Mutter mich dasitzen gesehen haben, vertieft in die Magie der Farben, dem Zauber einer Wunderblume erlegen. Und mir einfach nur zugeschaut haben. Wie sich die Zeiten ändern, wie sich die Taten gleichen.
Eine Stimme aus der Ferne sagt meinen Namen.
„Herr Kersting?“
Ich merke, wie ich aus der Erinnerung zurückwandere in die Gegenwart. „Ja?“
„Ihre Mutter hat gleich Bewegungstherapie.“
Dabei hat sie gerade noch die schönsten aller Bewegungen vor meinen Augen vollzogen.
Der Pfleger legt ihr behutsam die Hand auf den Rücken.
„Frau Kersting?“
Langsam, sehr langsam kehrt ihr Körper in die Welt der Lebenden zurück.
Ihr Blick allerdings schimmert noch verklärt vom Gefühl der Farben.
Der Pfleger nimmt das Bild vom Tisch. Es ist mittlerweile trocken.
Auch meine Mutter scheint versunken gewesen.
Er geht zur Wand und hängt es an eine freie Stelle. Nun hat auch dieses Bild einen Platz gefunden: an der Wand, zwischen Bildern aus rot und blau.